Einverleiben, verdauen

Elias Canettis "Aufschreibesystem"

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

"Solange ich atme, schreibe ich". Mit diesem späten, in den "Nachträgen aus Hampstead" erst postum veröffentlichten Bekenntnis scheint Elias Canetti sein zu Lebzeiten oftmals angekündigtes Vorhaben zu dementieren, das eigene Leben durch eine endlose Schreibbewegung ad infinitum verlängern zu wollen. Das absurde Projekt des auch sich selbst überlebenden Schriftstellers bestand für Canetti gerade darin, durch unendliches Schreiben unablässig die eigene (Neu-)Geburt zu betreiben, mit der Konsequenz, dass der Schreibende mehrfach zu sterben hätte, um dem definitiven Tod zu entgehen: "Versuch, ein Leben so anzulegen, daß man mehrmals darin stirbt. Bescheidene, nicht lärmende Rückkehr". Canetti ist bestrebt, dem Dilemma des Todes zu entkommen, indem er sein Leben mit der Produktion eines unendlichen Textes gleichsetzt, als dessen Autor er selbst zu gelten hätte. An Franz Kafka erinnernd, vermerkt er: "Der Prozeß des Schreibens hat etwas Unendliches. Auch wenn er jede Nacht unterbrochen wird, ist es eine einzige Niederschrift". Daher entspräche eine umgekehrte Lesart des oben zitierten Satzes - Solange ich schreibe, atme ich - viel eher dem "Aufschreibesystem" Canettis, mag man auch konstatieren, dass der Autor zuletzt, als Kraft und Wille zum Schreiben schwanden, zu der Erkenntnis gelangt zu sein scheint, dass der Schreibbewegung durch die Atemweite eine natürliche Grenze gesetzt ist.

Angesichts von Canettis Konzept des unendlichen Textes als Lebens-Schrift mag es auf den ersten Blick paradox erscheinen, dass er die längste Zeit als Autor ohne Werk galt, trotz seines frühen Geniestreichs, des Romans "Die Blendung" (1935), der beängstigend und komisch in einem ist, vergleichbar mit den frühen Dramen, der apokalyptischen "Hochzeit" und dem Endpunkt der Wiener Moderne, der "Komödie der Eitelkeit". Erst mit jahrzehntelanger Verspätung wurde der weltliterarische Rang dieser grotesken apokalyptischen Parabel erkannt. Mehr als zwei Jahrzehnte arbeitete Canetti danach an seinem Hauptwerk "Masse und Macht", einer äußerst disparaten kulturanthropologischen Studie, deren befremdlich kühne Methodik sich in kein gängiges Wissenschaftsraster einordnen ließ und erst allmählich seine weltweite Wirkung als einer der intellektuellen Grundtexte der Epoche entfaltete, mit dem es Canetti schließlich gelungen war, das 20. Jahrhundert "an der Gurgel zu packen". Dazu kommen seit den 1940er Jahren Reden, Essays, zahlreiche Aufzeichnungen, die unter verschiedenen Titeln und in wechselnder, sich überschneidender Auswahl ab 1970 in mehreren Bänden erschienen sind, und, als einer der zugänglichsten Texte, der kunstvoll komponierte Reisebericht "Die Stimmen von Marrakesch" (1968). Im Rahmen seiner drei autobiografischen Texte - "Die gerettete Zunge" (1977), "Die Fackel im Ohr" (1980) und "Das Augenspiel" (1985) - verhilft sich Canetti schließlich immer wieder zur (Text-)Geburt, indem er in Ich-Form seine Lebensgeschichte erzählt, die ihn gleichzeitig als Autor, als schreibendes und als erinnertes Ich ausweist. So erfindet sich der Autor mit Hilfe der Schrift und im Akt des Schreibens immer wieder neu, um letztlich, statt zu sterben, derjenige zu werden, der er ist bzw. der er gewesen sein wird. In allen drei Bänden geht es Canetti um die Entwicklung seines Sprechens, verstanden als die Geschichte der gegen alle tödliche Gewalt des Zum-Schweigen-Bringens (Zungenschnitt und Sprachverlust) "geretteten Zunge" - seines Hörens - durch die schriftliche 'Verdauung' der Vorträge von Karl Kraus und die Gestaltung "akustischer Masken" in der "Blendung" und den frühen Dramen, sowie seines Sehens in dieser Welt und damit auch um die Etablierung einer originalen Autorität seiner Texte.

Wurde in den letzten Jahren vermehrt darauf abgezielt, Canettis von großer Leidenschaft getragenes humanistisches Ethos hervorzuheben, so scheint es an der Zeit zu sein, seine Texte stärker als bisher geschehen in den Rahmen text- und zeichentheoretischer Fragestellungen zu stellen. Auch wenn man Canettis Schreiben mit Roland Barthes durchaus als Ausloten und Erproben des Sagbaren, als Erschütterung sprachlicher Hierarchien, als Spiel mit den Einheiten der Sprache und Subversion ihrer Regeln versteht, impliziert dies jedoch noch lange nicht, sein Denken unter Hinzuziehung der Axiome Michel Foucaults "in der Leere des verschwundenen Menschen" zu akzentuieren. Das in Canettis Texten ansichtig werdende Paradoxon besteht vielmehr darin, dass mit Vehemenz am traditionellen Subjektbegriff sowohl auf Inhalts- wie auch auf Diskursebene festgehalten wird, um ihn erst in einem zweiten Schritt aufzulösen. Mit einigem Recht hat Axel Gunther Steussloff darauf verwiesen, dass "der Autor vom Zentrum an den Rand der Texte rückt, ohne allerdings im Sinne Michel Foucaults zu verschwinden". Zu erkennen sei "eine Zwischenstellung, die Autorschaft und Werk Canettis im literarischen Diskurs der Moderne und Postmoderne einnehmen". Canettis Texte handeln demnach vom gleichzeitigen Verschwinden und Verbleiben des Autors und votieren nachdrücklich für ein mehrdimensionales Denken von Autorschaft. Auch wenn der Autor selbst, wie so oft proklamiert und ebenso oft auch wieder bestritten wurde, verschwunden sein sollte, die Frage nach einem komplexen Tableau avancierter Konzepte einer Theorie von Autorschaft hat sich in den letzten Jahren eher verstärkt, was sich an Canettis Texten überprüfen lässt. Im Folgenden sei daher zwei Techniken von Canettis Aufschreibesystem nachgegangen, die in seinen Texten variiert werden: die an Franz Kafka und dem Paranoiker Daniel Paul Schreber vorgenommenen "Lektüren der Macht" (Gerhard Neumann), in denen es um die Schriftbewegungen der 'Einverleibung' des Anderen und die Verwandlung ins Kleine geht (somatische Dimension des Schreibens: Körper als Schreibmaschine und als Schrift-Träger), sowie die bei Karl Kraus erlauschte Fonografie, die der zerrissenen modernen Welt die eigenen Melodien in ihrer ganzen Grausamkeit vorspielt (akustische Dimension des Schreibens: Körper als Grammofon).

