Erinnerungshorizonte: Weißwurstäquator versus Hauptstadt der Bewegung
Winfried Nerdinger über politische Architektur und ihre Verarbeitung
Von Johannes Springer
"Drei Jahre Geschichte einer Provinz" ist der Untertitel des Romans "Erfolg" von Lion Feuchtwanger. Dort wird vom revolutionär gesinnten Kunsthistoriker Dr. Martin Krüger berichtet, der von reaktionären, präfaschistischen Kräften im die unrühmliche und unheimliche Hauptrolle spielenden Bayern in den Tod getrieben wird. Eine ähnlich ungemütliche und aufsässige Rolle spielt im heutigen Kunst- und Architekturbetrieb Münchens Winfried Nerdinger, der freilich auf ganz andere Art als Feuchtwanger auf die Verknüpfungen von Kunst, Architektur und politischer Wirklichkeit aufmerksam macht. Seit Langem setzt sich Nerdinger mit den politischen Implikationen verschiedenster Architekturen auseinander. Mit Vorliebe jenen in München und Bayern, aber auch gerne mit jenen "totalitärer" Systeme. Konnte sich Nerdinger schon seit Langem als Experte der Baugeschichte des Nationalsozialismus profilieren, zieht er in dem nun erschienenen "Architektur Macht Erinnerung" weitere Register und diskutiert den faschistischen italienischen Rationalismus. Auch stellt er grundsätzliche Thesen zur Erörterung politischer Fragestellungen im Architektur-Zusammenhang auf. Die Aufsätze, die aus dem Output Nerdingers der letzten zwanzig Jahre ausgewählt wurden, sind dabei, abgesehen vielleicht vom etwas knapp ausgefallenen zur stalinistischen Architektur, von bestechend guter Absicht und Qualität. Im ersten Satz der Einführung wird bereits die Intention seiner Forschung offen gelegt. Die Steine sprechen, zitiert Nerdinger dort die römische Sentenz, aber nur zu dem, so ergänzt er, der ihre Geschichte kennt. Dass der gesellschaftliche Memorialschatz diese Geschichte in vielen Fällen unterdrückt, ausblendet und reduktionistisch aufbereitet, dies scheint der wesentliche Movens hinter diesen Texten zu sein, die zunächst einmal Kontexte herstellen und über Architekturproduktion als politisches Feld aufklären wollen. Es ist auch kein Zufall, dass dem ersten Beitrag des Buches Ambrogio Lorenzettis Freskenzyklus des Guten Regiments vorangestellt ist. Die in dieser Allegorie transportierte Erzählung von den Vorzügen eines guten Stadtregiments umschließt schließlich all das, was noch heute als die positive Programmatik der europäischen Stadt erscheint. "Es ist die von Menschen mit Leben erfüllte Stadt als Ort einer von allen geteilten und gelebten Identität. Die Stadt: ein hier zu sich selbst kommendes Projekt, dessen vornehmstes Medium die Baukunst ist." So kommentiert der Kunstwissenschaftler Michael Müller das Fresko, und Winfried Nerdinger geht es ähnlicherweise um die identitären Qualitäten des Mediums Architektur, das bei Lorenzetti so funktioniert, dass man u.a. aus dem Zustand der Häuser die Regierungsform ableiten kann. Nur wird man gute Regimenter vergeblich in Nerdingers Themenspektrum suchen. Und mitentscheidend für seinen Blick ist in der Folge, dass er nicht willens ist, den formalistischen Kurzschluss zu begehen und sich auf eine die Architektur von ihrer Verwendung und Funktion loslösende Perspektive einzulassen. Er zeichnet sich vielmehr dadurch aus, den Fokus von den vordergründigen, als unschuldig vermittelten ästhetischen Elementen auf die machtdynamischen Zusammenhänge zu lenken. Besonders deutlich wird dies in der Auseinandersetzung mit dem mussolinitreuen, modern bauenden Architekten Giuseppe Terragni. Jener, der unter anderem für den in Como befindlichen rationalistischen Casa el fascio verantwortlich zeichnet, wird in der zeitgenössischen Rezeption verstärkt über sein formales Vokabular wahrgenommen. "Terragni existiert nicht. Ich habe Terragni erfunden. Terragni bin ich", soll Peter Eisenman mal zu seinem Lieblingsmodernisten geäußert haben. Dementsprechend unproblematisch konnte Terragni auch in der großen Eisenman-Retrospektive dieses Jahr in Wien ausgestellt werden. Wider solche formalistischen Verkürzungen, die sich bis zu Eisenman'schen Interviewaussagen wie "i love palladio ... and piranesi, i like le corbusier, terragni ..." versteigen können, argumentiert Nerdinger. Er insistiert, dass man mittels solcher partikularen Rehabilitationen monströse Analogien betreiben kann, die dann beispielsweise in einer ebenso gefährlichen wie falschen Gleichsetzung von italofaschistischem Rationalismus und demokratischer Bauhausmoderne ihre pikante Spitze finden. Dies ist aber das Resultat, wenn man auf eine Untersuchung des zeitgeschichtlichen Kontextes und der Frage nach der Funktion im Faschismus verzichtet. Ebenso wenig kann Nerdinger den Stimmen beipflichten, die sich auf die Position stellen, in den formal modernen Industriebauten der dreißiger Jahre müsste eine Nische gesehen werden, die sich ob ihrer formalen Exzeptionalität im Nationalsozialismus für eine positive Bewertung anböten. Dass