Kegel, Kerker und Türme

Notizen zum Thema Architektur bei Thomas Bernhard

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Das ewige Schweigen dieser unendlichen Räume macht mich schaudern.

Pascal, Pensée 206

(Motto in Thomas Bernhards "Verstörung", 1967)

"Zu Fro: kahle Wände, Zweckmäßigkeit, Selbstverletzungsstrategie, Katastrophalcephalökonomie", heißt es in Thomas Bernhards Roman "Das Kalkwerk" (1970). Der Protagonist Konrad soll das gesagt haben, und es klingt, als werde da das abgehackte Gerede eines Wahnsinnigen wiedergegeben. Aus den vielen zitierten Erinnerungen und Gesprächsfetzen im Text erfährt der Leser, dass sich Konrad nach jahrzehntelangem Umherreisen mit seiner Frau endgültig in die totale Abgeschiedenheit dieses Kalkwerks zurückgezogen hat, um seine dubiose Studie über das Gehör zu vollenden. Der verschrobene Wissenschaftler verschanzt sich, lässt zusätzliche Schlösser und Riegel anbringen und reißt darüber hinaus allen Zierrat des Gebäudes ab. Es wird für ihn und seine Frau, die sich seinen pausenlosen Hörexperimenten zu unterziehen hat, zum bewusst konstruierten "Kerker", ein selbstauferlegtes und zum Hochsicherheitstrakt ausgebautes Gefängnis. Konrad sucht die absolute Isolation, weil er glaubt, nur in einem Bau wie dem Kalkwerk könne er sein Ziel endgültig erreichen. Tatsächlich entpuppt es sich jedoch als der Ort seines definitiven Scheiterns: als Sackgasse des Todes.

Die aggressive Bedrohlichkeit der gesamten, meist nur in indirekter Rede aus der Rückschau verschiedener Personen wiedergegebenen Handlungssituation des Romans gibt auch ein Traum Konrads wieder. Darin streicht der Protagonist das ganze Kalkwerk innerhalb von sieben Tagen samt seiner an den Rollstuhl gefesselten Frau mit schwarzem Mattlack an. Zuletzt stürzt er sich von einem Felsvorsprung in die Tiefe. Diese geträumte 'Verdunkelung' seines Denkens und Handelns findet später in der tatsächlichen Ermordung der gelähmten Ehefrau ihre erzählerische Kulmination.

Konrads Traum löst die unüberwindliche Schreibhemmung des Protagonisten gewaltsam, indem er den angeblich so idealen Lebens- und Schaffensraum mitsamt der Ehefrau endgültig durchstreicht wie einen Text. Diese totale 'Schwärzung' ist obendrein symbolisch mit der Korrektur einer (biblischen) Schöpfungsgeschichte konnotiert: Das Schreiben Bernhards selbst erscheint hier nur noch als ein vollkommen negatives, als Abbild totaler Auslöschungen. Die bedrohliche Hermetik des Raums, die damit motivisch verbunden wird, ist konstitutiv für die Rolle, die die Architektur in Bernhards Werk einnimmt: Konrads 'Denkbezirk' selbst erscheint im Traum als die absolut schwarze Totalität der Finsternis, als buchstäbliches Nichts.

Ähnlich verhält es sich auch in Bernhards großem Roman über die (sogar vollendete) Idee eines absoluten Gebäudes, den Kegel in "Korrektur" (1975). Mitten im österreichischen Kobernaußerwald erbaut, soll der phallische, erratische Turm ein bizarres Geschenk für die geliebte Schwester des Protagonisten und Bauherrn Roithamer sein. Der Anblick des fertigen Baus ist jedoch Aulöser ihres sofortigen Todes und damit auch von Roithamers Selbstmord. Roithamer erkennt die Gefahren seines Handelns frühzeitig selbst, begibt sich jedoch sehenden Auges in den Untergang, in den er seine Schwester - ähnlich wie Konrad seine Frau - kompromisslos mit hineinzieht. Sein Arbeitsplatz, die Dachkammer seines alten Freunds und Gastgebers Höller, ist nicht nur als literarische Evokation eines romantischen Topos lesbar, sondern auch seiner gleichzeitigen Zerstörung. Sie fungiert als metonymische Markierung eines unhintergehbaren Bruchs in der Literaturgeschichte: Denn "tatsächlich hätte der, wie [Roithamer] sagt, unendliche Aufenthalt in der höllerschen Dachkammer, wenn ein solcher Aufenthalt überhaupt möglich gewesen wäre, zu nichts anderem geführt, als in seine vollkommene Vernichtung".

