Die anthropophage Spur (in) der Kultur
Christian Mosers "Kannibalische Katharsis"
Von Stefan Höltgen
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDer Kannibalismus ist als Gegenstand ethnologischer und anthropologischer Untersuchungen ein Dauerbrenner. Neben immer wieder neuen Veröffentlichungen zum Für und Wider der Existenz kannibalischer Völker drängt der Diskurs auch in alle Medien, Gattungen und Genres der Kulturproduktion. Die umfangreiche Aufsatzsammlung "Das Andere Essen" (2001) von Daniel Fulda und Walter Pape herausgegeben, kann als Signifikant für die Relevanz des Diskurses allein hierzulande herangezogen werden. Die Kulturwissenschaften zeigen am Phänomen Kannibalismus den besonderen Wert ihrer Multiperspektivität: Geschichtsschreibung, Ethnologie, Mediävistik, Literaturwissenschaft und Medientheorie weiden sich alle zugleich am Thema und zehren dabei voneinander. Einen perspektivischen Schritt hinter derlei Betrachtungen zurück geht der Bonner Komparatist Christian Moser in seiner jetzt im Aisthesis-Verlag erschienenen Monografie "Kannibalische Katharsis". Er vermutet "eine Komplizenschaft zwischen der primitivistischen Auffassung der Anthropophagie und einer spezifisch westlichen Spielart des Kannibalismus".
Der Kannibalismus wird von Moser nicht als rituelle Praxis (Menschenfresserei) untersucht, sondern auch als kulturelle(s) Symbol, als Strategie und Strukturmerkmal von Gesellschaften interpretiert. Damit hinterfragt der Autor nicht nur die rein am sichtbaren Phänomen ausgerichteten Interpretationen, sondern liefert zugleich eine Möglichkeit der Neubewertung jener oftmals postulierten kulturellen Differenz, mit der sich die westlichen Kulturen von den kannibalischen Kulturen abgegrenzt haben und sich immer noch abgrenzen. Alle Kulturen besitzen zwei Wesenszüge: einen anthropophagen (einverleibenden) und einen anthropemen (ausstoßenden). In dem Maße, wie Kulturen das Andere integrieren oder ausgrenzen, sind sie mehr dem einen oder mehr dem anderen zuzuordnen. Im Rahmen der von Moser betriebenen metaphorischen Umwertung des Kannibalismus weist er für die westlichen Kulturen jene beiden Charakterzüge nach und untersucht im Hauptteil des Buches sieben kulturelle "Belege", um seine These zu untermauern.
Für die Ethnologie nimmt er eine einflussreiche Studie der späten 1970er Jahre von William Ahrens mit dem Titel "The Man-Eating Myth" ins "Fadenkreuz". Die Frage, ob Kannibalismus als Praxis überhaupt existiere oder nur "als mythische Figur [...] auf das tiefe Bedürfnis der westlichen Welt, den Anderen zu exotisieren" zurückzuführen sei, ist ein in der Ethnologie permanent geführter Disput. Indem Ahrens die These der Nichtexistenz verfechtet, verleibt er die Anthropophagie seiner eigenen Kultur ein, ohne dies zu registrieren: Kannibalismus wird so zu einem kathartischen Akt für die Gesellschaft, "die sich zu ihren eigenen Begierden bekennt und sich eben dadurch von aller 'Schuld' und allem 'Schmutz' purgieren zu können glaubt." Diese Strategie der Reinigung durch Selbstbeschmutzung verfolgt Moser bis in die Reiseliteratur der Neuzeit und analysiert eine Kannibalismusbeschreibung des Kolonialisten Captain Cook, die dieser vor Neuseeland "inszeniert" hat, um damit seiner westlichen Vorstellungen des barbarischen Aktes der Menschenfresserei ein Bild zu geben.