I.
Claudio Magris, der mehrfach auf die Problematik der Ich-Identität bei Elias Canetti verwiesen hat, exemplifiziert dies an den autobiografischen Texten: "Wer über sich selbst schreibt, enthüllt und verbirgt sich zugleich, er verwandelt sich in die Maske seines anderen, getreuen und doch abweichenden Ichs, das nach und nach auf den Seiten Gestalt annimmt. Das vielfältige Ganze, das die Person ausmacht, spaltet sich in Farben und Figuren, zerfällt und multipliziert sich, tarnt sich hinter vielen Gesichtern, verbirgt sich zwischen den Blättern". Diese Beobachtung korreliert mit einer Aussage Canettis, die die Totalität seines Aufschreibesystems auf fünf entscheidende Worte reduziert: "Ich bin ganz aus Worten".

Für Manfred Schneider besteht "Canettis Seele [...] aus Geschichten und aus Mythen, aus Gestalten und Texten der Literatur: Es gibt lediglich Kristallisationen, eine geheime Durchdringung von Leben und Text, von Erfahrung und Symbol, und die heißt Mythos". "Seit meinem zehnten Lebensjahr", schreibt Canetti in der "Geretteten Zunge", "ist es eine Art Glaubenssatz von mir, daß ich aus vielen Personen bestehe, deren ich mir keineswegs bewußt bin". Ähnlich wie Robert Musil, der in seinem frühesten Tagebucheintrag, dem "Nachtbuche des Monsieur le vivisecteur", davon träumt, "seinen eigenen Organismus unter das Mikroskop" zu setzen, verkörpert Canetti jene Vielfalt der kulturalen Einschriften, die ihm zum Modell der verlorenen oder brüchig gewordenen Identität jedes modernen Individuums gereichen. Dass das Ich nicht mehr als Einheit zu verstehen sei, hat Canetti schon in einer Aufzeichnung aus dem Jahr 1943 formuliert. Noch im "Geheimherz der Uhr" finden sich eine ganze Reihe von Aphorismen, die die unaufhebbare Fragmentarisierung des Ichs bzw. die unendliche Verschiebung der Ich-Konstitution hervorheben: "Ich will mich so lange zerbrechen, bis ich ganz bin", denn nur in "diesen Zerrissenheiten bin ich ganz". Das führt im Rahmen der Autobiografie zu dem interessanten Phänomen einer Kette von er-lesenen und er-schriebenen Wiedergeburten, die an das wiederholte Eintreten des Ich in Diskurs- und Spiegelordnungen geknüpft ist. Indem das autobiografische Ich vorgibt, aus literarischen Texten und Figuren zu bestehen, stellt es einen Subjekt-Begriff zur Disposition, der angesichts des Umstands permanenter Neu- und Umbeschriftungen der traditionellen Vorstellung einer autonomen Ich-Identität nicht mehr genügt. Es scheint dem schreibenden Ich, als wäre sein Geschriebenes schon immer als ein Ensemble von Schriftzeichen vorgegeben gewesen, die unter seinen Augen, wie von fremder Hand gesteuert, immer wieder andere Zeichenverbindungen eingehen. Schreiben hieße dann wohl nur noch, den unter der Hand entstehenden Wörtern, Sätzen und Texten mitlesend zu folgen, oder mit den Worten Canettis: "Die Dunkelheit senkt sich in seine Buchstaben, und sie gewinnen andere Bedeutung. Sie sehen aus, als seien sie viel länger schon dagewesen, voller, stärker, seit jeher von derselben Nacht erfüllt. Sie lösen sich voneinander und fügen sich wieder zusammen, sicher und liebevoll, nach einem klaren, aber unerschöpflichen Gesetz".

Diese Ambivalenz von Dekonstruktion (die Lösung der Buchstaben voneinander) und Rekonstruktion (die Zusammenfügung der Buchstaben) prägt auch Canettis von Kafka entlehnte Vorstellung vom Autor als "Hüter der Verwandlungen", dem die Idee zugrunde liegt, dass das eigene Erzählen schon immer mit anderen literarischen Diskursen verwoben ist, die es erst zu konstituieren scheinen. Ähnlich hat es Horst Bienek im Rahmen seiner Laudatio zur Verleihung des Nelly Sachs-Preises an Elias Canetti formuliert, wenn er feststellt, dass Canettis "ganzes Werk nichts anderes gewesen ist als eine ununterbrochene Aufzeichnung, ein weites nahtloses Geweb' aus Sprache, das er gelegentlich in die festen überlieferten Formen des Dramas, des Romans, der Reisebeschreibung fügte". Damit jedoch stellt Bienek die Geltung des traditionellen Autor- und Textbegriffs für Canettis Schreiben massiv in Frage. Genau genommen oszillieren dessen Texte aber vielmehr zwischen der "Idee des Buches", d. h. der Vorstellung einer autoritär verbürgten Totalität von Sinn, einerseits und einer Machart andererseits, die das allen Sinn erst konstituierende Spiel der Zeichen favorisiert. Vor allem die Texte der Frühphase lassen, wie Steussloff herausgearbeitet hat, dekonstruktive Textbewegungen erkennen, in deren Folge auf der Inhaltsebene die Versuche der Figuren, sich als einheitlich denkende und handelnde Subjekte zu etablieren, scheitern und auf der Diskursebene Drama und Roman als Medien ästhetischer Sinnstiftung ausfallen.

Das Agieren der Figuren zwischen maßlosem Individualismus und groteskem Rausch der Signifikanten lässt sich vor allem an der "Blendung" gut beobachten. Mit dem gelehrten "Büchermenschen" und Sinologen Peter Kien hat Canetti sein Alter Ego zum Protagonisten seines Romans gemacht, den er in einem grandiosen Autodafé stellvertretend für sich sterben lässt. Auch Kien besteht ganz aus Worten, aus angelesenen, fremden Texten und mutiert im Roman dadurch zu einem unendlichen Text, dass er seine gigantische Bibliothek, mithin all das, was er lesend in sich aufgenommen hat, im "Kopf" mit sich herumträgt. Mit Kien hat sich Canetti nach eigenem Bekenntnis "einen Kaktus in den Leib gepflanzt", der eigenmächtig in ihm wuchs, so wie Kien selbst in und mit seiner Bibliothek zu despotischer Mächtigkeit heranwuchs, um schließlich in einem Nichts zu enden. Während Canetti mit aller Macht gegen den Tod anzuschreiben versucht, geht Kien den umgekehrten Weg in den Tod und befreit sich vom Leben, indem er alles jemals Geschriebene in einem großen Buch verschließt und es dem Feuer übergibt: "Mit gewaltiger Kraft packt er das Buch und klappt es zu. Da hat er die Buchstaben gefangen, alle, und läßt sie gewiß nicht mehr frei. Nie! Er ist frei". Da Canetti sich in seinen Aufzeichnungen auch selbst häufiger als "ein Buch" imaginiert hat und überzeugt davon ist, dass die gesamte "vergangene Menschheit" ausschließlich "in den überlieferten Worten" erhalten bleibt, würde als Konsequenz daraus auch er, der ganz "aus Worten" besteht und ganz in Worten lebt, über seinen Tod hinaus fortleben können.

