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Anmerkungen zu Friedemann Spickers längst fälliger Geschichte des deutschsprachigen Aphorismus

Von Jacques WirionRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jacques Wirion

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Diese knappen Sätze oder Saetzlinge, die vielleicht manche Kopffestung entsetzen und sehr anregend wirken können, haben schon seit der Antike zugleich fasziniert und degoutiert. Man kann die verstehen, die nichts mit diesen sprachlichen Kurzschlüssen anfangen können, welche den Leser lehrerhaft oder hinterhältig einer Prüfung seiner Klugheit und Einsichtsfähigkeit unterziehen. Wer möchte schon gerne zugeben, dass er die Paradoxien und gedanklichen Verknappungen vieler Aphorismen nicht versteht? So wird die Gattung gerne als manierierte Sprücheklopferei belächelt, die eigentlich doch keinen tieferen Erkenntnisprozess herbeiführt und deren Produkte eben so rasch vergessen werden, wie man sie vielleicht sogar verständnisvoll grinsend und nickend aufgenommen hat.

Ein anderer Vorwurf an die Gattung betrifft den Mangel an Anstrengung, den ihre Produzenten vermeintlich aufwenden. In einer Gesellschaft, in der sich künstlerisch Produktive gern als Schwerstarbeiter präsentieren, um so ihre Minderwertigkeitsgefühle gegenüber bürgerlich seriöser und geregelter Arbeit zu kompensieren, ist dieses Urteil vernichtend. Und doch haben die Aphoristiker damit zu leben gelernt. Und nun sind dank einem Literaturwissenschaftler und der Unterstützung seiner Frau, die ihn von der Erwerbsarbeit freigestellt hat, diese Produkte endlich zu Objekten solider Forschung avanciert und somit in den Stand des Gattungsadels erhoben worden.

Mehr als 30 Jahre hat sich der Autor mit dem Thema "Aphorismus" beschäftigt. Nun liegt das Ergebnis seiner Forschungen und Gedanken vor, und das hat es in sich.

Dass Friedemann Spicker auch den Blick über die Grenzen der deutschen Sprache werfen kann, belegt seine vortreffliche, 1999 bei Reclam erschienene Anthologie "Aphorismen der Weltliteratur". Die zwei bisher publizierten literaturwissenschaftlichen Werke von Friedemann Spicker über diese Gattung lassen sich zum Teil als Vorarbeiten verstehen: Das begriffs- und gattungsgeschichtlich ausgerichtete Werk "Der Aphorismus / Begriff und Gattung von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis 1912" (1997) und die "Studien zum deutschen Aphorismus im 20. Jahrhundert" (2000). Diese Funktion der Vorarbeit bezieht sich ebenso auf die Begriffsbestimmung des Aphorismus wie auf die einschlägigen Texte in den Epochen des Expressionismus und des Nationalsozialismus und die Grenzbestimmungen zur Lyrik.

Selten hält man ein wissenschaftliches Buch in den Händen, das so viel Substanz enthält. Zugleich ist es eine unerschöpfliche Anthologie. Die Freunde und die Praktiker des Aphorismus begegnen hier in der Tat einem riesigen Arsenal, das sie Tage und Wochen in seinen Bann ziehen wird.

Das Ziel des Autors, eine Bestandsaufnahme der Gattung im letzen Jahrhundert, ist erreicht worden und füllt eine literaturhistorische Lücke, die von den Verächtern der Gattung nie als besonders schmerzhaft empfunden worden ist, von ihren Verehrern aber umso mehr. Es hat manche Untersuchungen zur Theorie des Aphorismus gegeben, von Fritz Schalk, Franz H. Mautner, Heinz Krüger, Joseph Peter Stern, Paul Requadt, Gerhard Neumann, R. H. Stephenson, Harald Fricke, Giulia Cantarutti, Stephan Fedler, Werner Helmich, um nur einige zu nennen. Aber eine derart komplette und die Gattung von allen Seiten erleuchtende Darstellung der real existierenden Produkte ist meines Wissens im deutschen Sprachraum bisher noch nicht unternommen worden.

Im einleitenden Kapitel über den Gattungsbegriff setzt Spicker mit den Worten von Joost den eigenen, "strikt historisch-induktiven Weg" Harald Frickes "deduktivem Zugriff" des Gattungsverständnisses entgegen. Hierbei verweist er auf die Definitionsprobleme, die aufgrund der notgedrungen fließenden Abgrenzung gegenüber den verwandten Bereichen Essay (dem "großen Bruder") entstehen, Kurzessay, Kürzestessay, Spruch, Sprichwort, geflügeltes Wort, Distichon, Tagebuch, Fragment, Aufzeichnung und Lyrik. Das Ergebnis seiner induktiven Methode ist eine weniger strenge Begriffsbestimmung der Gattung als diejenige Harald Frickes, wodurch er die Zahl der "Definitionsopfer" einschränkt und zugleich der Vielfalt der Gattung eher gerecht wird.

In den wichtigen Literaturgeschichtswerken des 20. Jahrhunderts kommt der Aphorismus so gut wie nicht vor. Ein bleibendes Verdienst von Harald Fricke ist angesichts dieser Situation die Belebung der Aphorismusforschung im Anschluss an seine Untersuchung von 1984. Dies wird besonders deutlich in der Verbindung mit Gattungsfragen.

