Paradiesische Utopien

Ein religionslastiger Sammelband zu Utopien und alternativen Lebensentwürfen von Frauen

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie man weiß, benötigte Dante für die Erzählung seiner Reise durch Hölle und Fegefeuer 65 Gesänge, während er - nach einer weitere dreißig Gesänge andauernden Reise zum Paradies - für die "höchste Himmelssphäre" und den "Himmel des reinen Lichtes" mit gerade mal dreien auskam. Nicht nur die Beschreibung höllischer Qualen bietet AutorInnen mehr Stoff als diejenige paradiesischen Glücks, Gleiches scheint - zumindest seit einigen Jahrzehnten -auch für Utopien und Dystopien zu gelten. Erfreuten sich seit Platons "Politea" (ca. 387-367 v. Chr.) über Thomas Morus' "Libellus vere aureus nec minus salutaris quam festivus de optimo reipublicae statu deque nova insula Utopia" (1516), Tommaso Campanellas "La Città del Sol" (1602/1611), Francis Bacons "Nova Atlantis" (1627) bis hin zu Étienne Cabets "Le voyage en Incarie" (1840) und William Morris' "News from Nowhere" (1890) die reinen Utopien einer Jahrhunderte andauernden Konjunktur, so benötigten Ernest Callenbach in "Ecotopia" (1975) und Marge Piercy in "Woman at the Edge of Time" (1976) bereits die Einbettung ihrer Utopien in dystopischen Bedrohungen. Der vielleicht erste rein dystopische Entwurf war da mit Mary Shelleys "The Last Man" (1826) allerdings schon längst geschrieben. Und spätestens seit dem in Hiroshima und Nagasaki herbeigebombten Ende des Zweiten Weltkriegs dominieren die Dystopien das Genre. Während dieses Subgenre nicht zuletzt im Cyberpunk nach wie vor floriert, muss man - seit die Blütenträume von Hippies, Yippies und Feministinnen in den so hoffnungsfroh begonnen 70er Jahren des vergangenen Jahrzehnts zu verwelken begannen - utopische Entwürfe auf dem Markt der Neuerscheinungen suchen, wie die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen.

Haben sich Kunst und Literatur weithin von den Utopien abgewandt, so sieht es bei Forschung und Wissenschaft doch um einiges anders aus. Das gilt nicht nur für den Mainstream, der seine Eingaben um Forschungsgelder mit allerlei utopischen Versprechungen etwa auf Heilung sämtlicher Krankheiten und Quasi-Unsterblichkeit würzt, sondern auch für Feministinnen. Traten bekannte feministische Autorinnen wie Marge Piercy, Margaret Atwood oder Marlene Streeruwitz in den letzten Jahren mit Dystopien hervor, propagierten Wissenschaftlerinnen wie Sadie Plant 'weibliche' Netzutopien.

Ein nun erschienenes schmales Sammelbändchen will die "Entgrenzung des Denkens in der klassischen gesellschaftsverändernden Utopie" und die von Frauen verwirklichten "alternative[n] Denk-, Lebens- und Arbeitsentwürfe" zusammenzuführen. So behandeln die Beiträge ebenso wohl politisch-gesellschaftliche (Gegen-)Entwürfe wie auch "künstlerisch-ästhetische Konzepte, die modellhaft Zukünftiges antizipieren". Innerhalb der einzelnen Aufsätze jedoch werden beide Bereiche nicht oder doch zumindest kaum zusammengebracht. Vielmehr gelten die Beiträge in der Regel entweder einem bestimmten 'utopischen' Projekt, wie etwa den "Gartenentwürfe[n] von Frauen" (Annette Dorgerloh) und der "real existierende[n] Utopie" des Vereins "Berliner Tafel" (Sabine Werth), oder sie fassen künstlerisch-ästhetische Konzepte wie die "Bühnen- und Festgestaltungen russischer Avantgardistinnen" (Ada Raev) oder die Arbeit der "Frauen am Bauhaus" (Kirsten Beuth) ins Auge.

Entstanden ist ein einigermaßen religions- und kirchenlastiges Buch, in dem Dorothee Sölle ihre "Utopie der Arbeit" im biblischen Bild des Weinbergs findet, Ilona Scheidle sich an der Spiritualität und Aktualität der auch als Betschwestern bekannten Beginen erbaut, Christiane Dietrich "[s]pirituelle Utopie" als den Weg propagiert, "über das Loslassen ALLES zu gewinnen", eine attac-Aktivistin von der "Harmonie" schwärmt, "die der Himmel als Potential in die ganze Schöpfung gelegt hat" und Ingeborg Reichle konstatiert, das "sowohl die katholische als auch die evangelische Kirche" eine "ganz ähnliche Kritik" üben, wie feministische Gruppierungen, die den "Körper der Frau als Ort der Experimentalisierung des Lebens durch eine von Männern dominierte Wissenschaft" wahrnehmen, und monieren, dass diese "sowohl den Embryo als auch den Uterus zum lebendigen Labor degradier[en] und männlichen Schöpfungsphantasien Vorschub leiste[n]." In ihrem Plädoyer gegen die Gen- und Reproduktionsmedizin wird Reichle nicht müde, die "selbsternannten Propheten aus dem Feld der Naturwissenschaft" zu geißeln, ohne allerdings auch nur einen anzuführen, der sich als solcher bezeichnet, geschweige denn sich zu einem ernannt hat.