Bernhards fiktionale Gebäudekomplexe, die immer als Orte des (autobiografischen und gesellschaftskritischen) Gedenkens und Erinnerns der Erzähler im Text auftauchen, sind somit auch als erzählerische Mahnmale monströser historischer Hintergründe verstehbar. Die dilemmatische Problematik eines Denkens, Schreibens und nicht zuletzt architektonischen Schaffens nach Auschwitz scheint in diesen Häusern eine verschlüsselte literarische Spiegelung gefunden zu haben. Auch Bernhards letztveröffentlichter Roman "Auslöschung" (1986) und dessen früher Prätext "Der Italiener" (1971) demonstrieren diesen unweigerlichen Zusammenhang symbolträchtiger Gebäude mit der verleugneten nationalsozialistischen Geschichte Österreichs und Deutschlands besonders deutlich - und fungieren gleichzeitig als eine Art werkgeschichtlicher Motivklammer um das gesamte Werk Bernhards.

Verschlossene, leere und verlassene Räume tauchen bei Bernhard immer als topografische Kristallisationspunkte verdrängter und verleugneter Geschichte bzw. unbewältigter (Familien-)Konflikte auf. Roithamer in "Korrektur" etwa hat im zweiten Stock seines Kegels einen Meditationsraum von asketischer Strenge konzipiert, der nach dem Tod der Schwester für immer unbetreten und leer zurückbleibt, um inmitten des riesigen Waldes mahnend zu verwittern. Der mit dem Symbol des (blasphemischen) Turmbaus schon in der Bibel verbundene menschliche Geniegedanke, verstanden als vergeblicher Versuch, schöpferisch mit Gott in Konkurrenz zu treten, ist somit auch bei Bernhard mit den Insignien der Heimatlosigkeit, Verlorenheit, des Wahnsinns und des Todes konnotiert.

Das aussichtslose Vorhaben des Nachlassverwalters und Erzählers in "Korrektur", die konfusen architektonischen Zettelnotizen Roithamers zu sichten und zu ordnen, erinnert dabei nicht nur an Bernhards generelle poetologische Skepsis gegenüber der Verständlichkeit sprachlicher Mitteilungen. Es verweist auch auf das, was aus der Geschichte vom Turmbau zu Babel in der Moderne geworden ist: "Da fuhr der Herr hernieder, dass er sähe die Stadt und den Turm, die die Menschenkinder bauten. Wohlauf, lasst uns herniederfahren und dort ihre Sprache verwirren, dass keiner des anderen Sprache verstehe!", heißt es in der Genesis.

Schon in Bernhards frühem Fragmentroman "Amras" (1964) begegnen wir zwei offenbar wahnsinnig gewordenen suizidalen Brüdern, die sich in einem Turm verbarrikadiert haben und weniger durch die Klarheit ihrer aphoristischen Notate, als durch gedankliche Verworrenheiten in Folge einer "Tiroler Epilepsie" ausweisen, an der sie angeblich leiden.

Zum Topos des nicht mehr mitteilbaren, verstehbaren und sinnlosen Meditierens in diesen metonymischen Räumen kommt bei Bernhard das Moment der Gewalt hinzu, die die Protagonisten dort gegen sich und auch gegen andere richten - und die jeder humanistischen Idee ihres angeblich aufklärerischen Denkens Hohn spricht.

Allein steht Bernhard mit dieser erzählerischen Dekonstruktion überkommener Inthronisierungen hehrer Kunst- und Geniegedanken in der jüngsten Literaturgeschichte nicht. Verdeutlichen doch Texte wie "Amras" und "Korrektur" eine Fallhöhe zwischen althergebrachten kulturellen Idealen und ihrer radikal scheiternden Realisierung, wie sie etwa auch in Arno Schmidts rätselhafter juveniler Erzählung "Pharos oder von der Macht der Dichter" (nach neuesten Erkenntnissen wahrscheinlich entstanden zwischen März 1942 und Ende 1943) auftaucht. Der mythisch anmutende Leuchturmwärter, der hier auftritt, verehrt die kanonischen Autoren "Fouqué, Hoffmann, Wieland, Holberg, Stifter" wie Götter, während er den schiffbrüchigen Ich-Erzähler, der auf seiner Insel gestrandet ist, durchrprügelt und "wie ein kaum geduldetes Haustier" behandelt. Auch in diesem Text endet die Feier des "obersten Göttliche[n] schlechtin", als dass die Literatur apostrophiert wird, mit Mord und Totschlag.

