Wirklich radikale Frauen
Susanne Kinnebrocks ausgezeichnete Biographie zeigt Anita Augspurg als Feministin und Pazifistin zwischen Journalismus und Politik
Von Rolf Löchel
Besprochene Bücher / Literaturhinweise"Anleitung zur Blumenmalerei in Öl, Aquarell und Deckfarben", "Gesegnete Malzeit. Praktische und billige Kochanleitungen" oder "Pflege deine Blumen. Kleine Zimmergärtnerei". Wer würde bei solchen Buchtiteln an Frauenrechte oder die Anfänge der Frauenbewegung denken? Dabei wurden sie zwischen 1890 und 1892 von einer der prominentesten Exponentinnen der historischen Frauenbewegung um 1900 verfasst. Die heute verloren gegangenen Bücher dürften sich jedoch kaum mit feministischen Anliegen befasst haben. Ganz anders allerdings schon das nur ein Jahr später erschienene Büchlein "Die ethische Seite der Frauenfrage". Wer sich näher mit der Autorin dieser vier Werke befassen wollte, war bislang auf ein zwar fundiertes aber schmales Bändchen aus der Reihe der rororo-Monografien oder auf eine eher journalistische Doppelbiografie von Anita Dünnebier und Ursula Scheu verwiesen (zu Letzterer vgl. literaturkritik.de 05/2002).
Nun aber hat Susanne Kinnebrock eine nicht weniger als 680 Seiten umfassende und in vielerlei Hinsicht vorbildliche Arbeit zu Leben und Werk Anita Augspurgs (von ihr ist hier nämlich die Rede) vorgelegt, die nicht nur durch ihren wohl durchdachten, stringent gegliederten und konsequent durchgeführten Aufbau besticht, sondern auch keine noch so randständige Behauptung oder Vermutung aufstellt, ohne sie zu belegen oder zu begründen. Zwar mag sich das Buch von Dünnebier und Scheu eines gefälligeren Stils bedienen und unterhaltsamer sein, doch Kinnebrocks Biografie ist von einer wissenschaftlichen Akribie, die sie verlässlicher, informativer und interessanter macht. Zudem zeichnet sie sich durch eine vorzügliche Quellenauswertung bei stets quellenkritischer Haltung aus, nicht nur, aber auch und gerade gegenüber den Memoiren von Augspurgs langjähriger Lebensgefährtin Lida Gustava Heymann.
Schon nach der Einleitung ist man für das Buch eingenommen, umreist die Autorin hier doch auf gerade mal acht Seiten ihre Zielsetzung, stellt ihren kommunikationstheoretischen Ansatz vor und legt dessen Vorzüge gegenüber anderen dar, macht den Aufbau der Arbeit transparent und informiert umfassend über die Literatur- und Quellenlage.
Kinnebrocks "erste[s] und zentrale[s] Anliegen" ist, Augspurgs politisches und journalistisches Wirken sowie dessen zeitgenössische Resonanz darzustellen. Darüber hinaus werden die von Augsburg redigierten Bewegungs-Zeitschriften "Parlamentarische Angelegenheiten und Gesetzgebung", "Zeitschrift für Frauen-Stimmrecht", "Frauenstimmrecht!" und "Die Frauen im Staat" dargestellt und mit "konkurrierenden Frauenzeitschriften" verglichen. Einhergehend damit wird die Geschichte - nicht nur - des radikalen Flügels der bürgerlichen Frauenbewegung rekonstruiert und fast en passant der seinerzeitigen "Einstieg" von Frauen in den Berufsstand des Journalisten "etwas transparenter" gemacht. Entsprechend dem kommunikationshistorischen Ansatz stehen im Mittelpunkt der Untersuchung allerdings Augspurgs publizistisches Werk sowie ihre Versuche, "öffentlich mit anderen in Beziehung zu treten, und in wie weit das gelang".
Die Quellenlage für Kinnebrocks Vorhaben ist nicht eben einfach, da zahlreiche Aktivistinnen der radikalen Frauenbewegung, die im Unterschied zu den Anhängerinnen des bürgerlichen Flügels zugleich Pazifistinnen und als solche während der Hitler-Diktatur vom Naziterror bedroht waren, die von ihnen aufbewahrten Unterlagen der Frauenbewegung ebenso wie ihre Korrespondenzen, in denen sich Politisches und Privates oft nicht scheiden ließ, nach 1933 vernichteten, damit sie nicht den Nazis in die Hände fielen. Auch hat keines der Archive der radikalen Frauenbewegung die nationalsozialistische Gewaltherrschaft überstanden. So wurde etwa das umfangreiche "Frauenarchiv" von Augspurg und Heymann unmittelbar nach der Machtübernahme beschlagnahmt und ist seither verschollen.
