Monument unentdeckten Wissens
Hans Jürgen von der Wenses "Briefe von Aas bis Zylinder" gehören zu den außergewöhnlichsten Hervorbringungen des Buchmarkts der letzten Jahre
Von Michael Lissek
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseSprecher 1:
Die Rede ist von einem Schinken im Schuber. Drei Bände, zwei davon sehr dick, so 750 Seiten jeweils, einer recht schmal. Schlägt man einen der zwei dicken Bände auf, findet man ziemlich viel eng gedruckten Text, der sich unter Stichwörter rubrifiziert: Bei Aal beginnen, bei Zylinder enden sie. Dazwischen solcherlei:
Sprecher 2:
Dattelzotteln, Doppeltextausgabe, Fieberkurve, Geräuschmotive, Luxuskraftzwagen, Nasenhaar, Raubmöwen, Wilddiebe, Zwerghirsche. - ziemlich komische Wörter also zumeist. Was sich da alphabetisch geordnet aufreiht, sind nicht Lexikonartikel oder praktische Lebenshilfe, es sind Briefe, geschrieben von Hans Jürgen von der Wense. Dass Briefe alphabetisch gereiht werden und nicht chronologisch oder nach Empfänger, ist ungewöhnlich. Ungewöhnlich ist aber auch dieser Mann, Hans Jürgen von der Wense.
Sprecher 1:
"Ich habe mich schon bislang mit Fleiß von allen Veröffentlichungen möglichst ferngehalten, denn -: Ich bin kein Schriftsteller, kein Literat, kein Dichter, kein Gelehrter, kein Musicus, vielmehr nichts als ein Mensch, d. h. ein Philosoph, ein Rebell! Meine Art ist gar zu seltsam und zu anarchistisch, als dass ich mich dürfte in eine Reihe stellen mit anderen anerkannten und ehrenwerten Schaffenden, die nicht wie ich die Verbindung mit dem bürgerlichen wie dem in der Überlieferung stehen-den geistigen Leben vollständig gelöst und für immer verloren haben. Auch ist mein sehr weites, schwerübersehbares Werk so in sich geschlossen, dass ich kaum ein Stückchen davon herauslösen könnte, ohne in Gefahr zu kommen, völlig missverstanden zu werden ...
Sprecher 2:
Geboren 1894 als einziger Spross einer verarmten Landadels-Familie, starb er 72-jährig in Göttingen - noch verarmter und völlig unbekannt. Denn Wense schrieb zwar sein Leben lang - aber veröffentlicht hat er nichts Wesentliches. Als Zwanzigjähriger ein paar stürmische Gedichte in der Expressionistenzeitschrift "Die Aktion", als knapp Fünfzigjähriger einige Fragmente in einer pädagogischen Zeitung. Und doch arbeitete Wense zeit seines Lebens an großen Werken: An einem so genannten "Wanderbuch", in dem er die Landschaft zwischen Göttingen, Paderborn und Eschwege auf 2000 Seiten beschreiben und zum Leuchten wollte; an einem sogenannten "All-Buch", das seine Nachdichtungen aus ingesamt 47 Sprachen umfassen und einen ähnlichen Umfang wie das "Wanderbuch" haben sollte; und an seinen Fragmenten, Sinnsprüchen, erhellenden kleinen Splittern mit Haiku-Qualitäten. - Keines der drei Bücher wurde fertig, geschweige denn publiziert.
Wense kam über die Anfänge, über die Vorbereitung seiner Bücher nicht hinaus. Einerseits verfranste er sich immer wieder in den Unmengen von Material, das er sammelte, andererseits waren Veröffentlichungen ab einem relativ frühen Zeitpunkt seines Lebens schlichtweg egal. Und so lagern im Wense-Archiv zehntausende von Seiten, die mit Fragmenten, Entwürfen, kleinen Skizzen beschrieben sind. Aber DAS WERK Hans Jürgen von der Wenses existiert nicht. Wense ging es nie um Erfolg oder darum, sich einen Namen zu machen, vielmehr darum, zu lesen, zu sammeln und zu schreiben, die Welt mit Wissen zu entflammen. Er wollte nicht "gebunden" sein und sein Schreiben nicht als "Produkt" verstehen müssen. Lieber trennte er seinen fiktionalen Büchern den Rücken auf und - schrieb Briefe, die er in alle Himmelrichtungen verschickte.
