Von irdischen und himmlischen Gärten

Gerhard Meiers großartiges Hohes Lied der Liebe und der Literatur

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was ist das Glück? - Zum Beispiel dies: Der Winter zieht sich hin, die Bäume draußen im Hof bleiben kahl, der Frühling lässt auf sich warten. Man sitzt lustlos zuhause, fröstelnd, vor Langeweile surft man im Netz und versinkt im schwindlig machenden Datenfluss, schaut sich auch die virtuellen Auslagen der Verlage an. Plötzlich aber bleibt man hängen, reibt sich verwundert die Augen: Man hatte geglaubt, Gerhard Meier (*1917) habe vor Jahren deklariert, er würde künftig nicht mehr schreiben. Doch nun stößt man bei Suhrkamp auf ein schmales und feines Büchlein, ganz ohne Klappentext kommt es aus, und in einem Rot ist es gehalten, das an die Liebe denken lässt, vielleicht an den Saft von Granatäpfeln. Und mit einem Mal ersteht vor den Augen wieder der ganze Kosmos von Gerhard Meiers Werk, das Weltdorf Amrain, der herumstehende Rittersporn vielleicht, die Rosen, der Phlox, auch die Apfel-, die Birn- und Kirschbäume.

"Ob die Granatbäume blühen" ist Meiers Frau Dorli gewidmet, die Anfang 1997 gestorben ist. Wer Friedrich Kappelers wunderbaren und einfühlsamen Film "Die Ballade vom Schreiben" (1996) über den Schriftsteller gesehen hat, kennt sie bereits, Meiers Gefährtin durch Leben und Werk. "Eine Elegie" auf Dora Meier-Vogel nennt der Verlag das Buch, doch ist es zugleich eine Hymne auf die Liebe, die "tiefe, tiefe Ewigkeit will", ebenso aber auch auf die Literatur. In Amrain mögen Granatbäume zwar nicht gedeihen, aber im biblischen "Hohen Lied" hat Meier sie gefunden. Noch einmal beschwört der Dichter, bisweilen sehr persönlich, die Stationen seiner Liebe herauf, seines Lebens mit Dorli. Wir finden die beiden auf ihren Reisen wieder, auf ihren Reisen durch die Welt und in die Literatur. Sie wandeln durch Palastgärten im Bergell, über Blumenwiesen im Engadin, auf den Spuren Nietzsches und dem Himmel nahe, weilen mitunter auf Friedhöfen, in Schlossgärten, besuchen Tolstojs Gut Jasnaja Poljana. - Dorli aber ist nun in jenem anderen, dem himmlischen Garten zuhause, und manchmal kehrt sie im Traum zurück, um nach ihrem Gefährten zu rufen. Diese Welt und jene Welt sind eng miteinander verbunden, durch die Kirchen und Kirchtürme beispielsweise, sogar Minarette, die in den Himmel weisen, auch durch den Weißenstein, den Berg über Solothurn, wo sich Dorli und Gerhard einst kennen gelernt haben, am Himmelssaum eben.

Ein weiter Garten ist die Literatur. Gerhard Meier evoziert noch einmal seine liebsten Lektüren, Proust etwa, Hermann Lenz, Peter Handke, Fontane, Tolstoj, und mit diesem Russland, mit seinen Birken zum Beispiel. Auch Gestalten aus Meiers eigenem Werk stellen sich wieder ein. Mit der Trilogie "Baur und Bindschädler", bestehend aus den Bänden "Toteninsel" (1979), "Borodino" (1982) und der "Ballade vom Schneien" (1985), hatte sich Meier ein wohl vergleichsweise kleines, aber treues Publikum geschaffen. Später hat er die Trilogie mit "Land der Winde" zur Tetralogie erweitert. Darin hat Meier seinen Geburts- und Wohnort Niederbipp am Südhang des Juras als "Amrain" verewigt und zum Zentrum der Welt gemacht, Amrain, das ungleich mehr an Welt enthält als so manche Großstadt, die sich für den Nabel der Welt hält. Und so ist das Büchlein auch eine sehr dichte, sehr konzentrierte Summe von Meiers gesamtem Werk.

Meier ist im Grunde genommen mehr als ein Schriftsteller, selbst als Autor von Prosa ist er in erster Linie ein Dichter. Was aber ist die Poesie? In "Toteninsel" hatte Meier einen der beiden Protagonisten, Bindschädler, auf diese Frage antworten lassen: "Ich bemerkte zu Baur, dass die Poesie vielleicht als Spinne zu verstehen wäre, als Spinne in uns drin, die freilich nicht Schmeißfliegen zu fangen, sondern Fäden zu spannen hätte - zu den Dingen." Immer wieder, so auch jetzt, hat Meier selbst diese Verbindungen geschaffen, zwischen der Wirklichkeit draußen und der Erfindungsgabe in uns drin. An den Schluss seines neuen Buches stellt Meier eine Vision: "Dorli, wenn wir wieder zusammen sind und die Wildkirschen blühn und es der Natascha, dem Fürsten Andrej und der Lara nicht gerade ungelegen kommt, gleiten du und ich in deinem Schattenboot von Walden her über die Waldenalp hin, Richtung Lehnfluh, eskortiert von Kohlweißlingen, Distelfaltern, Abendpfauenaugen und einem Admiral."

Und dem glücklichen Leser erblühen in der Fantasie die Granatbäume, draußen im Hof aber die Forsythien.

Titelbild

Gerhard Meier: Ob die Granatbäume blühen.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
47 Seiten, 12,80 EUR.
ISBN-10: 3518416774

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