Speer - eine Karriere, gez. d. Verf.

Joachim C. Fest und andere Biografen zum 100. Geburtstag des NS-Chefarchitekten Albert Speer

Von Christian ThomasRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Thomas

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Generationengespräch in den fünfziger Jahren, ein Brief vom Oberhaupt der Familie. Im August 1955 schreibt der Gefangene Nummer Fünf aus dem Spandauer Kriegsverbrechergefängnis, wo er seit zehn Jahren einsitzt, an seine siebzehnjährige Tochter: "Es ist jetzt schon über ein Jahr, seitdem Du hier warst. An Gesprächsstoff wird es uns sicher nicht fehlen!"

Gesprächstoff, was könnte das sein? Auf was sollte sich einer der inhaftierten Manager Hitlers einlassen? Schon in den Briefen zuvor, die Tochter ist Fünfzehn und Sechzehn, berichtet Margret Speer ihrem Vater von Theaterbesuchen, von ihrer Opernleidenschaft, von ihren Lieblingsstücken. Das sind Kleists "Prinz von Homburg" und Sartres "Die schmutzigen Hände".

Ein Gespräch über den Prinzen von Homburg, über das von den Nazis ebenfalls missbrauchte Stück: Wie wäre das verlaufen? Hätte sich daraus, wo doch auch der Vater sich zu diesem Drama bekennt, ein Konflikt ergeben, zumal über den blinden Mechanismus des strategischen Denkens? Und über was noch alles, an erster Stelle über die Schuld durch politische Hybris. Und welchen Generationengesprächsstoff hatte obendrein Sartres dramatische Proklamation individueller Entscheidungsfreiheit unter den Bedingungen eines totalitären Regimes abgegeben?

Der Dialog, den Albert Speer als Gefangener der Alliierten mit seiner Tochter unterhielt, bestand aus Briefen, die seine Rolle als Chefarchitekt des NS-Regimes beschwiegen. Das wird zweifelsohne auch an der Zensur gelegen haben, die die Schreiben, die eine wöchentliche Ration von 1300 Wörtern zuließen, durchliefen. Jetzt, wo man sie auszugsweise lesen kann in Margret Nissens Erinnerungen "Sind Sie die Tochter Speer?", wirken die Hinweise des Mädchens auf Kleist und Sartre, zumal auf beide Dramatiker der existentiellen Freiheit kein einziges weiteres Wort folgt, wie arglose Bekenntnisse. In ihrer Naivität stehen sie heute aber umso dröhnender im Raum, als sie vom Vater ohne Widerhall blieben - bleiben mussten. Es ist eine Stille, so könnte man ergänzen, wie in dem toten Trakt von Spandau, worüber 1975 die Spandauer Tagebücher Albert Speers Aufschluss geben, mit denen der Häftling, während er in den Raum ohne Leben immer wieder hineinhorchte, auch seine Rolle als Mann neben dem Diktator neu begründete.

Wer war Albert Speer?

Speer als "ranghöchster Zeitzeuge des NS-Regimes" (Nissen) und das NS-Biografiewesen in Deutschland bilden seit Ende der sechziger Jahre eine besondere deutsche Legierung aus Faszination für den starken Staat und Verdrängung seiner monströsen Verbrechen. Speer stellte das verbrecherische Regime zwar nicht in Abrede, bestritt aber eigene Kenntnisse von Untaten, erst recht von Gräueln. Damit stieg der im Detail wie im großen Ganzen mit Nichtwissen Geschlagene an der Seite Hitlers, damit stieg der nicht ins Vertrauen gezogene Manager der Diktatur zum prominentesten Kronzeugen auf. Er war es für ein Nachkriegsmillionenheer von Nazimitläufern. Denn ein Amalgam aus starrsinniger Treue zur eigenen Unkenntnis, aus Selbstgerechtigkeit, verbitterter Reue und Selbstmitleid nahm die Erinnerungen als dankbare Entlastungsangebote an. Zur Nachkriegskarriere des Chefausstatters der Diktatur gehörte, dass er zu einem der führenden Ausstatter des Hitlerbildes in Westdeutschland werden konnte.

Nun, dreißig Jahre später, in denen zunehmend eine schonungslos-kritische Historiografie mit einer "wohlwollenden" (Nissen) Speerexegese konkurriert, steht die Republik vor einer weiteren Speererinnerungswelle. Rechtzeitig zum 100. Geburtstag Albert Speers am kommenden Samstag, rechtzeitig auch zur Ausstrahlung des ARD-Dreiteilers von Heinrich Breloer im Mai, bringt der über Jahre intimste Zuhörer Speers, Joachim Fest, ein weiteres Buch heraus, "Die unbeantwortbaren Fragen".