Nähert man sich dem Kosmopoliten Canetti, der sich nach dem Absolvieren eines Chemiestudiums mit anschließender Promotion 1929 zur ungesicherten Existenz eines freien Literaten entschloss, so begegnet man immer wieder dem Denkbild des 'Menschenfressers', das nach Ansicht Sven Hanuscheks wie kaum ein anderes die intellektuelle Konstitution Canettis zu verdeutlichen vermag. Mehreren Zeugnissen zufolge soll er die atemberaubende Fähigkeit besessen haben, seinen Gesprächspartnern "die Hirnschale abzunehmen", um deren Innenleben zu erforschen. In dem Gedicht "Nebenbei" des Lyrikers und Übersetzers Franz Wurm zum Tod Canettis im August 1994 finden sich Spiegelungen dieses Bildes: "Seiner Neugier auf Menschen gab es keine / Grenzen. In wenigen Minuten hatte er / sie durch sein eifriges Fragen ausgeleuchtet, / selbst der Verschlossenste saß dann als / Panorama hingebreitet vor ihm. / Sein Blick / sah die Verkleidung unter der Haut - // suchte er, selbst klein von Wuchs, / so sich Macht über andre? Er litt / keine Größe neben sich, war auch - / man lese seine Stücke, 'Die Blendung' - ein Hasser / sondergleichen. Das schärfte ihm Blick / und Feder. So jedenfalls schien es mir." Auch Ruth von Mayenburg, die zur Zeit der Entstehung der "Blendung" eng mit Canetti befreundet war, hat diesen Vorgang des "Fressens" als Machtausübung beschrieben: "Oft gelang es ihm, mit einem einzigen Zubiß Herz und Nieren bloßzulegen, und er ergötzte sich sowohl am Knochenmark wie am Gehirn seiner Opfer. Dabei kam ihm die einzigartige Fähigkeit zustatten, in jedem das Gefühl zu erwecken, noch niemals so bis in die geheimsten Abgründe seiner Seele, bis in die letzte Faser begriffen worden zu sein wie von diesem Menschenjäger".

Gleichzeitig ist dieser Anthropophage auch ein Bibliophage, ein "Bücherfresser", ein "Allesleser", wie Hans Mayer treffend bemerkt hat. Bücher sind auch die einzigen Objekte, die Canetti gesammelt hat. In der Züricher Zentralbibliothek wird immerhin die stolze Menge von etwa 18.500 Bänden von ihm aufbewahrt. Die stärksten Schaffensimpulse scheint Canetti daher, wie Felix Philipp Ingold ausführt, aus einem niemals nachlassenden Enthusiasmus gewonnen zu haben, die Früchte intensiver Leseerfahrungen weiterzureichen: "lesen, um zu schreiben; schreiben, um das weltliterarische Erbe - für Canetti eine vielsprachige säkulare 'Bibel' - zu sichern und zu mehren". Wie ein engmaschiges Gewebe spannen sich die er-lesenen über die eigenen Texte. Zu den wichtigsten einverleibten Autoren gehören neben Musil mit seinem intensiven Interesse am Wahnsinn, an psychischen Grenzphänomenen sowie an den unterschiedlichen Erfahrungen des Körpers nahezu das komplette intellektuelle Bestiarium Kakaniens: Kafka, Hermann Broch und Karl Kraus, Autoren, denen er bezeichnenderweise in seiner Dankrede für den Nobelpreis gehuldigt hat. Ferner prägen den rituellen Charakter von Canettis Umgang mit Dichtung und Dichtern, Denkern und Gedanken Werke aus den Anfängen von Literarizität: Ovids "Metamorphosen", die "Odyssee" und vor allem das älteste erhaltene Werk der Weltliteratur überhaupt, das ninivitische "Gilgamesch"-Epos. Im übrigen literarischen Kosmos Canettis wechseln die Namen häufiger, auch wenn sich einige Autoren wiederholen: vor allem Aristophanes, Cervantes, Swift, Gogol, Lichtenberg, Stendhal, Büchner und Robert Walser tauchen immer wieder auf.

Nun bedeutet aber Lesen zugleich ein Einnehmen, einen Machtgewinn über die fremden Texte. Das dichterische Verfahren, das eigene Schreiben der Artikulierung der anderen zu leihen, heißt auch, sich diese einzuverleiben. Diese 'somatischen' Metaphern begegnen uns an vielen Stellen in Canettis Schriften. Es scheint von nicht zu unterschätzender Bedeutung zu sein, dass seine eigentümliche Wendung zur Sprache und zur Schrift mit einer charakteristischen Wendung zur historischen Anthropologie des Leibes einhergeht. Hinter Sprache und ihrer mimetischen Metaphorik gilt Canettis Augenmerk für "Verwandlungen" speziell dem Einverleibten, den verwischten Spuren und vernarbten Verkrüppelungen, die die Inkorporierung jeweils am (Text-)Leib hinterließ. Vor allem die überaus reiche Sprache der Macht sowie ihre triebhafte Dynamik finden, wie Dagmar Barnouw herausgearbeitet hat, ihren intellektuellen Grund in dem Vorgang des Ergreifens und Verspeisens. In dem Kapitel "Die Eingeweide der Macht" aus "Masse und Macht", einem der luzidesten Texte des 20. Jahrhunderts überhaupt, untersucht Canetti die zwanghaften Bedürfnisse paranoider Herrscher nach Einverleibung und Verdauung, d. h. der vollkommenen Endform der Beherrschung. Das Bild dieses Machtapparats der Verdauung, auf den Canetti in seinem kulturanthropologischen Großessay eingeht, findet sich gespiegelt in dem Terminus "Darm des Systems", den er in einer "Aufzeichnung" aus dem Jahre 1960 verwendet: "Jede vereinzelte Erkenntnis ist kostbar, wenn sie sich abgesondert hält. Sie löst sich zu nichts auf, wenn sie in den Darm des Systems gerät.

