Umherschweifende Hirne

Über Leander Scholz' neuen Roman "Fünfzehn falsche Sekunden"

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Einen "würdigen Anfang" verspricht das erste Kapitel. Das geht dann so: Celeste, eine deutsche Austauschstudentin in San Francisco, macht mit ihrem Nachbarn Christopher einen Ausflug in die Wüste. Die beiden finden eine heiße Quelle, wo sich ein Schwarm unbekannter Insekten auf sie stürzt. Die zerstochene Ich-Erzählerin gerät in Panik, ihr Begleiter sucht Schutz im heißen Wasser.

Leander Scholz, dem es 2001 mit "Rosenfest", einer gezielten Banalisierung des RAF-Mythos, gelang, auf sich aufmerksam zu machen, eröffnet seinen neuen Roman mit einer Szene wie aus einem Horrorfilm. Was aber hat sie mit der folgenden Geschichte zu tun? Nicht viel, sieht man davon ab, dass seine Protagonistin, die mit ihrer Plapperei rasch zu nerven beginnt, noch mehrmals gegen ihre Angst kämpfen und selbst ins symbolträchtige und meist zähflüssige Wasser steigen wird, wahlweise in Taufbecken oder Badewannen. So betritt die verliebte Celeste auf der Suche nach ihrem plötzlich verschwundenen Nachbarn dessen Wohnung und genehmigt sich dort, warum auch nicht, ein ausgiebiges Bad. In eben dieser Wanne findet sich Celeste, die "dem Himmel Geweihte", wie ihr Name verrät, auch Tage später wieder, nachdem sie offenbar ohne ihr Wissen Teil eines medizinischen Experiments wurde: Um das Leben des unheilbar kranken Christopher zu retten, hat man sie als Spenderin für eine Gehirntransplantation ausgewählt.

Dazwischen passiert, soweit sich das überhaupt sagen lässt, in etwa dieses: Nicht nur Celeste sucht Christopher, sondern angeblich auch sein Halbbruder, ein gewisser Kornweil, Chef eines dubiosen Medizinunternehmens namens "Paradise Engineering". Kornweil behauptet, nur Celeste könne aufgrund ihrer emotionalen Bindung den Verschwundenen finden. Auf ihrer Suche findet Celeste rätselhafte Hinweise, etwa ein Poster von einem Wohnwagen im Wald. Oder eine Quittung über den Kauf von Medikamenten, Antidepressiva und -epileptika, die sie, als Kornweil und andere sie ihr prompt anbieten, sogleich willig schluckt. Ach ja, im Kühlschrank ihrer von Unbekannten leergeräumten Wohnung entdeckt Celeste unter einer Glasschüssel noch ein herrenloses Gehirn, was immer es dort soll.

Wie es sich für Suchen dieser Art gehört, begegnen ihr allerlei seltsame Gestalten. Eine Frau namens Viola etwa, die als "theoretische Friseuse" Männern die "Erkenntnis" bringt und eine noch namenlose Adoptivtochter hat, die Fotos von Landminenopfern sammelt. Oder ein paranoider, in einem Keller hausender Verwalter, der blind ist, aber das Wetter riechen kann und vielleicht seinen Sohn misshandelt hat. Vor allem aber erlebt Celeste immer wieder unheimliche Zustände, deren Beschreibung noch das Beste sind, was dieser Roman zu bieten hat.

Augenblicke, in denen die Zeit still zu stehen scheint und nur Celeste sich bewegen kann. Deplatzierte, wie von außen induzierte Emotionen und Wünsche. Begegnungen mit unsichtbaren Liebhabern, denen sie sich willig hingibt. Momente, in denen die Grenze von Innen- und Außenwelt, Subjekt und Objekt aufgehoben scheint, etwa als Celeste das Gefühl hat, in ihrem Mund befinde sich statt ihrer eigenen eine fremde Zunge. Psychotische Zustände, Halluzinationen? Folgen der eingenommenen Psychopharmaka? Was von dem, was Celeste erlebt, ist überhaupt real? Der Klappentext suffliert, Celestes Bewusstsein werde - "eine Schreckensvision unserer Zeit" - von anderen manipuliert. Aber wie? Hat man ihr eine Art ferngesteuerten Emotionschip ins Gehirn eingepflanzt? Oder schwimmt dieses längst im berühmten Tank und bekommt eine komplette Traumwelt vorgegaukelt?

"From a logical point of view", singt ein Unbekannter höhnisch vor der Tür, als Celeste zum ersten Mal in der Wanne liegt. Doch statt der Logik regiert in diesem Roman jene Frau auf dem Wandgemälde, die vor Celestes Appartement den Passanten unentwegt die Zunge rausstreckt. Wie auch immer man versucht, die Informationen, die die Ich-Erzählerin erfährt, zusammenzusetzen, stets bleiben Ungereimtheiten und Absurditäten übrig.

Was an sich nicht gegen einen Text sprechen muss, wäre er dafür mit Geist und Sorgfalt komponiert - und überzeugte aufgrund seiner sprachlichen Qualitäten. Davon kann bei diesem Werk keine Rede sein. Stattdessen bietet es ein albernes Gemisch aus Versatzstücken aus diversen Hollywoodfilmen, blinden Motiven, vorschnell gekappten Spannungsbögen, klischeehaften Dialogen und jeder Menge Pseudophilosophie.

Sie lässt ahnen, was der Autor wollte. Um Angst und ihre Überwindung ging es ihm, um Schuldgefühle und wie schon in seinen früheren Romanen um ein Begehren nach narzisstischer Regression, bedingungsloser Hingabe und Verschmelzung mit dem Anderen. "We're just two lost souls, swimming in a fish bowl", zitiert Scholz Pink Floyd. Da sollte man besser nicht stören.

Titelbild

Leander Scholz: Fünfzehn falsche Sekunden.
Carl Hanser Verlag, München 2005.
256 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3446205969

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