Fests jüngste Speerveröffentlichung beantwortet keine Fragen, die nicht schon beantwortet wären. Was wusste Speer, der "Wirtschaftsdiktator Europas" (Fest) vom Mordprogramm an den europäischen Juden? Eine Nichtkenntnis Speers von der fabrikmäßigen Vernichtung der Juden und eine moralische Verstrickung und politische Verantwortung in dieses singuläre Menschheitsverbrechen legten bereits die Richter des Nürnberger Kriegsverbrecherprozesses ihrem Strafmaß zugrunde, so dass des "Teufels Architekt" (Golo Mann), kein anderer als der zweite Mann des Regimes, der Architekt von Berlin-Germania genauso wie der mit dem 8. Februar 1942 von Hitler zum Sanierer der deutschen Rüstungsindustrie bestellte Minister, vor den alliierten Anklägern mit dem Leben davonkam. Speer hatte in Nürnberg, anders als die Göring oder Hess, Schacht, Streicher oder Dönitz, eine moralische Gesamtverantwortung für die Verbrechen des Regimes übernommen; persönliche Verstrickungen in einzelne Verbrechen wie überhaupt in das systematische Massenmorden hatte er abgestritten.

Gitta Sereny, eine weitere Speerbiografin, hat noch kürzlich in einer ZDF-Produktion über den von ihr in den siebziger Jahren hartnäckig befragten Speer brutal geurteilt: Hitlers zweiter Mann gehörte, nach allem was man heute weiß und damals ahnte, 1946 zum Tode verurteilt. Von Dan van der Vat, einem weiteren Speerforscher, stammt das Wort, dass Speer als Generalbauinspektor des Wahnwitzes "Germania" 1938/39 das Leben von zehntausenden Berliner Juden "ruiniert" habe. Speer hat 1946 in Nürnberg, bei seiner Verteidigung als Kriegsverbrecher, wie auch später, als Kronzeuge, immer wieder behauptet, von der Vertreibung der Berliner Juden aus ihren Wohnungen nichts gewusst zu haben. Ebenso hat er die Augen- und Ohrenzeugenschaft in Posen abgestritten, als dort am 6. Oktober 1943 Himmler den NS-Eliten in einer Rede die "Endlösung" ankündigte. Auf diesem Treffen hatte wenige Minuten zuvor auch Speer gesprochen und das unproduktive NS-Bonzentum scharf angegriffen; unmittelbar nach seiner Attacke gegen die versammelten Gauleiter, noch bevor Himmler vor derselben Versammlung das millionenfache Morden ankündigen sollte, will Speer, so hat er stets beteuert, abgereist sein. Auf Speers Verantwortung wiederum als Rüstungsminister für die grauenvolle Zwangsarbeit Hunderttausender, ob nun in den Rüstungsbetrieben oder im KZ selbst, wies, noch vor van der Vat und Gitta Sereny, bereits Matthias Schmidt 1983, zwei Jahre nach Speers Tod, nach.

Fest und Speer, das ist eine gemeinsame Karriere. Fest und Speer, das ist eine (nicht allein publizistische) Interessengemeinschaft, seit Wolf Jobst Siedler 1966, damals Verlagschef bei Ullstein-Propyläen, den prominentesten Zeitzeugen des NS- Systems mit dem 40jährigen Historiker Joachim C. Fest zusammenspannte. Noch 1999, in seiner Biografie Speer, hieß es im elften Kapitel lapidar: Siedler zog "daher auf Veranlassung einen Berater hinzu, und gemeinsam gaben sie dem aufgetriebenen Neuentwurf Kürze, Dichtigkeit und eine Art Dramaturgie." Im Anmerkungsapparat dazu fand sich die Erläuterung: "Der 'Berater war der Verf.'"Wiederum im elften Kapitel folgte im Anschluss an diese Selbstauskunft die Bemerkung: "Inhaltlich änderten sie [sic] nichts."

"Sie" - oder: eine Formulierung inszeniert sich als unabhängige Instanz. Das ist der Grund, warum man heute über Albert Speer nicht schreiben kann, ohne nachdrücklich die Rolle seines Biografen Fest zu bedenken.