Canettis Aufzeichnungen und Aphorismen sind nach Penka Angelova "Splitter eines Denkparadigmas von einem Denker, der Systeme verabscheute und geschlossene Denksysteme [...] als Einladung zur Paranoia verstand". Fast folgerichtig endet "Masse und Macht" daher mit der Analyse der 1903 erschienenen Schrift "Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken" aus der Feder des Dresdner Senatspräsidenten Daniel Paul Schreber, einer Darstellung der Prozesse der Macht in einem Mann, "der sie, zum Glück für die Welt, nur in seinem Wahn besaß". Schrebers Sprache selbst, meint Canetti, sei für diese Darstellung wie geschaffen; er erfasse gerade so viel, dass nichts Wesentliches im Dunkeln bleibe. Für Sigmund Freud, der die erstaunlich genauen Selbstbeobachtungen Schrebers (allerdings nicht ohne Widerspruch zu erregen) in das Schema des Ödipus-Dreiecks zwängt, sind die "Denkwürdigkeiten" schlicht ein klassischer Text der Psychoanalyse. Für Canetti hingegen ist vor allem Schrebers Gleichsetzung seines Körpers mit dem Weltkörper von Interesse. Er ziehe die Gesamtheit aller um ihn versammelten Seelen als Masse an, verkleinere sie, zehre sie auf, so dass sie nun seinen eigenen Körper nähren würden. Durch diese Einverleibung bändige er die ihm feindlich Gesinnten. Die Verbindung zu politischer Macht liegt für Canetti auf der Hand: Mit der Einverleibung der Masse der Seelen ist die Substanz des Weltalls in seinen Körper eingegangen; die Menschheit gibt es nicht mehr. Er allein ist übrig - der vollkommene Überlebende. Hinter jeder Paranoia, schreibt Canetti am Ende des "Masse und Macht" beschließenden Paranoia-Kapitels, wie hinter jeder Macht steckt "dieselbe tiefere Tendenz": "die anderen aus dem Wege zu räumen, damit man der einzige sei, oder, in der milderen und häufig zugegebenen Form, der Wunsch, sich der anderen zu bedienen, daß man mit ihrer Hilfe der einzige werde".

Schrebers Text ist ein einzigartiges Dokument der Verwandlung des menschlichen Körpers in Schrift, in Schreib- und Leseakte; er repräsentiert ein "Aufschreibesystem", das der "Nervenkranke" als Schrift-Steller wie folgt charakterisiert: "Man unterhält Bücher oder sonstige Aufzeichnungen, in denen nun schon seit Jahren alle meine Gedanken, alle meine Redewendungen, alle meine Gebrauchsgegenstände, alle sonst in meinem Besitze oder meiner Nähe befindlichen Sachen, alle Personen, mit denen ich verkehre usw. aufgeschrieben werden. Wer das Aufschreiben besorgt, vermag ich ebenfalls nicht mit Sicherheit zu sagen. Da ich mir Gottes Allmacht nicht als aller Intelligenz entbehrend vorstellen kann, so vermute ich, daß das Aufschreiben von Wesen besorgt wird, denen auf entfernten Weltkörpern sitzend nach Art der flüchtig hingemachten Männer menschliche Gestalt gegeben ist, die aber ihrerseits des Geistes völlig entbehren und denen von den vorübergehenden Strahlen die Feder zu dem ganz mechanisch von ihnen besorgten Geschäfte des Aufschreibens sozusagen die Hand gedrückt wird, dergestalt, daß später hervorziehende Strahlen das Aufgeschriebene wieder einsehen können". Schrebers Textkorpus zeugt von der Macht, von der Gewalt, die in die Bildung des Subjekts einwirkt und sein Sprechen und Schreiben prägt: eine Schrift der Gewalt, die ihrerseits wieder Lese- und Schreibakte erzeugt. In den Worten Schrebers: "Ich kann nur versichern, daß das Aufschreibesystem [...] sich zu einer geistigen Tortur gestaltet hat, unter der ich jahrelang schwer gelitten habe [...] es sind mir dadurch Geduldsproben auferlegt worden, wie sie [...] wohl noch niemals einem Menschen zugemutet worden sind". Für Canetti wird Schrebers Wahnsystem aus Lesen und Schreiben nach Gerhard Neumanns treffender Bemerkung "zu einem Zwangsapparat, der die Mechanismen der Macht unermüdlich reproduziert", "zu einem wahnhaften Allmacht-System [...], das im Zeichen von Stabilisierung und Abdichtung gegen die Welt steht". Nachdem Canetti bei Schreber jedoch den Zusammenhang von Paranoia und Macht so exemplarisch vorgeführt findet, entdeckt er in ihm auch Ähnlichkeiten zu seinem frühen Roman: "Da ist die Schilderung einer Periode der 'Unbeweglichkeit', sie erinnert an das entsprechende Kapitel 'Die Erstarrung' aus der 'Blendung'. Auch die Gespräche mit erdichteten Gestalten könnten aus der 'Blendung' stammen".

Viele der für die Entstehung der "Blendung" wichtigen Erfahrungen speisen sich ganz fraglos aus der Lektüre von Schrebers "Aufschreibesystem". Das für Canetti evidente Rätsel der Interdependenz von Masse und Wahnsinn hat seinen Ursprung in dem während der Wiener Zeit bewohnten Zimmer in der Hagenberggasse, in dem er von 1927 bis 1933 lebte, mit der Aussicht über einen großen Sportplatz hinweg auf den Hügel gegenüber mit der "Stadt der Irren", der psychiatrischen Anstalt Steinhof. Hier schrieb Canetti - die schreienden Massen auf dem Sportfeld, die ihm in einem zum Körper verdichteten Schrei gegenwärtig waren, mit den hinter den Mauern der Anstalt verborgenen Möglichkeiten monströs deformierter Prozesse des Selbst zu einem "vielstimmigen Monolog" (Henning Ritter) diskursiv verbindend. Es gilt allerdings festzuhalten, dass für Canetti die Masse selbst keineswegs "etwas Aussätziges", "eine Art von Krankheit" ist, wie für die meisten Intellektuellen des 20. Jahrhunderts, die sich dabei auf Freud berufen. Die Masse ist für Canetti ein faszinierendes Phänomen, dem er sich mit großer neugieriger Offenheit asymptotisch annähert, ohne allerdings mit ihm zu verschmelzen. Vielmehr verleibt er sich ihre rätselhaften Erscheinungsformen ein und versucht, ihre Differenzen zu verstehen.