er diese umcodierenden Rettungsversuche nicht mitzumachen gewillt ist, wird unmissverständlich deutlich in der Formel von der Verantwortung des Architekten. Dabei kann es nicht entscheidend sein, ob sich eine "gute" Form konstatieren lasse wie bei den deutschen Industriebauten der dreißiger Jahre, viel drängender stellt sich dann die Frage nach der Verwendung der Architekturen, was besonders in diesem Fall affirmative Bewertungen verunmöglicht. Über die Erscheinung der Bauwerke hinaus verpflichtet Nerdinger auf technische und vor allem auf soziale, gesellschaftspolitische Verantwortung, an der sich die Bauten zu messen haben. Erst im Vollzug dieses Dreiersets ist qualitative Architektur und positiv verstandene Verantwortung des Architekten denkbar, gegen eine Separierung dieser Kategorien hingegen wird der Leser einige gute Argumente finden. In diesem Zusammenhang muss auch der Anschluss an Wolfgang Fritz Haug in der Forderung nach einem strukturellen Zugang gelesen werden, der eine solitäre Betrachtung von Einzelelementen für unzureichend hält. "Es gibt kein Prädikat faschistisch, das den Elementen von Hause aus anklebt. Faschistisch ist die gesamte gesellschaftliche Anordnung, nicht das Angeordnete, vielmehr wird dieses faschistisch in der Anordnung, sich einordnend." Verhindert würde durch solch einen Ansatz auch die strukturblinde stilistische Aufwertung oder Neutralisierung, wie sie z. B. für die Bewertung des NS-Neoklassizismus, der in eine behauptete internationale Neoklassizismustendenz der Zeit eingeordnet wird, zunehmend zu konstatieren ist. Wenn dann Hitlerintimus Speer zum Normalfall und größten Architekten seit Schinkel wird, hat man sich auch des Problems der Nazi-Architektur, mit der eine kritische Auseinandersetzung zu führen wäre, entledigt.
Ebenso große Aufmerksamkeit wird auch der lokalen Ebene, die in diesem Fall München und Bayern meint, geschenkt. Hier sieht sich Nerdinger auch als Aktivist, der mit seiner Forschung direkt auf Politik einwirken will und sich zu klaren Forderungen bekennt. Logisch, dass an dem Ort, der als "Hauptstadt der Bewegung" und "Führerstadt" große Bedeutung hatte, besondere stoffliche Spuren hinterlassen sind. Da mit Maurice Halbwachs die Steine einer Stadt besondere Erinnerungskapazitäten sind, ist der Umgang mit ihnen auch ein umkämpftes stadtpolitisches Thema. Da nimmt es auch nicht Wunder, wenn parallel zur spurlosen Integration der Täter auch die Täterorte eine ähnliche Behandlung erfuhren. Nutzungen erleben entweder gar keine Zäsur oder sehr kurzweilige in Folge alliierter Einflussnahmen. Als andere auf Verdrängung abzielende Maßnahme wird die Zerstörung der Erinnerung beschrieben, die mit der spurlosen Beseitigung delikater Orte eine sehr zweckmäßige Erfüllung erfahren hat. Dabei bezieht Nerdinger Stellung gegen relativierende Neutralisierung, romantisierende Ruinendarstellung und touristische Verwertung wie am Obersalzberg. Stattdessen müssen die Architekturen in einen Zusammenhang gebracht werden, der den unmenschlichen Hintergrund illustriert, sie müssen folglich demokratisch besetzt werden, um als Instrumente der Aufklärung Bedeutung entwickeln zu können. Täterorte gibt es in Nerdingers dringlicher Betrachtung genug, an denen man den Willen demonstrieren könnte, den Horizont der Erinnerungsorte von der heutigen Minimalversion aus, die außer dem Weißwurstäquator wenig zu vermitteln weiß, zu erweitern. Dass dies das hübsche und harmonisierte Bild als Kunst- und Wirtschaftsstadt in Gefahr bringen könnte, weiß auch Nerdinger und ist sich der Widerstände mehr als bewusst. Wie wichtig die öffentlichen Bezugnahmen auf ein sauberes, liebenswert konkurrenzfähiges Stadtimage sind, konnte man jüngst an zwei unterschiedlichen Debatten ausmachen. So ließ sich Bayern Münchens Kalle Rummenigge eine ungewöhnliche Einschüchterungstaktik im Geplänkel um die Dominanz im deutschen Fußball einfallen. Gewohnt aufschneiderisch konnte man von einer Invektive gegenüber dem vermeintlich leichten Stadtopfer Gelsenkirchen lesen. Architektonisch und städtebaulich könne dieses nämlich dem hübschen und geschichtsträchtigen München kaum das Wasser reichen, was künftig jeden geschmackssicheren Fußballkönner auf die Münchner Seite locken würde. Ähnliche Töne vernahm man auch von den Strategen des siegesgewissen, altstadtfixierten Kulturhauptstadtbewerbers Regensburg, und prompt ließ sich das Ruhrgebiet als Sieger feiern. Würde man in Bayern mehr Kenntnis eines schonungslos geschichtsklitternde Stadtverliebtheiten aufklärenden Winfried Nerdinger oder zumindest eines subtil kritisch beschreibenden Lion Feuchtwanger nehmen, die Verwunderung über Schlappen derlei Art wäre mitunter nicht mehr so groß. Wer die Steine sprechen hört, sagt Nerdinger an einer Stelle, könnte besser und authentischer informiert werden, als es manchem Bauherrn lieb ist. Vielleicht trifft dies ja gar auch auf Fußballer zu.