Wenn sich Fest, die Instanz, nun, in ihrer neuesten Speerveröffentlichung, ausdrücklich zu ihrer Rolle bekennt und sich, jetzt bereits auf der ersten Seite, als "vernehmender Lektor" bezeichnet, dann ist das eine Klarstellung - aber nicht nur das, wenn man bedenkt, dass die Speerforschung in Fest immer schon den Ghostwriter der Erinnerungen gesehen hat, wofür die stilistischen Qualitäten dieser Speerveröffentlichung sprach (im Gegensatz zu anderen Büchern Speers). Fest äußert sich im Vorwort seiner morgen erscheinenden Gedächtnisprotokolle, die über Jahre durch die Zusammenarbeit mit Speer entstanden, zu Details, die für den Leser der Literatur über Speer nicht (mehr) neu sind.

Dabei wird dem Leser gelegentlich auch die Schlüssellochperspektive angeboten, die in Speer einen kultivierten Bourgeois unter Kleingeistern ausmacht, einen Nobelnazi in einer vulgären Kamarilla niederer Gesinnung. Hitlers vermutete Bettaffäre mit Winifred Wagner, Hitlers Mundgeruch, Hitlers Hässlichkeit, Hitlers Minderwertigkeitskomplex, Hitlers sadistische Neigung, Speers und Hitlers offenbar homoerotische Harmonie, Hitlers lange gegenüber Speer anhaltende "Magie", dann aber (gar nicht passend für eine Götterdämmerung) der Schweiß-, Fäulnis und Latrinengestank im Bunker. Ein Buch inszeniert sich als Quelle.

Albert Speer, am 19. März 1905 in Mannheim geboren, wurde mit 29 Jahren Hitlers Leibarchitekt. Zweimal hat Speer von einem Tod in seiner Nähe profitiert, im Januar 1934 starb der bisher von Hitler favorisierte Architekt Paul Troost; im Februar 1942 kam bei einem Flugzeugabsturz Fritz Todt ums Leben, zu dessen Nachfolger als Rüstungsminister Speer berufen wurde. Speer ist, wie schon der große Monumentalist unter den Architekten der Weimarer Republik, Hans Poelzig, früh erkannte, ein nicht sonderlich begabter Architekt gewesen. Erst als Hitler dem ehrgeizigen Tessenow-Schüler unumschränkte Vollmachten zur Verfügung stellte, konnte er es zu einem Fanatiker von Unterwerfungsarchitekturen und Organisator von Massenschauplätzen bringen. Daraus darf man folgern: Der Fanatiker und Organisator Speer waren sich wechselseitig wollüstig ausgeliefert.

Speer schuf Kultbauten in einem totalitären Sinne, was Fests These, er sei ein "apolitischer Technokrat" gewesen, widerspricht. Speers Lichtdome mag man mit dem Enthusiasmus eines sich genialisch gerierenden Zyklopengeists begründen; was dieser 1933 erstmals auf dem Tempelhofer Feld in Szene setzte, war keine Erfindung eines 28jährigen (auch wenn Fest das noch heute behauptet). Obendrein waren solche den Nachthimmel schraffierenden "Weihkerzen-Atmosphären", so schrieb der Mitarbeiter der Frankfurter Zeitung, Siegfried Kracauer, schon 1926 über die Vorläufer dieses Kults, keine Tümeleien im Stil des von Hitler bewunderten Historismus; das waren Modernismen im Stil einer zwar nicht mehr neuen, aber unverändert eisigen Sachlichkeit. Schon die Modelle, über die sich Speer und Hitler gemeinsam beugten, zeigten suggestiv eingeleuchtete Zuchtarchitekturen. Die Andacht über den Modellen spekulierte auf Orte einer totalitären Symmetriewut, die das Individuum exilierte und eine urbane Totenstarre und metaphysische Leere konzentrierte.

Abrechnung mit Marcel Reich-Ranicki

Fest hat für Speers megalomane Entwürfe und Pläne, für seine fertig gestellten Bauwerke genauso wie für seine noch weit irrwitzigeren Vorhaben, Begriffe von kalter Präzision gefunden, überlegen vielem, was die Architekturhistorie bis heute zu sagen hat. Auffällig, dass sich Fest in seiner immer wieder auch sozialpsychologischen Studie über den schauerseligen Eklektizismus und die dämonischen Wollustszenerien des Chefarchitekten Hitlers nie auf Elias Canetti hat berufen mögen. Schon 1971 hatte Canetti in seinem Essay "Hitler, nach Speer" auf zwei Elemente der Speer-Hitler-Bauweise hingewiesen: Da große Massen, so Canetti in Anlehnung an seine Studie "Masse und Macht", zum Zerfall neigen, gebe es nur zwei Mittel, dem entgegenzuwirken. Einerseits durch Krieg, andererseits durch "Wachstum" und "Wiederholung".

