Der Mensch ist das Tier, das sich sorgt

Robert Gernhardt liest "Im Glück und anderswo"

Von André SchwarzRSS-Newsfeed neuer Artikel von André Schwarz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Robert Gernhardt bei einer Lesung zuzuhören, ist immer wieder ein Genuss. Nicht nur, dass er sein Oeuvre wohlklingend vorträgt, seine Ein- und Überleitungen sind ebenfalls von einer ganz eigenen Qualität. Mal witzig, mal hintersinnig und lakonisch, mal ganz pragmatisch führt er den Zuhörer von Gedicht zu Gedicht.

So auch bei dem vorliegenden Live-Mitschnitt einer Lesung seines jüngsten Bandes "Im Glück und anderswo" in Frankfurt am Main im Januar 2003. Gekonnt und geschickt führt er durch die neun Abteilungen des Buches, nachdem er mit dem originellen Aufhängerzyklus "Suchspur mit Hund" schon ein erstes Highlight gesetzt hatte. Gewohnt Komisches stellt Gernhardt neben die in "Im Glück und Anderswo" zahlreich vertretene eher ernsten Gedichte, eine Mischung, die zwar zu Beginn etwas ungewohnt erscheint, sich aber nach und nach zu einem harmonischen Ganzen verbindet.

Gernhardt spielt auch in diesem Buch mit den Formen. Man findet klassische Sonette, Balladen und Parodien etwa auf Friedrich Schlegel neben nur auf den ersten Blick banal wirkenden Alltagserlebnissen. Des Dichters Experimentierfreunde zeigt sich etwa in "Der glorreiche 29. April 2000", einem Gedicht, dessen Zielvorgabe war, an jenem Tag alle vier Stunden einen Vierzeiler zu schreiben. Das kann man aber auch toppen, denn "Der ,Klassiker' Deutschland-Holland" wurde gar im zehn-Minuten-Rhythmus verfasst und bringt ganz nebenbei auch den Fußball-Fan zur Lyrik: "30:00 / Basler vergeigt / Möller verspielt / Bierhoff verfehlt / Weißwein verschönt. / 40:00 / Holland entzückt / Deutschland enttäuscht / Chance vertan / Weißwein tut not." Schöner und treffender kann man ein Spiel der deutschen Nationalmannschaft kaum kommentieren.

Aber auch bei weitaus ernsteren Themen zeigt sich Robert Gernhardt als genauer und scharfer Beobachter, so etwa bei seinem im 3/4-Takt vorgetragenen Gedicht "Der letzte Walser": "hast du den / letzten Skan / dal schon ver / nommen? Die / Rede von / Walser zu / Frankfurt am/ Main? / Ist auch bei / dir das Ge / fühl aufge / kommen, das / Schweigen sei / Silber, doch / Reden sei / Stein? / Paulskirche, Buchhandel / Holocaust, Monument / Fußballfeld, alptraumhaft / Schuldkultur, Ritual / Wegschauen, wegdenken / Brandstiftung, Unverstand / Missverstand, Widerstand / Bösartig, weghören / Friedenspreis, Friedenspreis."

"Das Gedicht kann alles", schrieb Gernhardt einmal, hier mag man diesen Satz erweitern, denn auch der Dichter ist in allen Bereichen zu Hause und fühlt sich dabei sichtlich wohl.

Leider ist die Auswahl recht klein, lediglich 62 Minuten Spielzeit sind doch knapp bemessen und bald gefüllt, eine umfangreichere Sammlung - wie etwa bei der Lesung "In Zungen reden" - wäre schon wünschenswert gewesen. Das Vergnügen ist daher eher kurz, doch um so nachhaltiger und man ist schon auf den nächsten Gernhardt und vor allem die nächste Lesung gespannt.

Titelbild

Robert Gernhardt: Im Glück und anderswo. Live-Mitschnitt der Lesung.
Der Hörverlag, München 2003.
75 min, 15,90 EUR.
ISBN-10: 3899400836

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