Punamütsike?

Walter Sauers polyglottes Rotkäppchen

Von Jürgen GutschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Gutsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Punamütsike - ist das vielleicht ein rotes Mützchen? Wer weiß, am Ende wohl doch nur eine volksetymologische Vermutung. Jedenfalls ist dieses Rotkäppchen-Buch des Heidelberger Anglisten Walter Sauer ein sehr geistreicher Versuch - und keineswegs sein einziger! -, die wachsende Einheit Europas von Finnland bis Malta in ihrer sprachlichen Vielfalt abzubilden. Nein, ganz gewiss gibt es keinen Leser, der in der Lage wäre, dieses Buch mit Verstand oder gar Verständnis von Anfang bis Ende durchzulesen. Denn wer kann schon Finnisch oder gar Maltesisch? Und auch mit Estnisch ("Punamütsike", siehe oben!) und Ungarisch ("Piroska" - aha!) hätten die meisten von uns wohl ihre liebe Not. Aber es ist ja Gottlob auch nicht nötig, kennen wir doch dieses Märchen nun eigentlich alle seit Kindertagen auswendig, - "by heart" wie das Englische sagt, also "mit dem Herzen".

Walter Sauer hat sich die Arbeit gemacht, "unser" deutsches Märchen im Wortlaut der Brüder Grimm durch ein illustres Team von 20 Experten in die 20 offiziellen Sprachen der EU übersetzen zu lassen.

Die 20 Märchentexte sind (bis auf das Grimm'sche Original nach der Ausgabe letzter Hand) allesamt neu, keiner stammt aus der Literatur, d. h. aus älteren Übersetzungen der Kinder- und Hausmärchen oder aus Originalversionen, die außerhalb dieser Märchensammlung etwa im Französischen, Italienischen oder Englischen tradiert werden; alle sind hier der Vergleichbarkeit halber auf den Grimm-Text justiert. Es handelt sich also nicht um ein literaturwissenschaftliches Projekt - auch wenn ein solches freilich von Interesse wäre (nach dem Muster etwa der schon fast erschöpfenden Rotkäppchen-Monografie von Hans Ritz, Göttingen 2000), denn der Wolf z. B. einer englischen Version frisst das Mädel mitsamt dem Little Red Riding Hood am Ende einfach auf, und es folgt keinerlei Happy-End, nur eine fromme Ermahnung im Struwwelpeter-Ton; andere Fassungen sind älter und berühmter als die Grimm'sche, etwa die von Charles Perrault. Hier aber haben wir es nun mit einem linguistischen Unternehmen zu tun.

Es soll niemand sagen, es sei nicht von Interesse, dass der böse Wolf in Finnland - und dort gibt es ihn als wildes Tier gewiss leibhaftig! - "susi" heißt! Dieser Art sind die Reize dieses Buches. Susi, wilk, farkas, lupo, ulv, lobo, loup, lupu, vlk, volk usw. - das sind die Worterkenntnisse, die wir gewinnen, und das wird nur jenem nebensächlich sein, der die Existenz und Tradition einer sprachlichen Sozietät, und sei sie auch eine winzig kleine, eine unwichtige Sache nennt. Unser Capuchinho Vermelho führt uns auf anmutigste Weise durch Kulturen en miniature. Wenn die kleine süße Dirn zu Anfang gefragt wird "Wo hinaus so früh, Rotkäppchen", so heißt das einmal "Dove vai cosi presto, Cappuccetto Rosso?", oder ein andermal "Où te rends-tu à une heure si matinale, petit chaperon rouge?" Die elliptische Frage des Deutschen ohne ein Verb erscheint als klare knappe Sachfrage in der latinità des Italienischen, aber unter Verwendung eines eleganten "se rendre" im Französischen mit einem nachgestellten siebensilbigen Adverb anstelle des deutschen "so früh". Da soll nun niemand sagen, das sei alles Jacke wie Hose! Nein, es offenbart uns Gestalt und Geist einer jeweiligen Sprache selbst dann, wenn wir sie nicht beherrschen. Weil wir das Märchen ja auswendig kennen, wissen wir, dass uns solche Varianten im sprachlichen Hauptteil zu Ende der Geschichte - dies ist gewiss einer der berühmtesten Dialoge der Weltliteratur - noch sehr viel mehr entzücken werden!

Es sei angemerkt: Die in diesem Buch vertretenen Sprachen sind ausschließlich die offiziellen Landessprachen, also keineswegs alle, die in Europa gesprochen werden, da hätten wir es mit dem Dreifachen zu tun! Und nähme man gar die Dialekte dazu - o je! Sauer ist allerdings auch in solchen Dingen Experte. Es gibt von ihm schon die Weihnachtsgeschichte nach Lukas 2 in 60 Sprachen Europas wie in 83 Mundartvarianten des Deutschen. Der kleine Verlag von Nadine L. Sauer (www.verlag-tintenfass.de), worin Walter Sauer publiziert, ist auf dergleichen spezialisiert und füllt damit absolut konkurrenzlos eine Lücke im deutschen (ja eigentlich: europäischen) Verlagswesen. Nicht jedermann hätte diese Lücke überhaupt bemerkt, wohl wahr; doch Sprachverrückte aller Couleur werden durch Walter Sauers Produktionen nun geradezu in Entzücken versetzt. Er hat uns in seinem Buch auch zur Sache ein kenntnisreiches Vorwort geschrieben und als Bildschmuck jedem Märchen eine schwarzweiße Illustration aus 16 verschiedenen Quellen beigegeben.

Eine Empfehlung für ein Buch wirklich der besonderen Art!

Titelbild

Walter Sauer (Hg.): 20 Rotkäppchen europäisch-polyglott. Dt. / Engl. / Franz.
Edition Tintenfass, Neckarsteinach 2005.
104 Seiten, 13,95 EUR.
ISBN-10: 3937467092

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