Weise Einfältigkeit vom unteren Ende der Hierarchieleiter

Jenny Erpenbecks nüchterne und anstrengende "Geschichte vom alten Kind"

Von Tobias DennehyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tobias Dennehy

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jenny Erpenbecks "Geschichte vom alten Kind" beginnt mit einem Betrug: Um sich - gleich der Protagonistin ihres Debüts - wie ein altes Kind zu fühlen und Pubertär-Kindliches aus der Warte einer Erwachsenen nachempfinden zu können, gab sich die sehr jung aussehende 27-jährige Erpenbeck als 17-Jährige aus. Sie ließ sich in die elfte Klasse eines Westberliner Gymnasiums aufnehmen und erlebte aus der Distanz des Nicht-Dazugehörens schulische und private Hochs und Tiefs mit, gewann eine gute Freundin, verguckte sich in einen Jungen aus der Parallelklasse und erfüllte sich schließlich den Traum eines jeden Schülers - nach einem Monat verließ sie einfach die Lehranstalt, schlug die Tür für immer hinter sich zu und ging ein Eis essen.

Nicht nur dieser ungewöhnliche Rechercheweg besitzt einen engen Bezug zum Erstlingswerk von Jenny Erpenbeck, sondern auch ein Erlebnis ihrer Grossmutter, ebenfalls Schriftstellerin. Eines Tages bekam diese Post von einem kranken Mädchen, besuchte es im Krankenhaus, freundete sich mit ihm an und erfuhr eines Tages von dem behandelnden Arzt, dass das Mädchen gar kein Mädchen, sondern eine 31-jährige Frau war, die sich in eine neue Identität als 14-Jährige hineingeflüchtet hatte.

Dieses vermeintliche Mädchen taucht in Jenny Erpenbecks "Geschichte vom alten Kind" wieder auf. Es ist dickleibig, mondgesichtig und mit seinem holzklotzgleichen Körper das, was man landläufig als hässlich bezeichnen würde. Eines nachts steht es auf der Straße, "mit einem leeren Eimer in der Hand, auf der Geschäftsstraße" und spricht kein Wort. Es wird von der Polizei mitgenommen und erfolglos befragt, woher es komme, wohin es gehöre - es erinnert sich lediglich an sein Alter: 14 Jahre. Es kommt in ein Kinderheim mit Internatsschule und ist glücklich darüber. Ebenso ist es glücklich darüber, von den anderen Kindern nicht beachtet oder schlecht behandelt zu werden, ist stolz auf seinen untersten Platz in der Hierarchie der Schüler und gibt sein Schlechtestes, ihm zu behalten, "denn jeder Platz, eben nur der unterste nicht, zeichnet sich durch Fähigkeit aus, nicht durch Unfähigkeit".

Wie unfähig oder gar dumm das Mädchen tatsächlich ist, wird bewusst offen gelassen. Zwar bleibt es während der gesamten Geschichte namen-, keineswegs aber farblos. Interessante und den Leser ebenso faszinierende wie verwirrende Gedanken werden der Protagonistin in den Kopf gelegt - nicht in den Mund, denn der Sprache bedient es sich nur in den seltensten Fällen. Ständig hat man das Gefühl, das Heim sei ein selbst gewähltes Exil, eine Art Flucht aus der Erwachsenenwelt, "denn es weiß ja, wie es da draußen zugeht: Man steht mit leerem Eimer auf einer Geschäftsstraße und wartet". Es ist, als durchblicke das alte Kind die alterstypischen Kämpfe und pubertären Spielereien seiner Mitschüler aus einer Position am untersten Ende der Hierarchieleiter.

Nüchtern und präzise schildert Erpenbeck den kurzen Lebensausschnitt dieses alten Kindes, manchmal vielleicht zu nüchtern. Es will kein Gefühl aufkommen auf den wenigen Seiten des Romans, keine Nähe, keine Sympathie, weder für die Figuren, noch für den Erzähler. Ähnlich wie die anderen Heiminsassen beginnt der Leser das Mädchen zu verabscheuen, es nervt ihn in seiner weisen Einfältigkeit, möglicherweise, weil es ihn zeitweise überfordert, weiß er doch nicht, wo er es einordnen, wie er es beurteilen soll. Nicht einmal das eigentlich erschreckende Ende der Geschichte veranlasst zum Mitfühlen.

Ebensowenig, wie sich das Mädchen in der Erwachsenen- oder Kinderwelt einzufinden vermag, stets das Gefühl hat, nicht dazu zu gehören, gelingt es dem Leser, sich auf Erpenbecks Altkinderwelt einzulassen. Selten hat man das Gefühl, wirklich in die Fiktion einzusteigen. Dieses möglicherweise bewusste Parallel-Laufen von Mädchen-Fiktion und Leser-Realität ist, falls tatsächlich beabsichtigt, durchaus anerkennenswert, mit nur einer Einschränkung: Das Mädchen genießt das Nicht-Dazugehören, wünscht es geradezu herbei, dem Leser wird es oft lästig.

Vier kurze Absätze lang wird die Es-Form der Erzählung zugunsten einer Ich-Form unterbrochen. Gedanken, Ängste und das ganze Ausmaß der Traumwelt des Mädchens werden hier deutlich. Vier Absätze, die wie kurze Versprechen sind inmitten einer sprachlich zwar präzisen und konsequent nüchternen, insgesamt jedoch recht eintönigen Narration, wie ein Versprechen, das Hoffnung auf ein wenig Komplexität macht. Leider vergebens.

Titelbild

Jenny Erpenbeck: Geschichte vom alten Kind.
Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 1999.
106 Seiten, 15,20 EUR.
ISBN-10: 3821807849

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch