"... wähle ich den Schmerz"

Mit Dieter Forte "Auf der anderen Seite der Welt"

Von Alexandra PontzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Pontzen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In diesen Wochen jährt sich um 60. Mal das Ende des Zweiten Weltkriegs. Aus diesem Anlass kamen zuletzt vermehrt Zeitzeugen zu Wort, etwa in einer Reihe des Deutschlandfunks, die schildern, wie sie die letzten Kriegs- und ersten Friedenstage im Mai 1945 erlebt haben. Political correctness und der pädagogische Impetus dieser Art von oral history kanalisieren den umfassenden Erinnerungsanspruch; die Stimmen derer, denen das Wort erteilt wird, sind ausgewogen zusammengestellt: der Soldat, die Flüchtlingsfrau, der KZ-Überlebende, der Flakhelfer. Keine Täter im eigentlichen Wortsinn. Das ist verständlich. Erstaunlicherweise wagen die Medien der Kunst eher, was die historische Dokumentation scheut.

Dieter Fortes neuer Roman, mit größerer Aufmerksamkeit und noch stärkerem Lob bedacht als die früheren Erzähltexte des jetzt 70-Jährigen, aus Düsseldorf stammenden Autors, erzählt die Zeit in einer deutschen Großstadt unmittelbar nach Kriegsende. Bei ihm kommen so viele zu Wort, dass sich aus der Vielzahl der Geschichten, ihren Widersprüchen und Unvereinbarkeiten, der Absurdität ihres Nebeneinanders ein Gefühl starker Gegenwärtigkeit entwickelt, kein Verstehen, aber Verständnis dafür, wie Menschen sich ihr Leben erzählen, zu welchen Mitteln sie greifen, um sich ihres Lebens zu versichern, sich ihr Überleben zu erklären, es vor den Toten zu entschuldigen.

Die Toten nämlich sind die geheimen Adressaten (und zuweilen auch die Helden) von Fortes Roman. Für sie wird gesprochen, und sie werden zum Reden gebracht. Aus dieser Legitimation des Erzählens resultiert die Unangreifbarkeit des Erzählten. Sie ergibt sich wesentlich aus der Perspektive der einzig konkret werdenden Hauptfigur, eines jungen schwerkranken Mannes, der in den 50er-Jahren mit wenig Hoffnung auf Heilung von seiner Familie auf eine einsame Nordseeinsel mit Lungenheilanstalt verschickt wird. Von dort aus, aus einer Sphäre zwischen Tod und Leben, umgeben von Sterbenden, erinnert er sich der unmittelbaren Nachkriegszeit.

Wenn man den Roman empfehlen will - und die Rezensentin will dies uneingeschränkt -, zögert man, so deutlich auf die Lebensabgewandtheit, das Morbide, die "Zauberberg"-Assoziation von Schauplatz und Thematik hinzuweisen. Gleichwohl ist eben diese "andere Seite der Welt" bei Forte der Lebensort, real, seelisch und symbolisch, von dem aus allein sich das Leben im Deutschland der Nachkriegszeit als ein Überleben verstehen lässt.

Die Schnittstelle zwischen Nazivergangenheit und Nachkriegsgegenwart, die vermeintliche "Stunde Null", ist deshalb zugleich die Geburtsstunde des Protagonisten als Erzählers: "Sein Großvater vermachte ihm trotzig in einem letzten Widerspruch, in einer Zeit, die alle die Stunde Null nannten und die daher nicht gezählt wurde, einen winzigen Globus, der versteckt in der Hand lag und einen Bleistiftspitzer enthielt, mit Fleiß zu benutzen, um alles in einem unaufhörlichen phantasievollen Schreiben zu verbinden und zu berichten. Diese buntgescheckte Kugel, die man in die Hosentasche stecken konnte, mit der man durch die Welt spazieren konnte, wurde der Grundstein eines nie endenden Erzählens, durch das er überlebte."