Wie der Untertitel bereits ankündigt, geht es darum, die Verbindungen zwischen Wortspiel, Metaphorik und Erkenntnisprozess in einem Spannungsdreieck zu erhellen. Neben der Nietzsche-Rezeption werden die Wurzeln der Aphoristik des 20. Jahrhunderts in Österreich (Feuchtersleben, Grillparzer, Ebner-Eschenbach) und im Deutschen Reich (Paul Cossmann, Emanuel Wertheimer) ausgemacht.

Nun hält sich Spicker in seiner Untersuchung nicht nur an Gipfelleistungen der Gattung, wie die von Karl Kraus, Kafka, Musil, Canetti, Ludwig Hohl, Hans Kudszus oder Elazar Benyoëtz, sondern geht auch auf die Trivialprodukte ein, also auf das, was man eine Gartenlaube-Aphoristik nennen könnte, und beackert auch dieses riesige Mittelfeld.

Er untersucht in Bezug auf die erste Jahrhunderthälfte nach dem gängigen literarhistorischen Schema den Aphorismus des Expressionismus und des Nationalsozialismus, des Exils und der Inneren Emigration. Dann fügt er ein Kapitel über Aphorismus und Wissenschaft ein, das neben der Philosophie, dem Recht und der Kunstwissenschaft u. a. die selbstreferenziellen Texte der Gattung untersucht. Hierbei ist festzustellen, dass die Autoren, die Wissenschaft und Aphoristik verbinden (u. a. Wittgenstein, Adorno, Benjamin) eher "auf Philosophieren aus [sind] statt auf Philosophie [...] (Schmidt-Biggemann)".

In dem Teil der Arbeit, der der zweiten Jahrhunderthälfte, also der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg gewidmet ist, werden die Autoren der Bundesrepublik, Österreichs, der Schweiz und der DDR behandelt. Gerade in der Schweiz gibt es neben dem inzwischen nicht mehr unbekannten Ludwig Hohl eine Entdeckung: Hans Albrecht Moser. An diesem eigenwilligen, zum Reaktionären und Mystischen neigenden Selbstdenker fallen besonders das Selbstreferenzielle, die Ironie und Selbstironie auf, sein Denken "in fließender Dialektik". "Wenn ein Geist zerbricht, dann gibt's Gedankensplitter."

Das VI. Kapitel dieses Teils widmet sich der Zeit nach 1970, berührt das Satirische, das Medizinische, die pragmatische Aphoristik in den Sparten Business, Lebenshilfe und Meditation. In dem abschließenden VII. Kapitel werden die Grenzbereiche Wörterbuch, Essay (Chargaff, Fabri, Bense), Lyrik (Benyoëtz), Aufzeichnung und Tagebuch (Ernst Jünger, Canetti, Schnurre und Handke) und der postmoderne Fragmentarismus bei Botho Strauß und Czernin untersucht.

Wenn man diese Einteilung betrachtet, in der das letzte Kapitel über eigentliche Aphoristik mit der Trivialaphoristik abschließt und das letzte, in dem sich die eigentlich großen Namen befinden, die Grenzbereiche behandelt, könnte man schließen, dass Spickers Ausblick in die Zukunft der Gattung deren Grenzen sprengt, dass er der "klassischen" Form des Aphorismus kaum noch Chancen einräumt.

Der Autor kommt dem Leser in dieser schier überquellenden Masse an Informationen und Bewertungen entgegen, indem er die Kapitel einzeln oder gruppenweise resümiert und somit die Linien seiner Argumentation verdeutlicht. Seine Sprache ist wissenschaftlich präzise, verschmäht aber zuweilen nicht die scharfen rhetorischen Mittel der behandelten Gattung und das besonders bei der Bewertung einzelner Stücke. Was seine Qualitätskriterien betrifft, so schätzt er besonders Texte, die auf dem Umweg des Unerwarteten und Unerhörten blitzartig Zusammenhänge beleuchten und Abgründe erhellen, wobei allerdings selten Wortspiele oder mechanistische Paradoxien die einschlägigen Mittel sind. Er schätzt die autonome Bildlichkeit der Sprache, das Innovative und Experimentelle (nicht nur bei Kafka und Canetti). Sein Vierer-Olymp für die gesamte Gattungsgeschichte wird besetzt von Lichtenberg, Nietzsche, Karl Kraus und Canetti.

Bei einigen Autoren hätte man sich mehr biografische Details gewünscht. Der hohe Preis des Werkes, der sich vermutlich aus der kleinen Auflage (300 Exemplare) erklärt, sollte die Freunde und Produzenten dieser Gattung aber nicht abschrecken. Dieses notwendige Buch wiegt nämlich eine ganze Menge von Büchern auf. Für Aphoristiker, "die sich nach 1970 in der Mitte der Gattung tummeln" hat es vielleicht eine heilsame Schockwirkung, insofern es ihre selbstverliebte Produktion auf diesem Gebiet relativiert, indem es ihnen bewusst macht, wie groß und qualitativ bedeutend die Aphorismenproduktion im 20. Jahrhundert gewesen ist. Doch viele können sich auch angesichts der Seichtigkeit, der süßlich braven Gesinnung mancher Kollegen und Kolleginnen, die Spicker dankenswerterweise nicht auslässt, wieder aufrichten.

Titelbild

Friedemann Spicker: Der deutsche Aphorismus im 20. Jahrhundert. Spiel, Bild, Erkenntnis.
Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2004.
1000 Seiten, 99,99 EUR.
ISBN-10: 3484108592

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