In seiner Analyse des Schreber'schen "Aufschreibesystems" setzt Canetti dem starren Wahnsinn des Senatspräsidenten die Rollenvariante des "Meisterverwandlers", des "Tricksters" entgegen. Der paranoischen Tendenz "zu einem kompletten Ergreifen der Welt durch Worte, so als wäre die Sprache eine Faust und die Welt läge darin", versucht er zu entkommen, indem er Wege zwischen dem Eigenen und dem Anderen außerhalb des nur sprachlich und gedanklich Erfassbaren in der ruhelosen Bewegung des Mythos der Verwandlung sucht. In der Figur des Tricksters, die Canetti vermutlich der ethnologischen Abhandlung "The Trickster" von Paul Radin entlehnt hat, "treffen sich" seiner Auffassung nach "die Wirkung des Befehls und der Verwandlung". Der Trickster als Verwandlerfigur ist bei Canetti natürlich der Allegoriker par excellence, wenn man bereit ist zu konzedieren, dass die Allegorie keineswegs wie ein Fixierbad für sprachlichen Sinn funktioniert. Vielmehr kennzeichnet die allegorische Struktur die in ihr vollzogene semantische Synthesis als ein prekäres, weil niemals zum Stillstand kommendes Unternehmen. Das bedeutet aber nicht, dass man dabei einer trivialpostmodernen, um entscheidende Reflexionen Derridas oder de Mans verkürzten Aktualisierung des Allegoriebegriffs zuzustimmen hat, derzufolge dieser einst auf Totalisierung festgelegte Tropus nunmehr die bloße Zersetzung von Sinn anzeigen soll. Vielmehr lässt sich an Canettis Texten eine durchgängige Janusköpfigkeit herausarbeiten: als Widerstreit von De- und Rekonstruktion, von Differenz und Synthese zwischen dem materiellen Sprachzeichen, seiner wörtlichen und seiner übertragenen Bedeutung im hermeneutischen Verfahren der Allegorese und schließlich die Dialektik der dekonstruktiven Strategie, die darin besteht, dass die sprachliche Sinnproduktion insgesamt zwar in Aporien geleitet wird, was aber logisch nicht möglich ist, ohne die Existenz semantischer Hypothesen vorauszusetzen. Dementsprechend steht der Trickster auf der Schwelle zwischen Sinnauflösung und -stiftung, die die Ambivalenz der Sprache insgesamt kennzeichnet, und wird für Canetti zum Urbild des Dichters. Gerhard Neumann hat in seiner subtilen Analyse des Trickster-Begriffs bei Canetti eine Verbindungslinie zu den Texten Kafkas (vor allem zu dessen Briefwechsel mit Felice Bauer) gezogen, dessen "Ausbrechen aus dem Teufelskreis von Befehlsempfang und Befehlsproduktion" laut Neumann "im Zeichen von Sprachspiel, Namenspiel, Verwandlung und Poesie" steht.

Daher verwundert es nicht weiter, dass als eine zentrale 'Einverleibung' Canettis Franz Kafka gilt, dessen Texte er ebenfalls als Texturen der Verwandlung des menschlichen Körpers in Schrift liest. Für Canetti ist Kafka "[u]nter allen Dichtern [...] der größte Experte der Macht. Er hat sie in jedem ihrer Aspekte erlebt und gestaltet". Wenn Canetti in der Einleitung seines Essays "Der andere Prozeß" (1968) davon spricht, dass die mitunter quälenden Briefe Kafkas an Felice Bauer in ihn "eingegangen" sind, ihm als "Nahrung" dienen, präsentiert er sich einmal mehr als "Menschenfresser". Kafkas Lektüre der Welt führt in die für Canetti atemberaubende Vollkommenheit seiner Texte, die zum Inbegriff der Darstellung der entstellten Welt der Moderne geworden ist. In ihnen spiegele sich der metamorphe Prozess der Literatur: jener "andere Prozeß", der jedweden sozialen Zwangsapparat und seine Mechanismen transzendiert. Schreiben mit "vollständiger Öffnung des Leibes und der Seele", so ein Tagebuchnotat Kafkas, darf nicht als ästhetisches Programm einer intimen Bekenntnisliteratur verstanden werden; es bezeichnet vielmehr einen "Zusammenhang" des Schreibens, in dem sich der schreibende Körper in den fremden Text-Körper der literarischen Schrift verwandelt. In ihm müssen die Alltagsspuren des Ichs gänzlich verwischt und autonome, nur mehr sich selbst bedeutende literarische Signifikanz geworden sein. In Canettis und in Kafkas Sinne "gelungene" Literatur kristallisiert sich aus dem Schreibfluss heraus und sperrt sich als vollständig sich selbst genügendes Ganzes ab, das zwar auf den ersten Blick als sinnlos erscheinen mag, besser jedoch im Sinne Barthes' als unlesbar zu bezeichnen wäre. Barthes nennt bekanntlich diejenigen Texte lesbar, "die dem geschlossenen System des Abendlandes verpflichtet, den Zwecken dieses Systems entsprechend fabriziert und dem Gesetz des Signifikats ergeben sind". Gleichwohl widersetzen sich Kafkas Texte, wie Thomas Anz bemerkt hat, einer vielfach gepflegten eindimensionalen Lektüre, die "die historischen Kontexte und das individuelle Subjekt des Autors mit programmatischer Gleichgültigkeit ausklammern", was notabene auch völlig undenkbar ist, wenn der schreibende Körper nicht verschwindet, sondern sich in Schrift verwandelt.

Ähnlich wie Canetti hat Kafka niemals über etwas anderes als über sich selbst geschrieben, wie er in mehreren Briefen an Milena Jesenská behauptet, nur ist die Präsenz dieses "Selbst" im künstlerisch abgeschlossenen Text restlos gestrichen und zur Schriftbewegung geworden. Der Hochschätzung der Sprache entspricht dabei die Geringschätzung des Körpers. Damit der schreibende Körper sich in Texte verwandeln kann, muss der "aus einer Rumpelkammer gezogene Körper", der ansonsten zu nichts taugt, "55 kg Nacktgewicht", das keine Waage registriert, so klein werden, dass er durch das Nadelöhr der literarischen Imagination hindurchspringen kann, um fortan ein Leben als "Gespenst" in schriftgewordener Fiktion zu fristen. Kafkas viel zitierte "Koncentration auf das Schreiben hin" lebt von einer umfassenden Reduktion des Körpers, der überall dort, wo er noch störend in das Reich der Texte hineinragt, künstlich zurückgedrängt werden muss. Elias Canetti liest Kafkas Texte in diesem Sinne als das Sich-Herausschreiben des Autors aus einem System von Verwundungen, die seinem Körper durch die herrschende Macht zugefügt wurden. Diese Vorstellung führt Canetti zu einer Semantik der Diminutiva, die aus Kafkas Texten ableitbar seien. Den Wunsch, immer kleiner zu werden und schließlich ganz im eigenen Wort verschwinden, hat sich Canetti über die Lektüre der Texte Kafkas, für den die zerstörende Lust an der Verringerung seiner selbst bis zum entscheidenden kreativen Faktor geworden ist, mehr und mehr zu eigen gemacht. Canetti hat diese Poetologie des Verschwindens übernommen, hat sie präzisiert, indem er sie mit seinen eigenen Reflexionen über Macht und Tod in gegenläufige Übereinstimmung brachte: "Durch leibliche Verringerung entzog er sich Macht und hatte dadurch weniger teil an ihr, auch diese Askese war gegen Macht gerichtet. Derselbe Hang zum Verschwinden zeigt sich in der Beziehung zu seinem Namen [...]. In den Briefen an Felice kommt es vor, daß der Name immer kleiner wird und schließlich ganz verschwindet. - Am erstaunlichsten ist ein anderes Mittel, über das er so souverän verfügt wie sonst nur die Chinesen: die Verwandlung ins Kleine. Da er Gewalt verabscheute, sich aber auch die Kraft nicht zutraute, die zu ihrer Bestreitung vonnöten ist, vergrößerte er den Abstand zwischen dem Stärkeren und sich, indem er im Hinblick auf das Starke immer kleiner wurde". Den hier beschriebenen Schwundprozess hat Canetti mit Bezug auf sich selbst in immer wieder neuen Annäherungen in seinen Aufzeichnungen thematisiert, etwa wenn er bemerkt: "Schön wäre es zu verschwinden. Unauffindbar. Schön wäre es, nur selber zu wissen, daß man verschwunden ist". Neumann sieht hierin die Manifestation einer "neuen Poetologie": "der Frage nach der Entstehung, nach dem Erwachsen der Verwandlungskraft des Menschen und seiner dichterischen Sprache aus den Identitätsaporien der Gesellschaft des beginnenden 20. Jahrhunderts".

