Brillantes Porträt eines streitbaren Gegenwartsautors

Jörg Magenaus Martin Walser-Biografie

Von Ulrich KrellnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Krellner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Wichtig ist das liebende Einverständnis mit seinen Gestalten. Das prägt Walsers Schreiben wie sonst nichts. Ohne dieses Grundgefühl wäre es ihm unmöglich, sich jahrelang mit ihnen zu befassen." Man tritt dem Walser-Biografen Magenau wahrscheinlich nicht zu nahe, wenn man dieses Urteil auch als eine Auskunft über sein eigenes Verhältnis zum Gegenstand der Untersuchung begreift. Anlässlich der Buchvorstellung in der Berliner Akademie der Künste sprach Magenau von einer "tragfähigen Sympathie" als Grundvoraussetzung für jede fruchtbare Auseinandersetzung mit einem Schriftstellerleben. Im Falle seiner Christa Wolf-Biografie (2002) hatte sich diese empathische Annäherungsstrategie als Arbeitsgrundlage bestens bewährt. Nach der Erkundung einer Repräsentationsfigur der ostdeutschen Nachkriegsliteratur folgt nun also die vertiefte Beschäftigung mit Leben und Werk eines ihrer prominentesten westdeutschen Kollegen. Und wiederum bekommt der Leser mehr geboten als lediglich die Nachzeichnung der Laufbahn eines Schriftstellers. Denn das Buch dokumentiert nicht nur Walsers Werdegang als Autor und seine vielfältigen Kontakte zu Schriftsteller-Kollegen, Verlegern und Personen des öffentlichen Lebens. Es bringt vielmehr - fast nebenher - das Kunststück zuwege, eine "faszinierende Kulturgeschichte der Bundesrepublik" (Klappentext) zu erzählen.

Ihren Fokus verliert die - vorzüglich geschriebene - Darstellung dabei aber nie aus dem Auge. Ausgehend von Walsers Herkunft aus dem kleinstädtisch-katholischen Milieu der Bodenseegemeinden Wasserburg und Nußdorf entwirft Magenau ein kenntnis- und nuancenreiches Porträt eines ungemein produktiven und umtriebigen Schriftstellers, der in den letzten Jahren allerdings stärker im Zerrspiegel von Skandalen wahrgenommen wurde als durch eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Werk. Dieses medial vergröberte Bild zu korrigieren, gehört zu den erklärten Vorsätzen des Verfassers. Dem Kardinalfehler vieler Biografen, die Leben und Werk als spiegelbildliche Gegenstücke behandeln, ist Magenau sehr souverän ausgewichen. Er gestaltet die Untersuchung so, dass "literarische und politische Entwicklungslinien" und keine banalen "Entsprechungen zwischen Literatur und Wirklichkeit" hervortreten; ein Verfahren, das sich bewährt, wenn es etwa gilt, die Disposition schon des jungen Walser zum Schriftstellerberuf herauszuarbeiten. Las der doch bereits als Schüler Dostojewski, Nietzsche, Goethe, Schiller und Hölderlin und trat dann auf seiner Abiturfeier mit einem "120 Strophen" (oder vielleicht doch eher: Verse) langen Gedicht hervor, das die versammelte Lehrerschaft öffentlich verspottete - ein skandalträchtiger Auftritt, der als frühes Urbild so mancher Walser'scher Provokationen späterer Jahre gelten könnte, bis hin zur Frankfurter Friedenspreisrede.

Wie Walser dann als Student eine 600 Seiten lange indogermanische Grammatik abschreibt, in Regensburg die Kommilitonin Ruth Klüger kennen lernt und schließlich in Tübingen bei Friedrich Beißner über Kafka promoviert, wird in Magenaus Buch eher knapp abgehandelt: Walser hielt es nicht lange im akademischen Umfeld, sondern es zog ihn - auch unter dem Druck der Währungsreform - in die Erwerbstätigkeit. Im Zuge seiner Arbeit als Redakteur beim Süddeutschen Rundfunk hat er bald auch Kontakt zur Gruppe 47 bekommen, zu deren festem Kern er ab Mitte der 50er Jahre gehörte. Damit setzt die literarische Biographie Walsers ein, die Magenau in genau kalkuliertem Wechselspiel von Lebens- und Werkbeschreibung in Szene setzt. Ausgehend von den Erzählungen der 50er, über die gesellschaftskritischen Theaterstücke und Kristlein-Romane der 60er und 70er Jahre, die Horn- und Zürn-Bücher des Vorwende-Dezenniums bis hin zu den um die Themen der Erinnerungskultur und nationalen Identität kreisenden Romanen des letzten Jahrzehnts entsteht das Bild eines Autors, der in immer neuen Anläufen seiner Zeit den Puls gefühlt hat, obwohl er, "sehr zu seinem Leidwesen", dabei kein eigentliches "Hauptwerk" geschaffen hat.

