Knutschfleck im Kleingarten
Adam Langer berauscht sich in seinem Roman "Crossing California" an der Jugend
Von Maik Söhler
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseFast 600 Seiten sind ganz schön viel Platz für gerade mal zwei Jahre im Leben dreier Jugendlicher und ihrer Familien. Zu viel Platz, auch wenn Adam Langer seinen Figuren mit Chicago ein Zuhause gibt, von dem es genügend Interessantes zu erzählen gibt und er sie auch noch in einer spannenden Zeit platziert.
Sein Roman beginnt im November 1979, "am Tag nachdem in der US-Botschaft von Teheran etwa siebzig Amerikaner als Geiseln genommen worden waren". Der wohl liberalste Präsident in der jüngeren Vergangenheit der Vereinigten Staaten, Jimmy Carter, spricht von einem "Wendepunkt in unserer Geschichte", und auf einen solchen Wendepunkt wartet auch Jill Wasserstrom, eine präpubertierende Zwölfjährige aus jüdischem Elternhaus, als sie ihrer Mitschülerin Lana Rovner erzählt, sie habe dem gleichaltrigen, schwarzen Muley Scott Wills einen Knutschfleck verpasst. Sie will nicht mehr als kindlich oder "unreif" gelten und endlich ernst genommen werden.
Jill und Lana trennt nicht nur die (angebliche) Erfahrung, jemandem einen Knutschfleck zu verpassen. Viel stärker wird von beiden gewichtet, wer westlich und wer östlich der California Avenue lebt, einer Straße, die nahe dem Zentrum Chicagos die Wohngebiete des unteren von denen des oberen Mittelstandes trennt. Westlich, im Eigenheim, wohnt Lana zusammen mit ihrem älteren Bruder Larry, ihrem Vater, einem Arzt, und ihrer Mutter, einer Psychologin. Östlich, zur Miete in einem Mehrfamilienhaus, lebt Jill mit der älteren Schwester Michelle und Vater Charlie, der ein Schnellrestaurant leitet. Die Mutter ist vor einigen Jahren gestorben.
Und auch Muley Wills, der vermeintlich mit einem Knutschfleck Gezeichnete, wohnt östlich der California. Seine Mutter überquert diese Straße fast täglich, um bei Rovners zu putzen. Nach dem Rauswurf von Muleys Vater hat sie ihr Lehramtsstudium nicht beenden können. Seither kompensiert sie ihre miesen Jobs mit der Lektüre aller verfügbaren Prosa in der nahe gelegenen Stadtteilbücherei, von der auch Muley was hat, da er von seiner Mutter fast die komplette Weltliteratur vorgelesen oder zusammengefasst bekommt. Mit wenigen Ausnahmen: "Wenn er eine Geschichte nicht kannte, so meist deshalb, weil sie etwas dumpf Didaktisches hatte, eine so offenkundige Botschaft, dass Deirdre Wills sie ihrem Sohn nie zugemutete hätte, etwas, was vor überzogener Symbolik strotzte - sagen wir, über eine Welt voll grüner Menschen, die einen lilafarbenen Menschen aus ihrer Mitte verbannen." Muley unterstützt seine Mutter finanziell, indem er Beiträge fürs Jugendradio produziert oder Elektroschrott wiederverwertet.
So sieht sie aus, Langers kleine Welt mitten in Chicago. Sie ist so übersichtlich geraten wie ein gut gepflegter Kleingarten, wohl geordnet, und doch mit genügend Freiräumen zum Entfalten. Hier kann sich alles entwickeln, die Jugendlichen sollen älter werden, träumen, Sex haben (mit sich selbst oder mit anderen), die Liebe erfahren, enttäuscht sein, die Schule abschließen, Bier trinken und kiffen, Freunde gewinnen und verlieren, kurz: alle Erfahrungen machen, die eben gemacht werden müssen, um erwachsen zu werden. Entsprechend detailliert stellt Langer seine Protagonisten vor, fast täglich kann man ihre Entwicklung mitverfolgen. "Crossing California" liest sich stellenweise denn auch wie ein unterhaltsames Jugendtagebuch samt erläuterndem Vorspann und feinfühligen Kommentaren.
Irgendwann fragt Michelle den zwischen Rockmusik und der jüdischen Orthodoxie hin und her gerissenen Larry, "ob er high sei. Larry sagte, ja, das sei er, berauscht vom Leben." Allein, man kann diesen Rausch eines dauernd onanierenden und deswegen auch dauernd von einem schlechten Gewissen geplagten Judäa-Rockers kaum nachvollziehen, es sei denn, man gesteht dem Altern selbst etwas Rauschhaftes zu. Auch die Elternfiguren fallen allzu schlicht aus: Charlie Wasserstrom ist der letzte "anständige Mensch", eine "Rarität auf dieser Welt", Michael und Ellen Rovner hingegen wirken wie Psychohüllen ohne Leben und Deirdre Wills reicht der Anblick des nackten Michael Rovner, um ihr Leben von heute auf morgen radikal zu ändern - gute Entwicklungsromane funktionieren anders.
Am ärgerlichsten aber sind die vielen gestelzten Mono- und Dialoge. Charlie Wasserstrom muss sich von Jill anhören: "In Familien herrsche wahrhaftig keine Demokratie, und letztlich sei sie in der wohlmeinenden Diktatur, unter der sie lebten, dazu verdammt, sich seinen Entscheidungen zu fügen." Aber ist das wirklich seine Tochter, die da spricht, oder ist es nicht doch eher der Papagei des Sozialkundelehrers? Die andere Tochter, Michelle, die bisher keinem Spaß abgeneigt war, doziert indes über Sexualität und hört sich dabei nicht wie eine 16-, sondern wie eine 60-Jährige an: "Mit Sex stillte man ein instinktives animalisches Bedürfnis; jemanden dafür zu loben war wie jemanden zu loben, weil er aß."
"Crossing California" ist dennoch ein interessanter Roman. Er ist es überall dort, wo die sozialen Widersprüche dies- und jenseits der California Avenue sichtbar werden und die Handlung beeinflussen; und auch dort, wo man merkt, dass die achtziger Jahre begonnen haben, wo Äußeres - wie die Ablösung Carters durch Ronald Reagan und die von Langer damit verbundene Aufbruchstimmung im Land - in die kleine Chicagoer Jugendwelt einbricht und sich in ihr spiegelt. "Ich bin für den Gewinner", sagt Lana Rovner kurz nach Reagans Amtsantritt und bringt eine weit verbreitete Stimmung auf den Punkt. Politische Inhalte sind egal, bejubelt wird, wer gewinnt.
Der Rest des Buches aber, und das ist sein überwiegender Teil, besteht aus unendlichen Selbstbespiegelungen Pubertierender oder ihrer Peer Groups. Auch das könnte spannend sein. Schade nur, dass der gepflegte Kleingarten jugendlichen Wildwuchs nur begrenzt zulässt und die berauschte Jugend sehr schnell ganz schön alt aussieht.
Anmerkung der Redaktion: Der Artikel erschien zuerst in der "Jungle World". Wir danken dem Autor für die Publikationsgenehmigung.