Wundersüchtige Herzen
Mela Hartwigs Novellen und Erzählungen
Von Rolf Löchel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEine junge, hochschwangere Frau wird in die Flammen eines Scheiterhaufens getrieben, in dem sie ein Kind gebiert, während das Feuer bereits ihr Haar erfasst. Einer anderen spritzt das Blut ihres soeben hingerichteten Geliebten ins Gesicht, dessen Kind sie vor dem Richtblock des Scharfrichters sterbend gebiert. Von Nabelschnur und Unterröcken halb erstickt, wird es gemeinsam mit den toten Eltern auf einen Karren zum Abtransport geworfen.
Wer glaubt, Geschichten, die so grausig beginnen, könnten das mit solchen Anfängen vorgegebene Niveau des Schreckens schwerlich halten, lese Mela Hartwig. Die Novellen und Erzählungen der österreichischen Autorin liegen nun erstmals in einem Band gesammelt vor. Werke von seltener Intensität und verstörender Radikalität. Sicher, viel zu oft wird in Rezensionen mit solch überschäumenden Elogen herumgefuchtelt. Hier aber sind sie einmal angebracht.
Vier der Erzählungen entstammen dem 1928 erschienen Erzählband "Ekstasen": "Der phantastische Paragraph", "Aufzeichnungen einer Hässlichen", "Die Hexe" und "Das Verbrechen", deren Titel für den vorliegenden Band übernommen wurde. Hinzu kommen die zwischen 1928 und 1960 an verschiedenen Orten publizierten Kurzgeschichten "Das Kind", "Der Meineid, "Das Wunder von Ulm", "Georgslegende" sowie die bislang unveröffentlichte Erzählung "Die Kündigung" aus dem Nachlass der 1967 verstorbenen Autorin.
Zweifellos handelt es sich bei den Erzählungen aus dem "Ekstasen"-Band, dessen Titel kaum treffender hätte gewählt werden können, um die bedeutendsten. Auch wenn man kein Verfechter der Theorie einer spezifisch weiblichen Ästhetik ist, kann man doch daran zweifeln, ob ein Mann diese Texte hätte schreiben und ihre mal verzückten, meist hysterischen, immer aber ekstatischen Protagonistinnen erfinden können. Sabine Seltsam etwa, eine an "wundersüchtige[m] Herzen" leidende Frau, die sich nach einer solitär aber exstatisch verbrachten Vollmonatnacht schwanger fühlt und sich in Gestalt von Gesetzesvertretern bald mit der "gnadenlose[n] Wirklichkeit, die keine Wunder duldet" konfrontiert sieht. Schnell findet sie sich, ähnlich unschuldig wie die Figuren Kafkas, vor dem Gesetz wieder, wo sie erkennen muss, "daß in diesem Totentanz der Gerechtigkeit die Unschuld unwesentlich ist". Dabei ist Hartwig alles andere als eine Epigonin des Prager Autors. Nicht nur, da in ihren Werken psychoanalytisches Wissen weit stärker hervortritt, das sie mit geradezu aphoristisch verdichteter Sozialkritik zu verbinden versteht ("Elend ist Gesinnung", "Verbrechen ist Notwehr!", "Der Mutterschaftszwang ist die Wehrpflicht der Frau".). Entscheidend für Hartwigs Originalität ist die dezidiert weibliche Perspektive und die Figurendarstellung ihrer Protagonistinnen. Dabei zögert sie nicht, das Groschenromanklischee der in den Stationsarzt verliebten Krankenschwester aufzugreifen, um es als Liebeswahn einer Hässlichen über sich selbst hinauszutreiben, wobei sie auch diesmal auf aphoristische Formulierungen nicht verzichtet: "Das Leben ist furchtbar, aber der Tod ist grauenhaft."
Die Titelerzählung "Das Verbrechen" beschreibt eine seinerzeit zweifellos tabubrechende und auch für heutige Lesende nur schwer erträgliche sadomasochistische Beziehung zwischen einem Vater und seiner minderjährigen Tochter. Auch diese Erzählung mutet mitunter kafkaesk an, insbesondere die Dialoge zwischen Agnes und ihrem Vater, einem Psychiater, der vorgibt, seine Tochter zu behandeln, sich jedoch tatsächlich daran weidet, sie zum leidenden Objekt seiner Experimente zu machen. Ähnlich wie später Ingeborg Bachmanns Figur Franza auf demjenigen Jordans, fühlt Agnes sich auf dem "Seziertisch" ihres Vaters liegen. Dass es "in [s]einer Theorie nicht vorgesehen [ist], ob das Objekt der seelischen Erkrankung auch der Arzt sein kann, der sie heilt", versteht sich von selbst.
Die acht Jahre nach der Erzählsammlung "Ekstasen" im Pariser Emigrantenverlag Editions de Phénix erschienene Erzählung "Das Wunder von Ulm" verfasste Hartwig eigener Aussage zufolge als "Streitschrift" gegen den Nationalsozialismus. In ihr literarisiert sie die Judenpogrome des Mittelalters anhand des Schicksals der in einen Christen verliebten Tochter eines jüdischen Wucherers. Dass die 1938 wegen des Einmarschs der Nationalsozialisten aus Österreich nach London emigrierte Autorin allerdings, wie jüngst von Hannelore Schlaffer in "EMMA" behauptet wurde, eine Tochter Theodor Herzls, dem Autor des "Judenstaats", ist, trifft nicht zu. Tatsächlich wurde sie 1893 als Tochter des Schriftstellers und Soziologen Theodor Hartwig geboren. Zwar heiratete sie 1921 den Rechtsanwalt Dr. Robert Spira, für ihre Veröffentlichungen behielt sie jedoch ihren Mädchennamen bei.
Dem Wiener Literaturverlag Droschl kommt das Verdienst zu, nach den Romanen "Das Weib ist ein nichts" (1929/2001) und "Bin ich ein überflüssiger Mensch" (2002) nun auch Hartwigs Erzählungen erstmals beziehungsweise neu aufgelegt zu haben, und hierfür ist ihm zu danken. Doch Hartwigs Nachlassromane "Der verlorene Traum" (1943/44) und "Inferno" harren immer noch (1946/48) der Veröffentlichung ...
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