Der Stand der Forschung zum Williams-Syndrom

Ein Sammelband zur Sprachentwicklung bei einer speziellen Form geistiger Behinderung

Von Willem WarneckeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Willem Warnecke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Williams- oder Williams-Beuren-Syndrom (WS) wurde zuerst Mitte des 20. Jahrhunderts beschrieben. Auffällige, teilweise schwerwiegende physiologische Beeinträchtigungen - von einer markanten Physiognomie bis hin zu Herz- und Nierenfehlbildungen - gehen dabei einher mit einer mittelschweren bis leichten geistigen Behinderung: Der IQ liegt im Bereich von 40 bis 90, durchschnittlich etwa bei 55. Erst seit kurzem kann das WS mit einem 'genetischen Defekt' auf Chromosom 7 (in Region 7q11.23) in Verbindung gebracht werden - wenngleich die Beziehung insofern (noch) nicht hinreichend geklärt ist, als weder die Analyse der Region zuverlässige Vorhersagen betreffend der (Schwere der) zu erwartenden Symptome ermöglicht, noch aufgrund des Patientenprofils auf die Ausprägung des Defektes geschlossen werden kann.

Sprachwissenschaftler interessieren sich seit einigen Jahren für das WS, da es ihnen als ein Gegenstück zu 'spezifischen Sprachentwicklungsstörungen' (sSES) gilt: Menschen mit WS werden andernorts als 'linguistische idiots savants' bezeichnet, also als Menschen mit eingeschränkten kognitiven, aber (relativ) guten sprachlichen Fähigkeiten. SSES hingegen wird bei solchen Personen diagnostiziert, die bei 'mehr oder weniger normal entwickelter Intelligenz' deutliche Probleme im sprachlichen Bereich aufweisen. Solche Befunde werden oftmals herangezogen, um mit ihnen die These der Modulhaftigkeit der menschlichen Sprache zu belegen: Wenn sprachliche und nichtsprachliche geistige Fähigkeiten unabhängig voneinander defizitär sein können, muss die Sprache folglich als selbstständiges 'mentales Organ' gelten, und die Sprachfähigkeit könnte nicht auf allgemeinere Fähigkeiten zurückgeführt - reduziert - werden.

Diese Debatte ist zwar keinesfalls neu, wird aber in letzter Zeit in immer stärkerem Maße mit Argumenten geführt, die auf bisweilen hochtechnische, sich an naturwissenschaftlichen Methoden orientierende Untersuchungen und Experimente aufbauen. In diesen Diskurs ist auch das von Susanne Bartke und Julia Siegmüller herausgegebene Buch "Williams Syndrome across Languages" einzuordnen. Die Sprachwissenschaftlerinnen, die beide auf dem Gebiet der Erforschung und Behandlung von Sprachstörungen - speziell Spracherwerbsstörungen - arbeiten, präsentieren nicht zuletzt durch die eigenen Beiträge in diesem lesenswerten Band einen breiten Überblick über den derzeitigen internationalen Stand der Forschung und der Erkenntnisse zum WS, bei dem einschlägige Wissenschaftler zu Wort kommen. Breit ist dieser Überblick nicht nur bezüglich der in den einzelnen Beiträgen berücksichtigten Sprachen (insgesamt sieben), sondern auch hinsichtlich der den Untersuchungen zugrunde liegenden Fragestellungen und speziell der dann dazu angebotenen Antworten und Erklärungen. Neben einer detaillierten Schilderung der klinischen Aspekte des Syndroms und seiner Grundlage aus molekulargenetischer Sicht enthält der Band Studien zu Auswirkungen von WS auf phonologische, morphologische und syntaktische Fähigkeiten; teilweise wird WS dafür mit anderen Formen geistiger Behinderung (Down-Syndrom, sSES) kontrastiert.

Dabei hat es geradezu als Charakteristikum moderner Wissenschaft zu gelten, dass die jeweiligen Untersuchungen nicht nur sehr unterschiedliche, nicht immer miteinander vereinbare Datensätze ergeben, sondern dieselben Datensätze zudem auch noch sehr unterschiedlich und einander bisweilen widersprechend interpretiert werden. Dementsprechend herrscht schon hinsichtlich der Charakterisierung des Spracherwerbs bei WS nur zwischen wenigen der Beiträge Einigkeit, viele sind explizit darauf angelegt, bezüglich kritischer Punkte eine eigene Sichtweise zu plausibilisieren: Sind die sprachlichen Fähigkeiten von Menschen mit WS schlechter, gleich gut oder besser als die von vergleichbaren sich 'typisch entwickelnden' Personen? Kommen bei Ersteren dieselben oder andere (Lern-) Mechanismen zum Einsatz als bei Letzteren? Jede dieser Möglichkeiten wird in mindestens einem Artikel vertreten.