Im wesentlichen folgt Kinnebrocks Arbeit einer chronologischen Gliederung, wobei die einzelnen Kapitel den "zentralen Lebens- und Schaffensphasen Anita Augspurgs" entsprechen. Jedes dieser acht Kapitel setzt sich aus vier Teilen zusammen, deren erster die jeweiligen historischen Rahmenbedingungen beleuchtet. Sodann wird Augspurgs biografische Entwicklung im behandelten Zeitraum nachgezeichnet. Mit Augspurgs politischer und publizistischer Tätigkeit folgt sodann der Schwerpunkt eines jeden Kapitels, bevor es durch ein Resümee beschlossen wird.
Mit den eingangs genannten Titeln war Augspurgs Buchproduktion auch schon nahezu erschöpft. Ebenfalls zu Beginn der 1890er Jahre erschien unter dem Titel "Wie kleide ich mich" eine "[p]raktische Anleitung zur gesundheitsmäßigen und geschmackvollen Kleidung für jedermann" und 1898 schließlich eine Untersuchung "[ü]ber die Entstehung und Praxis der Volksvertretung in England". Publizierte Augspurg die leicht überschaubare Zahl ihrer eigenständigen Veröffentlichung sämtlich im letzten Dezennium des 19. Jahrhunderts, so schrieb sie über etliche Jahrzehnte hinweg um so eifriger für diverse Zeitschriften nicht nur der Frauenbewegung. Auch in liberalen Blättern wie dem "Berliner Tageblatt", der "Frankfurter Zeitung" oder der "Vossischen Zeitung" waren ihre Artikel zu finden. "Die Frau", das Publikationsorgan Helene Langes, der Führerin des gemäßigten Flügels der bürgerlichen Frauenbewegung, blieb ihr hingegen verschlossen.
Dabei nahm Augspurgs feministisches Engagement seit den beginnenden 1890er Jahren ein - wie Kinnebrock schreibt - "beträchtliches Ausmaß" an. Wenngleich sich einige ihrer Standpunkte im Laufe dieses Jahrzehnts - wie auch in den 1910er und 1920er Jahren wieder - wandelten, so kristallisierte sich ihr "Arbeitsschwerpunkt" für die folgenden anderthalb Dezennien doch schon heraus: der Kampf für die Rechtsgleichheit der Geschlechter (insbesondere in der von Augspurg selbst initiierten Frauenstimmrechtsbewegung) und gegen die "doppelte[n] moralische[n] Standards" für Mann und Frau. Außerdem galt ihr besonderes Engagement der "Öffnung aller Bildungsstätten" für Frauen. Denn Augspurg wollte in ihrer ersten Schaffensphase die seinerzeit propagierte "völlige Andersartigkeit der Frau" ebenso wenig hinnehmen, wie die mit diesem Postulat begründete "Andersbehandlung". Um 1900 zählte Augspurg zu den wenigen Feministinnen, welche die Ursache für vermeintliche "Wesensunterschiede" zwischen den Geschlechtern in der geschlechterspezifischen Erziehung und Sozialisation ausmachten. Nicht zuletzt darum wandte sie sich gegen die separatistische Ideologie einer autonomen Frauenbewegung, die es prinzipiell ablehnte, mit Männern zusammenzuarbeiten.
Zwischen Augspurg und Heymann hatte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Art Arbeitsteilung entwickelt. Während sich ihre Lebensgefährtin auf den Kampf gegen die "reglementierte Prostitution" konzentrierte, wandte sich Augspurg dem Eherecht und der Geschlechterjustiz zu und polemisierte gegen das im Jahre 1900 verabschiedete Bürgerliche Gesetzbuch (BGB): "Wahrung des Männerinteresses war der Vater solcher juristischen Missgeburt". Da das im BGB festgeschriebene Eherecht keine "sittlich hochstehende Verbindung" von Mann und Frau erlaube, sondern nur ein "unsittliches Unterdrückungsverhältnis", propagierte Augspurg den Ehe-Boykott. Eine Forderung, mit der sie allerdings auch innerhalb der radikalen Frauenbewegung auf wenig Resonanz stieß. Wenngleich ihre Haltung zur Ehe und zur Sexualität gewisse Berührungspunkte mit Stöckers "Neuer Ethik" (vgl. hierzu literaturkritik.de 05/2004) aufweist.
Neben dem Eherecht im BGB galt ihre Kritik insbesondere einer Geschlechterjustiz, die Vergewaltigung als ein Kavaliersdelikt behandelte, das meist in einen Freispruch mündete, sofern es denn überhaupt zur Anklage gelangte, während sie unverheiratete Kindsmörderinnen oft mit dem Tode bestrafte. Vehement plädierte Augspurg dafür, das Frauen als Geschworene und zum Richteramt zugelassen werden. Nur dies könne Abhilfe schaffen und zu gerechteren Urteilen führen.