Weitere Beiträge unternehmen es, "[a]us dem wirtschaftlichen Zerfall für die Zukunft [zu] lernen" (Samira Kenawi) oder wandeln wie Kirsten Beuth auf den Spuren Alexandra Kolontais, die weniger Feministin als Marxistin und so der Ansicht war, dass die Frauen "in dem Moment", in dem sie "die Sache der Frau über die Sache des Proletariats" stellen, sich selbst und "ihre speziellen weiblichen Interessen" verrieten. Auch "auf dem Gebiet der zwischengeschlechtlichen Beziehungen" sollte "die Liebe zur geliebten Sache" - der des Proletariats nämlich - stets Vorrang gegenüber der Liebe zu Personen haben, befand die Kommunistin. Im Übrigen, bemerkt Beuth, hielt Kollontai Hausarbeit für "gesellschaftlich nutzlos".

Der Literatur gilt das Interesse von Antje Schupp und Ulrike Müller. Während Schupp "Blicke in parallele Welten" diverser Science Fiction-Autorinnen wagt, richtet Müller ihr Augenmerk ganz auf das Spätwerk der Verfasserin österreichischer 'Heimatromane', Ingeborg Bachmann. Bachmann, fühlt sich Müller zunächst bemüßigt mitzuteilen, "hat es mit der Wahrheit genau genommen, ist darüber fast verrückt geworden". Dann wendet sie sich der Suche nach Utopien, nach Nicht-Orten in dem Roman "Malina" und in dem Fragment "Das Buch Franza" zu. "Jener Ort jenseits der Wand", in der das Ich des Romans, "Malina", verschwindet, konstatiert sie, sei "ein Ou-Topos, aber ein Ort der Vernichtung und des Todes, kein Ort der Möglichkeit und Hoffnung". Die "Leere der Wüste" in "Das Buch Franza" wiederum erscheine wie eine "Antwort der Dichterin auf alle Schein-Utopien". Soweit erinnert Müllers Interpretation von Ferne an die Lesart der - von Müller nicht rezipierten - Literaturwissenschaftlerin Christine Kanz, der zufolge die Wüste für die Figur Franza zunächst "die Bedeutung eines Schutzraumes" hat, die Hoffnung, "die Franza in die Wüste gesetzt hat", jedoch "enttäuscht" werde. Wenn Müller allerdings fortfährt, dass die "Leere dieses Niemandslandes" ein "Bild für eine Befreiung ohne Erbarmen" sei, so ist das wenig überzeugend (und auch schwerlich mit Kanz' Analyse zu vereinbaren).

Schupp setzt sich in ihrem Beitrag, der nahezu gleichlautend Anfang 2005 in der Zeitschrift "Berliner Debatte Initial" unter dem Titel "Frauen und Aliens" erschienenen ist, mit den Frauen- und Aliendarstellungen in feministischer und anderer Science Fiction auseinander und kommt zu dem Schluss, dass die "Lösung für das Problem der Geschlechterdifferenz" in der Erkenntnis liege, "dass es keine Lösung geben kann". Denn, so erklärt sie, das Problem sei gar kein Problem, "sondern eine Frage der Perspektive". Zwar seien Frauen tatsächlich Aliens, also die 'Anderen'. Doch gelte das je nach Perspektive ebenso für alle. Daher komme es darauf an, "diese Tatsache zu akzeptieren und kreativ mit ihr umzugehen, ja sie sogar zu begrüßen".

All diesen Aufsätzen zu Aliens, Beginen, Gartenentwürfen und Visionen vom 'Neuen Menschen' vorangestellt ist ein Beitrag "[z]ur Herkunft und zum Verständnis des Utopiebegriffs" aus der Feder Ulrike Müllers. Zwar grenzt die Autorin den Begriff nach vier Seiten hin ab: "a) zum negativ-inflationären Gebrauch in der Alltagssprache [...] b) zur Einengung auf ein ideologisches Modell mit totalitär-universalistischem Gültigkeitsanspruch c) zum fiktionalen Fantasy-Szenario, sofern dessen Stoffe [...] primär der Technik und damit Wertbeherrschungs-Verherrlichung und einer primitiven konsumorientierten Form der Unterhaltung dienen [...] und bestehende gesellschaftliche Vorurteile und Gewaltverhältnisse stabilisieren oder verherrlichen helfen d) zur reflexions- und politikfeindlichen Idylle, die [...] sexistische oder rassistische Klischees, Vorurteile sowie Herrschafts- und Konsummuster bestätigen und festigen hilft". Dennoch erscheint Müller eine "Erweiterung" des herkömmlichen Utopiebegriffs geboten. So sollen nicht nur die antiken Vorstellungen von der Insel der Seligen und des Goldenen Zeitalters ebenso unter den Terminus der Utopie zu subsumieren sein, wie die religiöse Annahme der postmortalen Einkehr ins Paradies, der Begriff solle sich auch "den Dimensionen des Praktischen, des Fantastischen, des Spirituellen, des Ästhetischen und des Poetischen" öffnen. Bekanntlich wird der Inhalt eines Begriffes umso geringer, je größer sein Umfang wird. Daher empfiehlt sich, anstelle von Müllers bis zur Unbrauchbarkeit ausgeweitetem Utopiebegriff - sofern man hier überhaupt noch von einem Begriff sprechen kann - an der Scheidung zwischen politischen und literarischen Utopien, auch der von Bachmann vorgetragenen Literatur und überhaupt der Kunst als Utopie festzuhalten, sie womöglich gar noch strenger zu fassen. Fantastisches und Spirituelles aber sollten besser ganz außen vor bleiben.

Titelbild

Kirsten Beuth / Annette Dorgerloh / Ulrike Müller (Hg.): Ins Machbare entgrenzen. Utopie und alternative Lebensentwürfe von Frauen.
Centaurus Verlag, Herbolzheim 2004.
184 Seiten, 15,50 EUR.
ISBN-10: 3825504840

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