Forte inszeniert die Möglichkeiten dieser mythischen Autopoiesis als Reduktion auf die poetische Miniatur des Alltagsgegenstandes und das "nie endende Erzählen" als formgebenden Gegenstand seines Romans. Der beginnt und endet mit einer Passage, die auch die einzelnen Kapitel einleitet und wie ein Mantra im Bild des Meeres den vorgeburtlichen Zustand mit dem der Todesnähe überblendet: "Das Meer lag in der tiefen Nacht in einem schweren ruhigen Atem, in einer Stille wie vor der Geburt, während das herausgestoßene, abbrechende Todesatmen eines Menschen den Tag erwartete, das Licht weit hinter dem Meer, das wie ein jahrtausendealter schwarzer Stein unter den Sternen schlief."

Die kosmogonische Vision metaphorisiert nicht nur die Empfindung des Protagonisten, der in der Nordseelungenheilanstalt das Sterben der Mitpatienten erlebt. Sie ist auch naturmythologische Überhöhung einer archetypischen seelischen Erfahrung: Im historisch-politischen Niemandsland und der "Zauberberg"-haften Entrücktheit der Klinik "wiederholte" sich für den Kranken die "Zeitlosigkeit nach dem Krieg", wenn er "bewegungslos an einem offenen Fenster sitzend, in erinnerten und sich selbst erzählten Geschichten, das Leben der Toten sah, den stummen Zug der Menschen, der keine Richtung kannte, einfach nur unterwegs war, den Erdball umkreisend, in einer jahrtausendealten Bewegung müder Füße, irritierter Gedanken, verlorener Hoffnung, enttäuschten Glaubens, aufgegebener Vernunft, denn das Vergessen war schneller als das Erinnern."

Der Wettlauf von Vergessen und Erinnern wird für den Protagonisten zugunsten des letzteren entschieden, wenn "in den letzten Monate[n] einer zum Tode führenden Krankheit [...] die verblassenden Erinnerungen [...] noch einmal aufleuchteten mit einer Intensität, die im Leben nicht zu finden war". Doch der Roman situiert die Erinnerungsfähigkeit eben auch "auf der anderen Seite der Welt" und "auf der anderen Seite" eines Lebens, das im Deutschland der 1950er Jahre vom Vergessen beherrscht wird. Dabei kommen die Opfer des Nationalsozialismus, die glauben, vergessen zu müssen, um überleben zu können, ebenso zu Wort wie die Täter, die mit der eigenen Schuld die Vergangenheit verleugnen, und die 'junge Generation', deren Zukunftsoptimismus sich auf einen radikalen Existenzialismus gründet, auf die Fiktion einer "tabula-rasa"-Situation, aus der sich mit den Mitteln der Kunst neu beginnen lasse: "Denn das musste nun doch mal geklärt werden: Wie sollte die neue Welt aussehen? Wie groß und allmächtig und gewaltig durfte die neue Schöpfung sein? Und wie zählte man die neue Zeit? Julianisch, jüdisch, gregorianisch, mohammedanisch? Begann man mit der Stunde Null, oder mit den Tagen der Schuld, oder zählte man nur den 24-Stunden-Tag, wie die Amerikaner, oder zählte nur noch die Kunst, und alles andere zählte nicht mehr?"

Der Euphorie des Neubeginns von Künstlern und jungen Intellektuellen entspricht in der so genannten breiten Bevölkerung der inbrünstige Wunsch nach einer 'Normalität', die sich am Bekannten orientiert und die in der Folge zu Kontinuität in allen Bereichen des öffentlichen und privaten Lebens führt. Illustriert wird die pseudo-unschuldige Rückkehr in die Vorkriegszeit durch zahlreiche Dingsymbole, kulturgeschichtlich relevante Zeugnisse deutscher Produkt- und Markenhistorie: "Vor dem Kinofilm schwebte auf der Leinwand in einem Werbefilm die Persildame durch Deutschland, ein überirdisches Wesen, eine gute Fee, die Göttin der Reinheit, die das ganze Land in ein strahlendes Weiß tauchte, in ein blendendes, ganz undurchschaubares Weiß."