Bedenklich ist die von Augspurg 1911 in ihrer - wie Kinnebrock zu Recht bemerkt - "sozialdarwinistisch geprägten" Schrift "Reformgedanken zur sexuellen Moral" entwickelte und auch noch in der Zeit der Weimarer Republik propagierte "naturgebotene Sexualethik", derzufolge Frauen nicht wahllos promiskuitiv sein sollten, sondern sich von einem vermeintlichen "Rasseinstinkt" zu Männern mit "wertvollen" Erbanlagen führen lassen sollten, wie dies auch im Tierreich geschehe. Anders als noch in den Jahren um 1900 glaubt sie nun und insbesondere nach der Erfahrung des Ersten Weltkriegs an eine grundsätzliche Wesensverschiedenheit zwischen Mann und Frau, wechselt also - um in heutiger Terminologie zu reden - vom Gleichheits- zum Differenzfeminismus. "Die Gewaltherrschaft des Mannes" schrieb sie 1920, habe "das Elend der Welt erzeugt", sie sei "unfruchtbar", "tötend" und "verneinend wie Ariman und Luzifer". Hingegen sei "das Wesen der Frau" "fruchtbar", "schöpferisch", "bejahend wie Ormuzd" und werde "die Welt erlösen".
Auch auf dem Arbeitsgebiet Heymanns, dem Kampf gegen die reglementierte Prostitution, unterlief ihr eine grobe Fehleinschätzung. Hielt sie doch die Zuhälter für den "einzige[n] Schutz und Rückhalt, welchen Prostituierte gegen Misshandlung und Ausbeutung ihrer Contrahenten [der Freier] allenfalls hatten". "Die Problematik der Zuhälterei", kommentiert Kinnebrock trocken, "hatte Augspurg hier sicherlich verkannt".
Im Unterschied zu gemäßigten Feministinnen wie Gertrud Bäumer oder der vom radikalen Flügel zum sozialistischen Flügel der Frauenbewegung gewechselten Lilly Braun, die den Ersten Weltkrieg enthusiastisch begrüßten, war Augspurg, die jedem Nationalismus abhold war, während der Kriegshandlungen in der internationalen Frauenfriedensbewegung aktiv und spielte gemeinsam mit Heymann eine "zentrale Rolle" im internationalen "Netzwerk der Pazifistinnen". Hier blieb sie auch in den 1920er Jahren tätig, wenn auch mit ungleich geringerem Engagement.
Nachdem Augspurg in den Revolutionsjahren 1918 und 1919 für das Rätesystem eingetreten war, stellte sie sich in den zwanziger Jahren überraschenderweise hinter die Reichsverfassung der Weimarer Republik. Die Frauenbewegung sei "erledigt", verkündete sie, "ihr Abschluß besiegelt durch die deutsche Reichsverfassung". Dennoch blieb sie weiterhin politisch tätig - soweit es ihr zunehmend angegriffener Gesundheitszustand erlaubte. Kinnebrock nennt für die Zeit der Weimarer Republik drei Arbeitsschwerpunkte Augspurgs: Als Grand Dame der internationalen Frauenfriedensbewegung trat sie für die Aussöhnung zwischen den ehemaligen Kriegsgegner ein. Zugleich entwarf sie unter Rückgriff auf ihr Modell der die Welt erlösenden Frau eine "feministisch-pazifistische Utopie". Außerdem publizierte sie politische Kritiken zur Verfassungs- und Rechtswirklichkeit sowie zur Politik der Weimarer Republik.
Augspurg und Heymann, die sich am Tage der Machtergreifung Hitlers auf Mallorca befanden, reisten in kluger Voraussicht des Kommenden nicht mehr nach Deutschland zurück. Bereits 1934 erkannte Augspurg, dass der Faschismus "gleichbedeutend" mit Krieg ist. Bald darauf kehrte sie in einer, wie Kinnebrock schreibt, "bemerkenswerte[n] Wandlung" dem von ihr bisher propagierten "Radikalpazifismus" den Rücken. Frieden, so schrieb Augspurg nun, könne nur zwischen freien Völker erhalten bleibe, denn "Friede ohne Freiheit" sei "Schwindel". Als Heymann im dritten Kriegsjahr erklärte, Faschismus und Nationalsozialismus seien "nur durch Mittel zu vernichten, die den Gewaltmenschen des Faschismus und Nationalsozialisten imponieren", und das sei "nur die Gewalt", war Augspurg - bei der sich seit Mitte der 30er Jahre eine "schleichende Altersdemenz" bemerkbar machte - nicht mehr in der Lage, selbst Stellung zu beziehen. Doch darf man davon ausgehen, dass sie die Auffassung ihrer Lebensgefährtin geteilt hätte.
Ihre letzten Jahre verbrachte Augspurg "geprägt von Frustration und Resignation" im Schweizer Exil, ohne weiterhin politisch oder journalistisch tätig sein zu können. Ende 1943 starb Augspurg, wenige Monate nach dem Tod Heymanns.
Mehr als 60 Jahre später hat Kinnebrock nun eine Biografie vorgelegt, die nicht nur Augspurgs Stärken und Schwächen gerecht wird, sondern darüber hinaus zweifellos ein Meilenstein in der Forschung zum radikalen Flügel der bürgerlichen Frauenbewegung um und nach 1900 darstellt. Was Leben und Werk Augspurgs betrifft, dürfte Kinnebrock gar ein Standardwerk vorgelegt haben, von dem jetzt schon gesagt werden kann, dass es auf absehbare Zeit unübertroffen bleiben wird.