Speer war als Architekt ein monströser Wachstumsfetischist und - da es zum Wesen des Fetischismus gehört - öder Wiederholungstäter. Das Große Stadion in Nürnberg sollte mit einem Fassungsvermögen von 400.000 Menschen doppelt so groß werden wie der Circus Maximus. Der Arc de Triomphe ist 50 Meter hoch, Speer plante für Hitler einen 120 Meter hohen Triumphbogen. Und die Kuppelhalle der Welthauptstadt Germania hätte das Reichtagsgebäude zur Hundehütte degradiert. In den Dimensionen seiner Despotenarchitekturen machte sich der Herrenvolkarchitekt zum Sklaven eines hysterisch durchexerzierten Fetischs. Und doch reichte Speers Intelligenz aus, um sich vorstellen zu können, dass die Ausmaße seiner Bauten keinen Protagonisten so sehr verkleinerten wie ausgerechnet seinen "Führer". Das von Speer erkannte Problem lautete: Wie sollte der Diktator auf die ins hintere Glied gestellten Massen wirken? Bei allem, selbst wenn es um geringere Dimensionen ging, etwa bei der Reichskanzlei, wurde ein stumpfsinniges Auffädeln exekutiert, ein Aufmarsch von ungeschlachten Bauelementen. "Kolossalschwelgereien" nennt es Fest. Paranoia nannte es Canetti.

Canetti-Worte sind in die Bücher des "Verf." nicht ausdrücklich eingegangen, der Speer schon immer ein "ideologisches Desinteresse" attestiert hat angesichts "der erkennbar räudigen Züge" des Regimes. Fests jüngstes Buch bringt drei Dinge mit sich, eine weitere Inszenierung, eine Abrechnung und eine Frontbegradigung. Die Selbstinszenierungen Fests gehen auf Kosten des gegenüber Speer angeblich nicht immer hartnäckig genug auftretenden Siedler. Fests Lektorbeharrlichkeit im Unterschied zu Siedlers Verlegerverbindlichkeit sei es zuzuschreiben, dass Speer einige Zeilen über die Pogromnacht 1938 in seine Erinnerungen aufgenommen habe. Irgendwann heißt es selbstbeflissen: "Bezeichnenderweise gehörte Speer offenbar zu den radikalen Gefolgsleuten Hitlers. Siedler bemerkt, Speer sei, wie er vermute, jederzeit bereit gewesen, ,,,über Stock und Stein' zu gehen. ,Über anderes auch noch, setzte ich hinzu.'"

Die Abrechnung gilt Marcel Reich-Ranicki; der schrieb in seinen Erinnerungen, dass er im September 1973, aus Anlass der Präsentation der Hitlerbiografie Fests in der Villa seines Verlegers Siedler, zum Zeugen beflissener Gunstbeweise für den Ehrengast Speer geworden sei. Fests Widerrede, jetzt, könnte man zu einer innerbetrieblichen FAZ-Angelegenheit erklären. Wenn der ehemalige Mitherausgeber Fest nicht dabei seinen Literaturredakteur, den Überlebenden des Warschauer Gettos, zu einem namenlosen "Mitarbeiter" machte. Mit Herablassung auf den "erwähnten Journalisten" zeigt sich die Speerinstanz als Festapologet - und der Verf. in der Pose des Herrenreiters.

Die Frontbegradigung gilt konkurrierenden Speerbiografen. Fests Buch, das sich als Quelle inszeniert, stellt sich überdies dar wie der historisch-kritische Apparat zu der Speerbiografie des "Verf.". Hier bereits hatte dieser die 1972 diskutierten "Indizienbeweise" des amerikanischen Historikers Erich Goldhagen zurückgewiesen, um Speers Nichtkenntnis des Himmlerschen Genozidaufrufs festzustellen. Nun, in der jüngsten Publikation, beruft sich Fest auf die eidesstattliche Erklärung eines Augenzeugen. Fest lässt sich in seine Eingeweihtenperspektive nicht hineinreden, und sie wäre glaubwürdiger, wenn er von manchem nachträglichen Redigat abgesehen hätte.