Ausführlich widmet sich Magenau auch dem 'politischen Walser', dessen Stellungnahmen seit der Friedenspreisrede von 1998 ins Kreuzfeuer der Kritik geraten sind. Der historisch vergleichende Blick des Biografen kann darüber aufklären, dass es sich bei dieser Politisierung um keinen wirklich neuen Zug handelt. Ob Walser bereits 1957 (gegen massive Proteste) die Oder-Neiße-Grenze anerkennt, später als Eröffnungsredner einer Münchner Vietnam-Ausstellung auftritt (1966) oder aber als Mitstreiter im Kulturpolitischen Forum der DKP in Nürnberg agiert (1971): Immer wieder hat er seine Stimme für gesellschafts- und kulturpolitische Projekte in die Waagschale öffentlicher Debatten geworfen. Die bemerkenswerte Differenz besteht allerdings darin, dass dieses Engagement bis Ende der 70er Jahre als sozialaktivistisch galt und Walser dementsprechend politisch links eingeordnet wurde, während er seither als Propagandist eines "Geschichtsgefühls" gilt, das eher einer national-konservativen Rechten als einem kritischen Gegenwartsautor zugestanden wird.

Die Motive für diesen Umschlag, der nicht allein auf die vergröbernde Medienwahrnehmung zurückgeführt werden kann, diskutiert Magenau im Zusammenhang mit einem Autor, der aus Walsers Leben und intellektueller Biografie nicht wegzudenken ist und bei näherem Hinsehen zum geheimen 'zweiten Protagonisten' des vorliegenden Buches wird: Uwe Johnson. Nach einer beiderseits intensiv erlebten Phase des Kennenlernens erwies sich der 1959 aus der DDR in die Bundesrepublik 'umgezogene' Johnson bald als ebenso reizbar und verletzungsbereit wie sein Kollege vom Bodensee. Das Scheitern der Ende der 70er Jahre nur noch von Konkurrenzkämpfen geprägten Beziehung kann als das menschlich vielleicht abgründigste Kapitel in Walsers Leben gelten, das an Spannungsverhältnissen ohnehin nicht eben arm erscheint. Aber auch literarisch ist Johnson, von dem Walser "alles gelesen hatte" und mit dem er eine umfangreiche (und von Magenau erstmals ausgewertete) Korrespondenz unterhält, eine zentrale Bezugsperson. Waren doch nicht weniger als drei Romane nötig, um alle Irritationen abzuarbeiten, zu denen die Beziehung im Lauf der Jahre Anlass gegeben hat. Magenau deutet an, dass besonders der als 'Abrechnungsorgie' konzipierte und in seiner Fiktionsüberschreitung auch heute noch atemverschlagende "Brief an Lord Liszt" (1982) als Medium einer Distanzierung dient, die schließlich die Voraussetzung für Walsers gewandeltes Deutschland- und Geschichtsbewusstsein bildet: "Ist es nur ein Zufall, daß Walsers gesamtdeutsches Empfinden von nun an vernehmbar wurde, als hätte er sich dazu erst vom 'Dichter der beiden Deutschland' lossagen müssen, der dieses Thema in viel stärkerem Maße für sich reklamiert hatte?"

Fragt man nach der Bilanz der vorliegenden Studie, so treten vor allem Walsers Essays als eine Art literarisches Vermächtnis hervor. Während der umstrittene - von Magenau aber gegen den Vorwurf des Antisemitismus verteidigte - Roman "Tod eines Kritikers" ästhetisch nicht viel mehr als ein "grell gezeichnetes, burleskes Literaturbetriebskasperletheater" zu bieten hat, gelten ihm der Essayband "Meßmers Reisen" und die (bereits bei Rowohlt erschienene) Aufsatzsammlung "Die Verwaltung des Nichts" als Versuche, "sich einem idealen Schreiben anzunähern [...]: eine Sprache, die nichts ist als Sprache, weil sie nichts transportieren muß". Von einer solchen Essaykunst profitiert auch der vorerst letzte Roman "Der Augenblick der Liebe", in dem der (zum Urgestein Walserscher Figuren gehörende) Protagonist Gottlieb Zürn Raum für einen knapp zwanzigseitigen Vortrag über den französischen Arzt und Philosophen La Mettrie erhält und sich dafür dessen Grundsätze zu eigen macht: "Empfindung und Wahrnehmung sind die Quelle allen Urteilens. Genuß wird zur Denkbedingung, Lust zur Seinserfahrung, das Denken zu einem offenen Abenteuer ohne normative Vorgaben."

Abschließend soll noch auf die philologische Genauigkeit hingewiesen werden, mit der Magenau nicht nur Walsers Texte auswertet, sondern auch die Forschung weiter vorantreibt - etwa wenn er die Mangelerfahrung als eine der Grundkonstanten Walser'schen Schreibens herausarbeitet oder auch banale Datierungsfehler in der zwölfbändigen Werkausgabe berichtigt. Auch wenn ihm dabei selbst kleine Ungenauigkeiten unterlaufen - ein Foto, das die "Suhrkamp-Allstars" auf Max Frischs 70. Geburtstag 1981 zeigt, wird auf das Jahr 1983 datiert -, schmälert das die Leistung dieser beeindruckenden Biografie nur unwesentlich. Entstanden ist eine unerhört dichte und bei aller Detailkenntnis erfrischend lesbare Darstellung, die als "angewandte Lebensphilologie" auftritt und durch eine nie unkritische, aber immer loyale Haltung zu ihrem Helden überzeugt, denn - so Magenau - "man muß lieben, worüber man schreibt".

Titelbild

Jörg Magenau: Martin Walser. Eine Biographie.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2005.
622 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3498044974

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