Sprecher 1:
Lieber und Lieber! Ihr Oster-Paket! Ein Menschen-Anruf in meine höhlentiefe Einsamkeit!! Seit Wochen bin ich überaus elend und weiß nun, dass, geht es so fort, meine Tage schnell gezählt sind. Ich arbeite mit allem Wahnsinn, mit der letzten Kraft eines Fliehenden. [...] Spätere und vielleicht nicht zu ferne Zeiten werden mit einem gewissen wohligen Grausen davon hören, was ein Mensch entbehren und ausstehen musste, um dieses zu schaffen. [...] Ich lebe von einigem Brod morgens und abends, mittags holt mir der Dieter einen Napf mit Suppe aus der Volksküche. [...] Und doch: Eine unbändige Heiterkeit ist in meinem Herzen, ich bin auf einem Gipfel, der freiste Mensch dieser Welt ... Wirklich: als stände ich auf einem Finisterre, auf einem letzten Felsen, den Stab der Anbetung in der Hand. Kein Reich der Erde, das ich nicht durchmaß ..."
Sprecher 2:
Wenn Wense nicht an den Entwürfen seiner Werke saß, in der Göttinger Bibliothek Kuriosa sammelte oder wanderte, dann schrieb er Briefe. Bis zu 30 Seiten pro Tag, am Ende seines Lebens waren es ca. 40.000 Seiten. In ihnen beschreibt er, wie sein Werk hätte aussehen können, wenn es ihm nicht so gleichgültig gewesen wäre. Ein prächtiges Werk wäre das gewesen; eines, das alle Zeitzonen, Raumbegrenzungen oder sprachlichen Barrieren überwände; ein unendliches, summarisches, maßloses Werk, ein Monument des unentdeckten Wissens, eine Pretiosensammlung, eine monströse Verausgabung von Energie. So sieht es aus, wenn wir den Briefen Wenses folgen. Das Werk, das nicht existiert, es findet in den Briefen statt. Die Briefe Wenses sind der Resonanzraum seines imaginären Werkes. Und wir können sie lesen und in der Fantasie teilhaben an seiner Fertigstellung. Und wieviel Spaß es macht, diese Briefe zu lesen. Prächtige Landschaftsbeschreibungen in barockem Wortgefunkel wechseln sich ab mit wortgewaltigen Charakterisierungen von Nachdichtungen der "Gesänge der Südsee" oder der "Kapitänsgesänge der Karolinen". Wenses Werk erscheint so unglaublich, wie es wahr ist, dass er daran arbeitete. Die Irritation, die Wense als Person und Autor auslöst, haben die Herausgeber dieser Briefausgabe, Valeska Bertoncini und Reiner Niehoff, nicht zu tilgen versucht. Wense versuchte, als seine Werke ihm aus dem Ruder zu laufen begannen, sein Material alphabetisch zu ordnen, nach zufälligen Stichwörtern - was misslang. Dieses Verfahren greifen die Herausgeber auf: Über jedem Brief Wenses steht ein irritierendes Stichwort, das dem Text des nachfolgenden Briefs entnommen ist. So entsteht eine Ordnung, die sich - kaum etabliert - durch Absurdität verunordnet. Das Gestrüpp der Werksentwürfe, Verwerfungen und Briefe Wenses findet auf diese mutige Art seine Entsprechung. Verweispfeile machen die unordentliche Ordnung komplett. Das erste Stichwort lautet "Aal", ist mit einem Pfeil versehen und verweist auf das Stichwort" "Finanzamt". Heißt: Schon der erste gewünschte Text ist abwesend und bloß woanders zu finden. Ein Prinzip des Wense'schen Werks, das Reiner Niehoff im dritten, schmalen Band eloquent erläutert. 1.700 Seiten hat diese Ausgabe, und man wird sie wohl kaum in einem Rutsch durchlesen. Aber als freudige Fundgrube des Skurillen und zum Augenreiben über solch unbekannte Pracht und Verschwendung ist sie das ideale Frühlingsbuch. Und wie schreibt Wense: "Es ist alles zu viel. Aber das ist Leben allein!"
Anmerkung der Redaktion: Der Text wurde auf WDR 3 unter der Redaktion von Adrian Winkler am 15. April 2005 erstgesendet. Wir danken dem Autor für die Publikationsgenehmigung. Von Michael Lissek ist erschienen: "Lass uns immer aufbrechen und nie ankommen." Zu Werk und Leben Hans Jürgen von der Wenses (1894-1966). Revonnah Verlag 2003.
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