Auch für Canettis Texte ist die Geringschätzung alles Körperlichen von erheblicher Bedeutung. Dazu gehört nicht nur die wiederholt bekannte Verachtung von Erotik und Sexualität, sondern auch die unverhohlene Identifikation mit Menschen, deren reduzierte Körperlichkeit mit geistiger Überlegenheit einhergeht. Das gilt nicht nur für den riesigen organlosen Bücher-Leib, den Kien in der "Blendung" mit sich herumträgt und der zur Ergänzung seines Körpers dient, sondern auch für den gelähmten Philosophiestudenten Thomas Marek, dem sich Canetti im zweiten Teil seiner Autobiografie zuwendet. Was ihn an diesem körperlich verstümmelten jungen Mann fasziniert, ist dessen Willensstärke und dessen unbändiger Ehrgeiz in geistigen Dingen. "An Thomas Marek zog mich vieles an", bekennt Canetti, "am meisten die Anstrengung, die er Tag für Tag daran wandte, seiner Ohnmacht Herr zu werden [...]. Ich bewunderte ihn, weil er sich durch seine Geistigkeit eine Überlegenheit gewann, die ihn aus einem Gegenstand des Mitleids in eine Figur verwandelte, zu der man pilgerte". Wenn Canetti für sich selbst ein langes Leben wünscht, will er in erster Linie nicht die Materie des Körpers bewahren, sondern den Geist, der in dieser Materie wohnt. Wer - wie Canetti - im Text überleben will, muss zuvor das Leben in den Text hineingeschrieben haben, die Wirklichkeit in Literatur verwandelt haben. Nur so kann aus dem sterblichen Körper ein unsterblicher Text-Körper werden. Zwar beteuert Canetti immer wieder, dass er "alle, die mit einem waren", in diesem Text-Körper bergen wolle, dass er sie mitzunehmen gedenke in eine "Unsterblichkeit, in der alles wirksam wird, das geringste wie das größte", doch solcher Intention widerspricht, dass Canetti sehr wohl differenziert zwischen Texten, die er buchstäblich in den eigenen Text rettet, und solchen, die er darin bloß vorkommen lässt - nicht als gerettete, sondern als besiegte, erledigte Gegenstände. Dies erhellt eine Notiz in der "Provinz des Menschen": "In jedem Leben lassen sich die Toten finden, von denen einer gezehrt hat. Bei zarten guten, rohen, schlechten Menschen, - überall sind die mißbrauchten Toten da". Dem Dichter fällt mithin die Eigenschaft, "Gegenbild" des Machthabers zu sein, keineswegs so selbstverständlich zu, wie es Canetti gelegentlich betont hat. Dies ist die utopische Dimension, die sich aus dem Kafka-Essay eruieren lässt: Die Verwandlungen, deren "Hüter" der Dichter sein soll, bewahren das Archiv der Intertexte und wirken Machtgelüsten entgegen.

Darüber hinaus wäre es lohnenswert, der Frage nachzugehen, inwiefern Canetti, über Kafka, den "größten Experten der Macht" schreibend, nicht auch über sich selbst schreibt. Bedenkt man, dass er sich Kafka wie "Nahrung" einverleibt hat, so ließe sich der Prager Schriftsteller durchaus im Sinne Canettis als "mißbrauchter Toter" verstehen, dem er allerdings "sein eigenes Leben leiht", um ihn durch "Verwandlung" vor dem Tod zu retten, ihn zu "verewigen". In einem der Briefe Kafkas an Felice Bauer fällt Canetti "das bestürzende Wort von der 'Angst des Aufrechtstehens'" auf, das seine Angst vor Machtausübung zum Ausdruck bringt. In einer Notiz in der "Provinz des Menschen" findet sich die sublimierte Lust an der eigenen Machtfülle, wenn er bemerkt, dass er "vielleicht gern der einzige [Dichter] wäre", zumindest unter den Zeitgenossen. Zu Recht bemerkt Gerhard Melzer, dass "Canetti tötet, indem er schreibt. [...] Er tut es nicht bloß abstrakt, indem er auf das Überleben seines Werkes hinarbeitet, sondern auch konkret, indem er diesem Werk immer wieder Allegorien seiner Einzigkeit einschreibt". Als 'symbolischer Machthaber' ist Canetti hier nicht weit entfernt von dem Paranoiker Schreber, aber auch nicht von Kafka, der nicht nur Opfer der Macht, sondern - schreibend - auch Machtausübender ist, etwa wenn er Felice Bauer durch seine Texte an sich binden will, sie durch sein Schreiben "nähren" will, in dem Moment aber von sich stößt, als sie ihm zur Gefahr wird. Kafkas Texte und Briefe als "Nahrung" unterstreichen die von Canetti gepflegte produktive Einverleibung. Ihm ist die Vorstellung des Künstlers als "verhinderter Machthaber" (so über Swift) und als "Täter" (so über den Bildhauer Fritz Wotruba) durchaus nicht fremd. Man darf daher seine Aufzeichnung aus dem Jahr 1942, er "habe noch nie von einem Menschen gehört, der die Macht attackiert hat, ohne sie für sich zu wollen", wohl auf ihn selbst ebenso wie auf Kafka beziehen. Als "Hüter der Verwandlung" bekämpft der Dichter zwar ständig die Versuchungen der Macht, unterliegt ihnen aber, wenn auch in erster Linie symbolisch in den Texten, immer wieder - wie Kafka.