Eine Gegenperspektive zur oberflächlichen Kritik Ahrens' und zur jede rituelle Bedeutung verneinenden Kannibalismus-Reduktion Cooks skizziert Moser durch den Kannibalen-Essay Michel de Montaignes ("Des cannibales") von 1580. Hier dient der "Kannibale als Medium der Selbsterkenntnis". Das Erkenntnissubjekt wird in der Konfrontation mit dem Anderen zu einem "Ethnograph seiner selbst", indem die kannibalistischen Züge der europäischen Kultur in der Begegnung mit dem anthropophagen Anderen offenbar werden. Joseph Conrad forciert in seiner Erzählung "Heart of Darkness" (1899) diesen Prozess der Selbsterkenntnis, indem sein fiktiver Afrika-Reisender Marlow in den Kontinent eindringt, anstatt ihn - wie Cook - nur zu umsegeln und dabei eine Reise in das Selbst der Eigenkultur unternimmt. An deren Ende steht die Gier nach Besitz und Wissen, die alles Andere verschlingt - sie wird an der Figur des Elfenbeinagenten Kurtz exemplifiziert.
Nachdem Moser die ersten zwei Drittel seines Bands für diese Gegenüberstellung beider Kannibalismus-Diskurse genutzt hat, geht er dazu über, mediale Kannibalismus-Inszenierungen in der Kultur des 20. Jahrhunderts zu hinterfragen. Hierzu dienen ihm Ruggero Deodatos Spielfilm "Cannibal Holocaust" (Italien 1979), Thomas Harris' Romane "The Silence of the Lambs" (1988) und "Hannibal" (1999) sowie Bret Easton Ellis' "American Psycho" (1991). An Deodatos hochgradig selbstreflexives und medienkritischen Werk stellt Moser die nur augenscheinlich naive/rhetorische Frage: "Ist der Westen jetzt endlich dazu bereit, den Kannibalen nicht bloß als den Anderen, sondern als Bestandteil seines eigenen Selbst zu bestimmen?" Dies scheint zunächst so, denn "Cannibal Holocaust" entlarvt durch seine verschachtelte Struktur und sein Thema (barbarische weiße Dokumentarfilmer dringen in den Amazonas ein und inszenieren dort Kannibalismus für ihre Kameras) den anthropophagen Charakter der westlichen Mediengesellschaft, deren Hunger nach Bildern analog dem Menschenfleischkonsum ist. Und dennoch findet sich auch bei Deodato die kathartische Form des Kannibalismus, die Ahrens' Untersuchungen charakterisiert, indem er die "Rache der Kannibalen" an den Weißen (ein Topos dieses Filmgenres, das 1981 sogar einen Beitrag dieses Titels unter der Regie Umberto Lenzis hervorgebracht hat) als gerechten Ausgleich darstellt. Die zivilisierten Kannibalen Hannibal Lector (aus Harris' Romanen) und Patrick Bateman (aus Ellis' "American Psycho") sind die abschließenden Untersuchungsgegenstände in Mosers Buch. Wo Harris den Kannibalismus als kulturellen Akt de-metaphorisiert und sich in dieselbe kathartische Perspektive wie Deodato einbringt, geht Ellis einen Schritt weiter (zurück in Richtung Montaigne) und führt den Kannibalismus seines Protagonisten, des Banker-Yuppies Patrick Bateman mit dem neoliberalen Lebensstil der westlichen Gesellschaften eng.
Mosers Buch verfolgt eine durchweg einleuchtende Argumentation. Seine aus dem Kanon der Kulturproduktion der Neuzeit ausgewählten Beispiele verdeutlichen seine dialektische Position gegenüber dem Kannibalismus als Metapher und fügen der kulturwissenschaftlichen Debatte äußerst originelle Positionen hinzu. Daher ist es auch schade, dass "Kannibalische Katharsis" nur 124 Seiten umfasst und ein so auffällig ungleiches Verhältnis zwischen dem ersten - man könnte ihn "historisch-methodischen" Teil nennen - und dem zweiten "Anwendungsteil" besteht. Der Film und die Bücher, die Moser zur Analyse heranzieht, sind natürlich vor allem wegen ihres hohen Grades an Diskursivität bestens geeignet, seine Thesen zu stützen. Sie wurden jedoch in der akademischen Film- und Literaturrezeption (die Moser kennt!) genau aus diesem Grund schon sehr oft untersucht. Hier hätte man sich das Abseitigere gewünscht und vielleicht ein paar Beispiele mehr. So erfüllt Mosers Buch den (notwendigen!) ersten Schritt einer Neubewertung der kulturellen Produktionen, die den Kannibalismus zum Thema haben. "Kannibalische Katharsis" ist nicht weniger als ein Prolegomenon, das weitere Gegendstandsanalysen nach sich ziehen muss.
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