Einige der Schwierigkeiten, die zu den Uneinigkeiten führen, liegen dabei klar auf der Hand. Insbesondere bleibt die Frage, inwiefern die 'typische' Entwicklung mit der bei WS vergleichbar ist bzw. anhand welchen Kriteriums zu den jeweiligen Menschen mit WS 'passende' 'typisch entwickelte' ermittelt werden (Erstere mit Letzteren 'gematched' werden): anhand des chronologischen Alters, des mentalen Alters, des nonverbalen mentalen Alters, des verbalen mentalen Alters oder aber der 'mean length of utterance' (MLU), d. h. der durchschnittlichen Länge der Äußerungen der entsprechenden Person. Denn es ist zwar unstrittig, dass die Entwicklung der sprachlichen Fähigkeiten von WS-Kindern in der Regel nicht so weit gediehen ist wie bei chronologisch gleichaltrigen, sich typisch entwickelnden Kindern - nicht zuletzt ist es ein Symptom des Syndroms, dass auch der verbale IQ bestenfalls (bezüglich der Referenzgruppe aus typisch entwickelten Personen) durchschnittlich hoch ist. Doch während beim 'Matching' anhand des nonverbalen mentalen Alters die sprachliche Fähigkeiten explizit unberücksichtigt bleiben, werden sie beim Matching auf Grundlage des mentalen Alters unter anderem, beim Matching anhand des verbalen mentalen Alters oder der MLU ausschließlich berücksichtigt.

Ein anderes Problem bereitet der WS-Forschung der - grundsätzlich erfreuliche - Umstand, dass das Syndrom sehr selten ist, nämlich unter 10.000 Lebendgeburten nur etwa einmal auftritt. Dadurch wird es aber der empirischen Forschung erschwert, geeignete Testpersonen zu finden. Einzelfallstudien sind zwar in ihrer Aussagekraft nicht zu unterschätzen, universelle Schlüsse zum WS können aus ihnen jedoch nicht uneingeschränkt gezogen werden. In diesem Zusammenhang ist es regelrecht fragwürdig, wenn in der Studie von Penke & Krause drei 'Gruppen' von WS-Probanden untersucht wurden, die aus insgesamt fünf Individuen bestanden (in einem Experiment waren es sogar nur vier).

Im Zusammenhang mit der These der Modulhaftigkeit der menschlichen Sprache ist der Beitrag von Mervis et al. gesondert hervorzuheben. Eine Person entwickelt sich definitionsgemäß nur dann 'typisch', wenn bei ihr zwischen verbalem und nonverbalem IQ keine großen Diskrepanzen auftreten, wenn die beiden Werte also in etwa gleich ausfallen. Anders gesagt sind die Intelligenztests genau so geeicht, dass sie denjenigen Personen, die als 'typisch entwickelt' angesehen werden, eine Ausgeglichenheit der verbalen und nonverbalen Fähigkeiten bescheinigen. Bei Menschen mit WS hingegen weichen die beiden Werte signifikant voneinander ab. Aufbauend auf eine groß angelegte Studie mit zwischen 50 und 250 Teilnehmern legen Mervis et al. nun allerdings dar, dass auch beim Vorliegen von WS die nonverbalen Fähigkeiten nicht unabhängig von den verbalen sind, bzw. dass ähnlich wie bei der typischen Entwicklung auch bei WS mit einiger Sicherheit von der einen Größe auf die andere geschlossen werden kann - wenngleich auch bei Letzteren das Verhältnis nicht in etwa 1:1 (wie bei Ersteren) ist.

Dass Personen mit WS nicht dem typischen Profil entsprechen, war von vornherein unstrittig. Doch wenn auch sie ein stabiles Profil aufweisen, in dem Sprache und Kognition bzw. verbale und nonverbale Fähigkeiten nicht vollständig voneinander unabhängig sind - was Mervis et al. ausdrücklich bekräftigen -, sondern auch bei ihnen beide Größen miteinander korrelieren, dann könnte anhand von WS sogar gegen die Modularitätsthese argumentiert werden.

Titelbild

Susanne Bartke / Julia Siegmüller (Hg.): Williams Syndrome across Languages.
John Benjamins Publishing Company, Amsterdam 2004.
385 Seiten, 99,99 EUR.
ISBN-10: 9027252955

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