Stimmen 1945
Neue Hörspielproduktionen zum Jahrestag des Kriegsendes 1945
Von Hans von Seggern
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseZum 60. Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai 1945 ist eine Reihe von Hörbüchern erschienen. Unter diesen einschlägigen Publikationen bietet "Geschichte zum Hören: 1945" - herausgegeben vom DeutschlandRadio Berlin - das vermutlich umfassendste Panorama der Lage Europas am Kriegsende, in Form gesammelter Funkreportagen zum Thema. Aus der propagandistisch beschworenen "Volksgemeinschaft" ist mittlerweile ein "Kellervolk" geworden. Ein Volk der Neurosen und Ticks. So schreibt eine Berlinerin, wie jede "Kellervolksgemeinschaft" auf ihre Weise meint, dass ihre "Höhle eine der sichersten ist. In jedem Luftschutz-Keller gibt es ein anderes Tabu, einen anderen Tick. In meinem alten Keller hatten sie den Löschwasser-Tick. Überall stößt man gegen Eimer, Töpfe, Kannen, Fässer, in denen eine trübe Brühe stand. Frau W. hat mir erzählt, dass in ihrem Keller der Lungen-Tick grassiert. Sobald die erste Bombe fällt, beugen sich alle vornüber und atmen ganz flach. Wobei sie die Hände gegen den Leib pressen. Jemand hat ihnen erzählt, das verhindere Lungenrisse. Hier haben sie den Mauer-Tick. Alle sitzen sie mit dem Rücken gegen die Außenmauer, nur an der Luftklappe ist eine Lücke in der Reihe. Bumst es, kommt der Tücher-Tick hinzu. Alle winden sich ein bereitgehaltenes Tuch um Kopf und Nase und knoten es um den Hinterkopf zu."
Im O-Ton der Propagandamaschinerie erfährt der Hörer von den letzten Übungen auf dem Weg zum "Endsieg", dem "Panzerfaust-Schießen": "Die Handhabung dieses vom Feind gefürchteten Panzernahbekämpfungsmittels ist genauso einfach, wie es aussieht und kann mühelos auch von Frauen erlernt werden." Schließlich erfährt man von den Todesmärschen, die Himmlers Anordnung des Endes der Vergasungen in Auschwitz folgen. Mitte Januar 1945 beginnt die SS, das KZ zu räumen. Auf dem Weg ins "Reich" sterben noch einmal Zehntausende. Die in "Geschichte zum Hören" gesammelten Reportagen folgen der Chronologie eines Jahres, angefangen mit der Ansprache Hitlers zum Jahresende 1944 über die Neugründung von SPD und KPD bis zum ersten Nachkriegs-Weihnachten.
Nicht weniger Aufmersamkeit verdient die auf Walter Kempowskis monumentaler Textmontage "Das Echolot" basierende "Chronik für Stimmen", die - komplementär zum soeben erschienenen Buch "Abgesang" - die Zeit von Januar bis Mai 1945 dokumentiert. Unter der Regie Walter Adlers lesen 200 Schauspieler, darunter Traugott Buhre, Irm Hermann und Otto Sander, Texte, die Kempowski aus 5.000 Familiennachlässen zusammengefügt hat. Geschichte von unten, die Kempowski schon betrieb, lange bevor Guido Knopp mit seinen Zeitzeugen das ZDF eroberte: Aus der unkommentierten, doch durchdacht arrangierten Kompilation von Briefen und Tagebucheintragungen entsteht ein bedrückender Endlostext von Hoffnungen, Ängsten und schierer Verzweiflung. Mit dem Sammeln begann Kempowski komplementär zur Arbeit an seiner autobiografisch orientierten Familienchronik: "Diese ganze Zeit aus der Sicht dieses einzigen Menschen zu schildern, ist doch vielleicht nicht richtig, denn andere haben es anders erlebt. Ganz abgesehen davon, dass ich ja nicht alles erlebt habe. Ich war zum Beispiele nicht im KZ, ich war nicht an der Front, das konnte ich ja gar nicht erzählen. Ich hatte das Bedürfnis, diese subjektive Chronik ins Objektivere zu heben", sagt Walter Kempowski.
Mit "Tondokumenten zur deutschen Geschichte" beginnt der Archiv Verlag gemeinsam mit dem Deutschen Rundfunkarchiv Potsdam (DRA) eine groß angelegte Reihe zur deutschen Geschichte. Erster Teil: "Der Untergang des Dritten Reiches". Dieser wird hörbar in Hitlers letzter Rundfunkrede, die bereits von Appellen des sowjetischen Störsenders konterkariert wird. Geschichte, diesmal überwiegend von oben: Das "Hörrohr in die Geschichte", so der Verlag, ist deutlich an Politikerreden orientiert. All dies ist vom DRA durch das Filtern von Störgeräuschen aufbereitet zu einer Tonqualität, von der die zeitgenössischen Radiofreunde nur träumen konnten - wenn ihnen denn ein Empfänger verblieben war.
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