Leben, um beständig schreibend auf den Punkt zu kommen und so sich selbst und seinem Schreiben ein Ende zu machen, war allerdings eher die Maxime Kafkas als Canettis. Die selbstgewählte Einsamkeit des Schriftstellers findet hier ihr Extrem. In einem Brief an Felice Bauer vom 26. Juni 1913 bemerkt Kafka: "Ich brauche zu meinem Schreiben Abgeschiedenheit, nicht wie ein 'Einsiedler', das wäre nicht genug, sondern wie ein Toter. Schreiben in diesem Sinne ist ein tiefer Schlaf, also Tod, und so wie man einen Toten nicht aus seinem Grabe ziehen wird und kann, so auch mich nicht vom Schreibtisch, in der Nacht". Vor allem in der französischen Literatur, aber auch bei Ossip Mandel'štam, findet sich diese 'Thanatopoetik' ins Existenzielle überhöht. Felix Philipp Ingold hat diesbezüglich auf Maurice Blanchot (in seinen Versuchen über Kafka) und Edmond Jabès hingewiesen, die den Zusammenhang von Schreiben und Tod ausgebildet haben. Zu diesen Ansätzen steht Canettis Lebens-Schrift in einem diametralen Verhältnis, interessiert er sich doch primär für das Verschwinden des Schreibenden im Wort, nicht aber für eine Todes-Schrift.

Für die Verwandlung ins Kleine hat Canetti mitunter auch auf die Materialität der Schrift zurückgegriffen und sich der dinghaften Metapher des Bleistiftes bedient, mit dem er zu schreiben pflegte, also des einzigen Schreibgerätes, das durch seinen täglichen und nächtlichen Gebrauch immer kleiner wurde, bis es zuletzt tatsächlich "verschwand". Nicht umsonst lagen Dutzende von Bleistiften stets gespitzt auf seinem Schreibtisch und ebenso wenig überraschend ist seine Vorliebe für Robert Walser, den einzigen Schriftsteller, den er, gemäß einer Auskunft von Werner Morlang, dem langjährigen Leiter des Robert Walser-Archivs in Zürich und Herausgeber von dessen mikrografischem Nachlass, "dem großen Franz Kafka an die Seite stellen würde". Die Verwandlung ins Kleine lässt an Walsers Mikrogramme denken, jene ins Winzigste und Unlesbarste sich zurückbildenden Schriftzeichen, die - als Text kaum noch entzifferbar - mit immer wieder neu gespitzten Bleistiften im Millimeterbereich fixiert wurden. Angesichts dieses Schriftminimalismus erkennt Canetti, "wie vor der Macht nur das Sich-ganz-klein-Machen hilft". Ähnlich wie für die Texte Kafkas und Canettis gehört zu den signifikantesten Merkmalen der Texte Walsers die für die moderne Poetik grundlegende Selbstreferentialität seiner Prosa und ihre durchgängige, in der späten Prosa sich immer mehr facettierende Intertextualität.

II.
Bei Walser wie auch bei Canetti reicht die Poetik der Intertextualität weit über den Prozess des Lesens und die verschriftlichte Literatur hinaus in den Bereich der akustischen Medien hinein und bezieht vor allem die Einverleibung und anschließende Wiedergabe von Stimmen im Text aufgrund ihrer Selbstrelationalität als ästhetisches Paradigma mit ein. Damit sind zum einen die modernen Geräusch-Inflationen gemeint, zum anderen aber auch die neuen Medien wie Grammofon, Telefon und Radio, die Friedrich A. Kittler in seinem viel beachteten Buch über die "Aufschreibesysteme 1800/1900" in den Blick genommen hat. Nach Kittler entsteht deutsche Dichtung über neue Alphabetisierungs- und Literarisierungspraktiken, die zum Verschwinden der Materialität der Signifikanten und zur Oralisierung der Buchstaben führen. Dichtung, auf diese Weise zum Universalmedium avanciert, das Sprache, Bilder und Töne gleichermaßen speichert, überträgt und verarbeitet, zerfällt mit der Ausdifferenzierung der Medien in Foto-, Fono- und Telegrafie, die jedem einzelnen Sinn sein analoges Medium zuordnen, und damit in 'Literatur', deren Buchstäblichkeit Material von avantgardistischer Sprachzerhackung und von Psychophysik wird. Die neuen akustischen Medien fordern die Literatur vor allem dadurch heraus, dass sie den scheinbar direkten Zusammenhang von Sprechen und Hören aufbrechen. Der ursprüngliche Laut und seine technische Reproduktion sind genauso räumlich und zeitlich getrennt wie Stimme und Ohr, was der Geräuschhistoriker Murray Schafer als "Schizophonie" bezeichnet hat. Diese Spaltung hat die Literatur der Jahrhundertwende zu einer neuen Selbstdefinition inspiriert. So sind etwa Robert Musils schriftstellerische Anfänge von der Erfahrung einer radikalen Spaltung geprägt, die im eigenen, aber abgetrennten Ich ihr Objekt hat: "Man ist ein interessantes Objekt, ohne es zu bemerken; man könnte das interessanteste Buch über sich schreiben u. weiß nichts davon". Während sich für Musil diese Spaltung in einer neuen Ästhetik des Films kondensiert, wobei der künstlerische Prozess darin besteht, bestimmte "Bilder" oder Vorgänge vom Leben abzuspalten, um in ihnen bestimmte Gefühlsenergien oder Affekte zu verdichten, erkennt Rainer Maria Rilke in seinem Aufsatz "Ur-Geräusch" von 1919 die Revolution im akustischen Weltbild, im Verhältnis von Wirklichkeit und Subjekt, die das Grammofon bedeutet. Karl Kraus wiederum macht in der Vorrede zu seinem Weltkriegsdrama "Die letzten Tage der Menschheit" den Fonografen zum Emblem seines Schreibens, das der Zeit deren eigene Melodien in ihrer ganzen Grausamkeit vorspiele.

