Welt in Ruinen

Martin Stritt durchwandert in seiner wunderbaren Studie ein panoramatisches Gemälde Marten van Heemskercks

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1536 stellte der niederländische Maler Marten van Heemskerck in Rom ein monumentales Landschaftsbild von fast vier Metern Breite fertig, das den Kunsthistorikern bis heute Rätsel aufgibt. Martin Stritt widmet sich in seiner im Stroemfeld Verlag erschienenen Dissertation der geduldigen Kontemplation dieses heute in Baltimore/USA hängenden Gemäldes.

Stritts "Überlegungen" zu Heemskercks "Schöner Helena in den Romruinen", wie das Panorama seit dem letzten Jahrhundert genannt wird, sind ein editorisches Meisterstück. Andächtig entnimmt der Leser die beiden Bände dem hellblauen Schuber: Der erste enthält Stritts mit nur 130 Seiten Text begrüßenswert knapp gehaltene Untersuchung. Der zweite versammelt die erlesenen (Detail-)Abbildungen, die man im Lauf der Lektüre mit wachsender Wissbegier zu Rate zieht.

Was genau Heemskercks Bild darstellen soll, war seit Jahrhunderten umstritten. Mal glaubte man, hier seien "Die Sieben Wunder der Alten Welt" wiedergegeben, mal nannte man es "An Imaginary Landscape" und schrieb es Niccolo dell' Abbate zu. Erst 1943 entdeckte Edward S. King zwei versteckte Signaturen Heemskercks auf der Leinwand wieder und wies darauf hin, dass die Figurengruppe im Vordergrund die mythische Figur Paris, seine Geliebte Helena und ihr Gefolge abbilde.

Am 23. Mai 1532 war Heemskerck aus seiner flachen niederländischen Heimatlandschaft ins sagenumwobene Rom der Renaissance aufgebrochen. Dort fand er allerdings nicht mehr die prachtvolle Metropole des 2. Jahrhunderts vor, sondern schier unendliche Trümmerlabyrinthe, die die sieben Hügel der Stadt enigmatisch überwucherten. Stritt arbeitet erstmals heraus, wie sehr Heemskerck gerade diese Zwitterform einer zur wilden Felsnatur mutierten, ehemals majestätischen Architektur inspirierte.

Dabei weiß der Autor seine ungeteilte Faszination für Heemskercks vieldeutige Darstellung halbfantastischer Rom-Ruinen auf mitreißende Weise zu vermitteln. Er versteht es, in spielerisch anmutenden, jedoch immer wieder präzise zum Gegenstand der Betrachtung zurückführenden Erläuterungen, die literarhistorischen, kunstgeschichtlichen und politischen Rahmenbedingungen des Heemskerck'schen Schaffens erhellend darzustellen.

Gleich nach dem ersten, einführenden Rundgang durch das Gemälde eröffnet Stritt seine Studie mit einem überraschend abseitig anmutenden Hinweis, der sich jedoch als wichtiger geistesgeschichtlicher Hintergrund seiner Interpretation erweist. Der Umstand nämlich, dass die jüdische Thora nicht müde werde zu wiederholen, "daß die Erde ein Gesicht hat", sei in den ersten Bibelübersetzungen der Reformation, die zu Lebzeiten Heemskercks erschienen, vollkommen ignoriert worden.

Zwinglis und Luthers in den 20er und 30er Jahren des 16. Jahrhunderts erstmals gedruckte Übertragungen der hebräischen Urtexte inthronisierten die Macht des Wortes so, dass sie jegliche Sinnenfreude der alten jüdischen Sprachbilder eliminierten. Die Körperfeindlichkeit einer stark platonisch beeinflussten Philosophie brach sich hier Bahn, während jedoch besonders in der niederländischen Malerei die Landschaftsbetrachtung als "Gezicht" bald wieder auferstand und ein ganz neues Genre begründete.

Heemskercks Bild wird nun von Stritt als früher, avantgardistischer Höhepunkt dieser Schule interpretiert. Er deutet das Gemälde als subtile Zeitkritik am Kriegsgebahren Kaiser Karls V., der während Heemskercks Besuch in Rom einmarschierte, wie auch als beherzten Kontrapunkt zur Dämonisierung der Sexualität und des mythischen Urbilds der Frau als Quell allen menschlichen Übels.

Stritt spickt seine "Überlegungen" mit so vielen spannenden Exkursen, dass sich seine Studie aber auch als wichtiger Beitrag zur Vor- und Nachgeschichte der Renaissance allgemein rezipieren lässt. Namentlich die Historie Roms gerät dabei in den Fokus seiner minuziösen Recherchen. Heemskerck lernte die Stadt zu einer Zeit kennen, da die Erinnerung an die untergegangene Spätantike noch lebendig war und inmitten der auf den Bruchteil ihrer ehemaligen Einwohnerzahl geschrumpften Weltstadt noch viele Ruinen existierten, die heute bereits restlos vom Erdboden verschwunden sind.

Geradezu abenteuerlich mutet zudem die Geschichte eines antiken römischen Hafens, der so genannten "Brittenburg", an, die bereits vor Heemskercks Romreise, nach Stritts Angaben aber sogar bis ins 20. Jahrhundert hinein am Strand der niederländischen Küstenstadt Katwijk op Zee aus den Fluten der Nordsee mehrmals ebenso plötzlich auftauchte, wie sie spurlos wieder verschwand. Stritt vermutet in dieser bis heute trotz vieler historischer Zeugnisse erstaunlicherweise unbewiesenen Legende einen der wesentlichen Ausgangspunkte der Heemskerck'schen Faszination für die Rätsel der Antike.

Auch den Koloss von Rhodos, den der Maler in der profunden Tiefe seines Gemäldes wie ein entrücktes Phantasma platziert hat, deutet Stritt als stellvertretende poetische Evokation, "als fernes Bild der Sehnsucht". Das verlorene Ideal der Monumentalstatue, die man selbst schon in der Antike bald nur noch als zusammengestürzte Ruine bewundern konnte, benutzt Heemskerck demnach, um "mit malerischen Mitteln die zahlenmagische Siebenfaltigkeit sämtlicher Weltwunder so eindringlich in den Sinn zu bringen, dass wir sie gerne vollzählig zu Gesicht bekämen".

Gleichwohl sind Heemskercks Ruinen, von vagen Andeutungen tatsächlicher römischer Gegebenheiten einmal abgesehen, frei erfunden - eine verwunschene "terra incognita" aus der Fantasie eines Mannes, der sich Zeit seines Lebens nie der Reformation angeschlossen hatte, jedoch "ebensowenig Parteigänger der römischen Kurie gewesen" war, wie Stritt feststellt.

Gerade diese konsequente Parteilosigkeit des Künstlers und die malerische Freiheit seines sich in erstaunlich lustvollen Farbspielen erstreckenden Bildraums sind es wohl, die die historische Einzigartigkeit des untersuchten Gemäldes ermöglichten.

Mit Stritt darin umherzureisen, lohnt sich jedenfalls. Bevor man den nächsten Billigflug nach Rom bucht, sollte man sein Buch unbedingt gelesen haben. Wahrscheinlich ist es sogar der bessere Trip.

Titelbild

Martin Stritt: Die schöne Helena in den Rom-Ruinen. Überlegungen zu einem Gemälde Maarten van Heemskercks.
Stroemfeld Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
320 Seiten, 48,00 EUR.
ISBN-10: 387877818X

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