Sicher, seine Darstellung und stilistische Brillanz ist den Arbeiten der Kollegen weit überlegen. Doch mit Bemerkungen wie "folgender Tag" suggerriert der Architekt der Autobiografie Speers eine historische Authentizität, für die nachträgliche Eingriffe ebenso verantwortlich sein dürften wie die Neudeutschvokabel "Willensmaniac". Zur Fest'schen Geschmeidigkeit gehört eine Reserve, die mit Begriffen wie "Nürnberger Tribunal" und "Siegergericht" die im Nachkriegsdeutschland ausgeprägte Schuldharthörigkeit aufgreift und als Soupcon artikuliert. Dieser kennt ziselierte Unterschiede zwischen "Siegerjustiz" und "-gericht", was nicht bedeutet, dass Fest je einen Zweifel an dem "Maß der Schuld" Speers aufkommen ließe, vielmehr, bei aller "Binnenblindheit", dessen "berechnende Reue" beargwöhnt. In den Notaten heißt es: "Die Antwort auf die Frage, warum ich einem Regime, das derartige Greuel nicht nur zuließ, sondern anordnete, loyal weiterdiente, die ist es, wonach ich seit Jahren suche." Das, tatsächlich, ist ein längeres Zitat von Speer, der als der monströseste Innenausstatter des Personenkults zuletzt die blindwütigsten Befehle Hitlers missachtete, darunter dessen "Nerobefehl". Der Verfasser einer abstrusen "Theorie des Ruinenwerts" verweigerte der Götterdämmerung des "Tausendjährigen Reichs" immerhin die finale Inszenierung, auch wenn Speers Managerfähigkeiten das Regime und den Zweiten Weltkrieg in Europa verlängerten, wofür Hunderttausende mit dem Leben bezahlen mussten.

Speer selbst rechnete in Nürnberg mit dem Todesurteil. Seinen Triumph vor dem Gericht führte er auf ein entschlossenes Verdrängen zurück, das keine halben Sachen kannte - nicht zu vergessen "sportliche Motive, die mich leiteten." An die ersten Momente der Wiederbegegnung mit ihrem Vater jenseits des Spandauer Gefängnisses hat seine Tochter Margret Nissen keine Erinnerung. Wohl aber an eine Konfrontation im Frühjahr 2004, auf dem Obersalzberg, wo sie in einer Ausstellung dem Foto des Angeklagten von Nürnberg jäh gegenübersteht.

Die NS-Forschung und insbesondere die Psychologie hat tausende von Fällen dokumentiert, in denen die Kinder von Verbrechern zwischen einem "historischen und einem privaten Vater" zu unterscheiden sich zu mühten; das Vorwort des Erinnerungsbuchs der Tochter nennt es mit dem Sozialpsychologen Harald Welzer den "Widerspruch zwischen dem Emotionalen und Kognitiven". Vor dem Militärgerichtsfoto ihres Vaters gibt es für die Tochter Margret Nissen keine Konstruktion mehr, da fällt alles jäh ineins: "In einer Reihe mit anderen Kriegsverbrechern habe ich ihn bisher noch nie gesehen."

Anmerkung der Redaktion: Der Text erschien zuerst in der "Frankfurter Rundschau" vom 17.03.2005. Wir danken dem Autor für die Publikationsgenehmigung. Auf der Website der "Frankfurter Rundschau" findet sich auch ein ausführliches Dossier mit zahlreicheren weiteren Texten zum Thema.


Titelbild

Dan van der Vat: Der gute Nazi. Albert Speers Leben und Lügen.
Henschel Verlag, Berlin 1997.
576 Seiten, 15,90 EUR.
ISBN-10: 3894872756

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Margret Nissen: "Sind Sie die Tochter Speer?".
Herausgegeben von Margit Knapp und Sabine Seifert.
Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 2005.
228 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 342105844X

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Gitta Sereny: Albert Speer. Sein Ringen mit der Wahrheit.
Goldmann Verlag, München 2005.
896 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-10: 344215328X

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Joachim Fest: Die unbeantwortbaren Fragen. Notizen über Gespräche mit Albert Speer zwischen Ende 1966 und 1981.
Rowohlt Berlin Verlag, Reinbek bei Hamburg 2005.
272 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3498021141

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Joachim Fest: Speer. Eine Biographie.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
544 Seiten, 12,90 EUR.
ISBN-10: 3596150930

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Heinrich Breloer: Speer und Er. Hitlers Architekt und Rüstungsminister.
Propyläen Verlag, Berlin 2005.
416 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-10: 3549071930

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Heinrich Breloer: Unterwegs zur Familie Speer. Begegnungen, Gespräche, Interviews.
Propyläen Verlag, Berlin 2005.
608 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-10: 354907249X

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