Wenn Forte die Symbolik von Produkt und Image auch vielleicht ein wenig überstrapaziert, um "die Geburt der Schönheit aus der Schwärze einer vergangenen Zeit, hinein in die Gegenwart des Lichts" vorzuführen, so entbehren die Szenen, die er aus der Verbindung von Konkretion und Metaphorik entfaltet, doch nicht einer suggestiven Schlüssigkeit, in poetischer wie in politischer Hinsicht: Als während einer Unterhaltungsveranstaltung eine als "Persildame" hergerichtete junge Schauspielerin ihr Stichwort "Persil" ins Mikrofon haucht, springen die "schwarzgekleideten Männer [...] auf, jubelten, applaudierten, schrien mit weit offenen Mündern, die Persildame hauchte wieder 'Persil', die Männer stöhnten auf, ein einziger Brunftschrei, eine Figur und die Menge bereit zu empfangen. Es war der öffentliche Zeugungsakt der neuen deutschen Frau, schaumgeboren aus Persil, weiß, rein und unbefleckt [...], die Persildame [...] ging mit ihrem schneeweißen Kleid unter in der schwarzen Menge, und wie die mitternächtliche Blütenexplosion einer seltenen Pflanze erschien die Persildame im gleichen Moment auf allen Straßen der neuen Republik, auf den wiederaufgestellten Litfaßsäulen, auf den Normaluhren, die wieder die richtige Zeit anzeigten, auf den Plakatwänden, die die zerstörten Trümmergrundstücke verdeckten mit dem Weiß einer neuen Diva. Die Schönheit war wieder geboren und brachte allen das hygienische, alles säubernde, alles reinigende Waschmittel in der Qualität der Vorkriegszeit, eine strahlende Wiedergeburt."

"Schaumgeboren aus Persil" ist die 'neue deutsche Frau', Erlösungs Phantasma eines Volkes mit sprichwörtlichem Waschzwang und Körperekel. Die aseptische Aphrodite-Travestie ist auch die trivialisierte Wiederholung einer Geburt als Wiedergeburt: Sie liefert den mythologischen Überbau zur allenthalben stattfindenden Restauration, zu Restituierung und Wiederaufbau. Forte dekuvriert in der Karikatur, wie der Mythos zur symbolischen Reinwaschung instrumentalisiert wird und kommerzielle, sexuelle und politische Interessen befriedigt. Vermittelt über die Kontinuität einer Warenwelt, die nur äußerlich durch weltpolitische Ereignisse beeinträchtigt wurde, kann ein ganzes Volk zum eigenen Selbstbild zurückkehren, "in der Qualität der Vorkriegszeit". Forte verbindet das Ekstatische von Zeugung und Wiedergeburt mit dem Gleichmaß des Regelhaft-Zirkulären. Seine Darstellung zielt darauf, den bedrohlichen Subtext jenes Slogans zu aktualisieren, der so tief im kollektiven Bewusstsein verankert ist, dass er ihn nicht einmal zitieren muss: "Persil bleibt Persil".

Die Formel resümiert, was der Roman in unzähligen Szenen, Geschichten und Portraits vorführt: Die Rückkehr in eine Zeit, in der die "Normaluhren [...] wieder die richtige Zeit anzeigten" und sich endgültig erweist, dass die "Zeit, die alle die Stunde Null nannten, [...] daher nicht gezählt" worden war. Gleichwohl und gerade deswegen bezeichnet diese "nicht gezählte" Stunde den Moment, in dem der Protagonist zum Erzähler wird. Alle Geschichten kreisen um diesen Augenblick, in dem ein alter Mann seinem kranken Enkel die Welt vermacht, damit sein Schreiben über sie ihn und den Jungen überlebt. Überleben aber ist nur möglich in den mythischen Strukturen der Wiederholung. Der Roman rechtfertigt sie ästhetisch in der Form des Erzählstroms, der in der zirkulären Struktur des Romans nie zu enden scheint und die Simultaneität alles Erzählten simuliert. Moralisch sind Kontinuität und Vergessen nicht zu rechtfertigen - ihnen zu widerstehen bedeutet den Rückzug auf "die andere Seite der Welt". Dorthin nimmt Fortes Roman seinen Leser mit, im ruhigen und doch beständig fortschreitenden Tempo einer Erzählung, von der man lesend wünscht, dass sie nicht enden möge.


Titelbild

Dieter Forte: Auf der anderen Seite der Welt.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
342 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3100221168

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