Bernhards Faszination für abweisende, unbelebte und verlassene Gebäude ist als literarisches Abbild einer pervertierten aufklärerischen Zähmung des Ästhetischen lesbar, wie sie sich als rigide Restriktion architektonischer Vorstellungskraft seit der Industrialisierung entwickelte. Nämlich durch das Verbot ornamentaler Strukturen und der Eliminierung alles Spielerischen zugunsten einer rein wissenschaftlich-funktionalen Zweckmäßigkeit. "Rationalität verengt sich dabei auf die Bestätigung gesellschaftlicher und ökonomischer Herrschaftsfunktionen", schreiben Inge Habig und Kurt Jauslin in ihrer Studie "Der Auftritt des Ästhetischen. Zur Theorie der architektonischen Ordnung" (1990). Diese Affirmation diene "gleichzeitig dazu, die vorgeblich humanen Zwecke der Architektur zu ruinieren und die Erscheinung einer von Bedeutung erfüllten ästhetischen Baugestalt zu verhindern", heißt es dort.

Max Horkheimer und Theodor W. Adorno haben in der "Dialektik der Aufklärung" (1947) hinlänglich beschrieben, wie dieses Zweckmäßigkeitsstreben, das seit Hegels Zeiten immerhin noch als Vorschein einer besseren Welt gedacht worden war, in den Abgrund eines inkommensurablen kulturellen Untergangs stürzte. Auch Konrads weite, verwaiste Zimmerfluchten im "Kalkwerk" werden ja aufgesucht, auch Roithamers Kegel im Kobernaußerwald wird akribisch geplant und gebaut, um das angeblich absolut Rationale zu denken und zu Papier zu bringen - doch was in diesen Gebäuden bzw. durch die mit ihnen verknüpften Projekte allein zustande kommt, sind schiere Mordtaten.

Im Nachdenken über gewandelte literarische Wege eines Schreibens nach Auschwitz dürfte es gewinnbringend sein, Bernhards Romane mit dem Hintergrundwissen zu lesen, das Axel Dunker in seiner Habilschrift "Die anwesende Abwesenheit. Literatur im Schatten von Auschwitz" (2003) vermittelt. Selbst Texte, die oberflächlich betrachtet gar nichts mit der Judenvernichtung zu tun zu haben scheinen, werden demnach auf nicht mehr dechiffrierbaren textuellen Bedeutungsebenen - etwa in der Form einer Deckerinnerung - mit der historischen Aura der Shoah kontaminiert. Das, was vollkommen vernichtet wurde, bleibt somit als Abwesendes in der Sprache der Literatur anwesend, kehrt wieder und meldet sich in metonymischen literarischen Bildern unvermittelt zurück: Ein Phänomen, das übrigens auch die Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek in ihren Texten zum bewussten Formprinzip erhoben hat.

"Und denkt man über die Abwesenheit nach, dann erkennt man: Dieses ist keine metaphorische Abwesenheit. Das was [von den ermordeten Juden] übrig geblieben ist, ist Asche. Das ist die Realität", konstatiert der Architekt des Jüdischen Museums in Berlin, Daniel Libeskind, in einem seiner Aufsätze. Dieses sprechende Vakuum hat die Kunst nach Auschwitz aufzunehmen, doch umgekehrt ergreift laut Dunker auch die wiedergängerische Geschichte der Vernichtung ganz von alleine Besitz von den Bildern und Visionen der Kunst, die danach entsteht.

So kann es dem Leser Bernhards passieren, dass er in einem der "Memory Voids" oder dem dunklen "Holocaust-Turm" in Libeskinds Berliner Museumsgebäude nicht nur an die Shoah, sondern plötzlich auch an die verschatteten Schauplätze, Türme und Gebäudefluchten in den Romanen des Österreichers denken muss.

Bernhard verstieß in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur allerdings nicht nur subtextuell, sondern auch explizit gegen das Tabu des Erinnerns, das die NS-Verbrechen 'vergessen' machen sollte, indem es ihr Verschweigen verordnete. Mittlerweile ist das unablässige Sprechen über Auschwitz zur inhaltsleeren Kehrseite dieses schuldbewussten Versteckspiels der Täter geworden, die bald alle gestorben sein werden. Das mediale Betroffenheitsgeschwätz über Auschwitz scheint damit nachträglich Adornos paradoxales Diktum zu bestätigen, das besagt: "[S]elbst das Vergangene ist nicht mehr sicher vor der Gegenwart, die es nochmals dem Vergessen weiht, indem sie es erinnert".

Literatur hat andere, komplexere Wege sprachlicher Darstellungsweisen zu finden, um derartige Mechanismen im Sinne negativer Ästhetik zu eskamotieren. Bernhards "Denkkerker" und radikal entleerte Gebäudekomplexe entpuppen sich als literarische Metonymien eines Grauens, das literarische, künstlerische und wissenschaftliche Gewissheiten in Auschwitz in Frage gestellt hat. Das ist der Hintergrund, der Bernhards Texte über das Scheitern des "intellektuellen Menschenfeindes im Zeitalter seiner literarischen Aufhebung" (Bernhard Sorg) an das konkrete zeitgeschichtliche Geschehen zurückbindet, ohne dabei dem Sog des bloß Dokumentarischen zu erliegen.