Auch Canettis "Ohralität", ein treffender Neologismus, den Peter Utz für Robert Walsers Verwendung akustischer Medien eingeführt hat, lässt sich diesbezüglich verorten: Ohne akustische Sensibilität gibt es keine Polyfonie in seiner Schrift, und ohne stimmhaftes Schreiben kein offenes Ohr für die Stimmen der Außenwelt. Sein Denkbild der "akustischen Maske", einer aus den Variationen von etwa fünfhundert Wörtern gebildeten Physiognomie, mit der sich die Sprecher voneinander abgrenzen, erläutert Canetti in einem mittlerweile berühmt gewordenen Interview mit der Wiener Zeitung "Sonntag" vom April 1937: "Gehen Sie in ein Volkslokal, setzen Sie sich an irgend einen Tisch und machen Sie die Bekanntschaft eines wildfremden Menschen. [...] Da werden Sie finden, daß ihr neuer Bekannter eine ganz eigentümliche Art des Sprechens an sich hat. [...] seine Sprechweise ist einmalig und unverwechselbar. Sie hat ihren eigenen Rhythmus. Er hebt die Sätze wenig von einander ab. Bestimmte Worte und Wendungen kehren immer wieder. Überhaupt besteht seine Sprache nur aus 500 Wörtern. Er behilft sich recht gewandt damit, es sind seine 500 Worte [...]". Canetti hat für die Gestaltung seiner "Ohralität" vor allem bei dem ihm bestens vertrauten und verehrten "Gott" Karl Kraus Anregungen erhalten, aus dessen Vorträgen er gelernt hat, dass die Sprache als gesprochene Sprache, als Stimme, eine eigene Qualität hat. Die akustische Präsenz des Menschen und die Nachahmung für die Bühnenfiguren erfahren bei Kraus eine nie dagewesene Bedeutung. Canetti bezeichnet dies treffend als "akustisches Zitat", das Kraus meisterhaft beherrsche. Als Modell dafür gelten sowohl die Vorlesekünste von Kraus als auch das Drama "Die letzten Tage der Menschheit", in dem Kraus eine Fülle Wiener Stimmen sich einverleibt und sie zu unvergesslichen, heute immer noch mit Grauen zu hörenden Szenen zusammengefügt hat. Wenn man Canettis eigene dramatische Versuche der Zeit - die "Komödie der Eitelkeit" oder "Hochzeit" - hört und sich verdeutlicht, wie kunstvoll sich der Erzähler mit seinen Figuren in der "Blendung" in erlebter Rede und innerem Monolog präsentiert, bekommt man einen guten Eindruck davon, wie sich die Polyfonie der akustischen Masken in die Texte eingeschrieben hat.

Wie Canetti an dem Sprecher Karl Kraus die extravagante Verwandlungsfähigkeit der Stimme hervorhob, so zeigte sich Erich Fried 1962 von Canettis Lesung von Teilen der "Hochzeit" außerordentlich beeindruckt. Es gebe kaum einen zeitgenössischen Dichter aus dem deutschen Sprachbereich, so Fried, "der ein Drama mit dreißig extrem verschiedenen Figuren mit so unheimlicher Präzision und Lebendigkeit zu lesen vermag". Die Wirkungskraft der frühen Dramen und des Romans beruht primär auf einem plötzlichen Wechsel von Fremd- und Verbindlichwerden ebenso unbedeutender, banaler wie erschreckender Stimmen: In der "Wörtlichkeit" selbst ist das Entsetzen. Der Schriftsteller Canetti hat von Kraus gelernt, aus dem zeitgenössischen Stimmengewirr diejenigen Stimmen herauszuhören, die sich am trefflichsten selbst verdächtigen. Er konzentriert sich darauf, die akustischen Masken im Moment der Selbstpreisgabe zu präsentieren, um dem eigenen "Gefühl, aus vielen Figuren zu bestehen", zum Ausdruck zu verhelfen. Dies ließe sich etwa an Kiens Haushaltshilfe und späterer Ehefrau Therese Krumbholz verdeutlichen, einer grotesken Figur, die mit übergroßen Ohren und breitem Mund sowie einem für sie charakteristischen überdimensionalen blauen Rock geschildert wird und stets dieselben Sprachfloskeln und Redewendungen spricht. Ähnlich wie Kien verkörpert sie das Wahn-System der Zeit als Merkmal der zerfallenen modernen Welt.

Mit einigem Recht hat Dagmar Lorenz darauf verwiesen, dass das Konzept der Figur "in der Literatur der Wiener Moderne eine geradezu kopernikanisch anmutende Umwandlung" erfahren habe, die sowohl von der Psychoanalyse als auch von Ernst Machs Ich-Dekonstruktion in seinen "Beiträgen zur Analyse der Empfindungen" ausgelöst wird. Ausgehend von Hofmannsthals Chandos-Brief begegnet man um die Jahrhundertwende einer Reihe von Autoren, deren Texte durch eine grundlegende Offenheit gekennzeichnet sind und die in radikaler Weise die Insuffizienz des Wortes diagnostizieren, dem es nicht mehr möglich sei, dem unbestimmten Fließen des Lebens zu begegnen. Viele Texte künden vom Schiffbruch des Subjekts, das zwischen sich und dem in ihm und um ihn herum tobenden Lebenschaos nicht mehr das Netz der Sprache zu legen vermöge, sondern sich in einem Wirbel von Texten und Bildern auflöse. Sichtbar wird der eklatante Widerspruch zwischen der Vorstellung von der Fragmentarisierung des Subjekts und der gleichzeitigen Suche nach einer beständigen Ich-Identität. So spiegeln die Texte den Versuch wider, trotz der Gewissheit, dass die Zeitalter geschlossener Erklärungssysteme vorbei sind, den Mangel an Weltdeutung im ästhetischen Entwurf zu beheben. "Unser ganzes Sein", behauptet Musil, "ist nichts als ein Delirium vieler", und "die tiefste Anlehnung des Menschen an seinen Mitmenschen [besteht] in dessen Ablehnung." Auch für Canetti ist die Person eine Vielheit, er gefällt sich in seiner Zerrissenheit, die ihm die Möglichkeit für weitere Verwandlungen und Erfahrungen gibt, und findet alle jene "erbärmlich", die ständig "nach Einheit schreien". Im "Geheimherz der Uhr" vermerkt liest sich Canettis Aufschreibesystem als "Charakterologie", wenn man bedenkt, dass das altgriechische Wort charaktär, die Einritzung, Ausprägung, die Doppelbedeutung von Schriftzeichen und Eigenart in sich vereint: "Jeder trägt eine Anzahl von Charakteren in sich, sie machen seinen Erfahrungsschatz aus und bestimmen das für ihn resultierende Bild der Menschheit. Allzuviel solche Typen gibt es nicht, sie werden weitergegeben und vererben sich von einer Generation zur anderen. [...] Es wäre nützlich, neue Charaktere zu erfinden, die noch nicht verbraucht sind und einem die Augen für sie wieder öffnen. Die Neigung, Menschen in ihrer Verschiedenartigkeit zu sehen, ist eine elementare und soll genährt werden."

Rekurriert man auf Canettis Bestiarium der Charakterbilder im "Ohrenzeugen", das die zu Figuren erstarrten Charakterzüge der Masse des 20. Jahrhunderts verkörpert, so ließe sich diese Sammlung möglicherweise noch um eine Charakterskizze erweitern: den 'Einverleiber', womit dann auch der Schriftsteller Elias Canetti zu seinem 100. Geburtstag endlich den ihm adäquaten Platz in seinen eigenen Texten gefunden hätte.

Im Text zitierte Literatur

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Steusloff, Axel Gunther: Autorschaft und Werk Elias Canetti. Subjekt - Sprache -
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