Cousinenkonflikte
Margarete Mauthner erzählt die Geschichte zweier jüdischer Familien - Eine literar- und kulturhistorische Trouvaille des Musil-Biografen Karl Corino
Von Oliver Pfohlmann
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDer Geheime Kommerzienrat Joel Wolff Meyer hätte sich wohl kaum träumen lassen, dass jene Villa, die er 1840 im Berliner Tiergarten als Landhaus für den Sommeraufenthalt errichten ließ, einmal in die Weltliteratur eingehen würde. Gleich drei Mal machte Robert Musil das Anwesen Matthäikirchstraße 1, stimuliert von der darin herrschenden schwül-sinnlichen, unheimlichen, sozusagen "irratioïden" Atmosphäre, zum geheimen Schauplatz seiner Werke: in der frühen Novelle "Das verzauberte Haus", in der späteren Fassung "Die Versuchung der stillen Veronika" sowie in seinem Drama "Die Schwärmer".
Dass man nun etwas mehr weiß von diesem rätselhaften Gebäude, das im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde, und von den beiden jüdischen Familien, denen es über 80 Jahre lang gehörte, ist Karl Corino zu verdanken. Auf den Spuren von Musils Frau Martha stieß der Biograf in Südafrika auf Nachfahren der Familie. 1939 fanden Angehörige Marthas, darunter auch ihre Cousine und Schwägerin Margarete Mauthner, dort Zuflucht vor den Nazis. Margarete Mauthner, die 1947 starb, hinterließ, wie Corino entdeckte, ein Manuskript, in dem sie die Geschichte ihrer Familie und ihres Lebens erzählt - eine kultur- wie literarhistorische Trouvaille!
Vieles aus diesem bedeutenden Quellenwerk ist bereits in das Martha-Kapitel von Corinos großer Musil-Biografie (vgl. literaturkritik.de 01/2004) eingegangen. Doch rechtfertigt nicht nur seine Bedeutung für die Musil-Forschung, sondern auch sein Wert als bewegendes Zeitdokument die separate Publikation. Margarete Mauthners Erinnerungen sind im Berliner Transit Verlag erschienen; ein bewegendes Vorwort der in Südafrika lebenden Urenkel der Autorin sowie ein Nachwort des Herausgebers ergänzen die Ausgabe. Gewöhnungsbedürftig an Margarete Mauthners Text ist freilich die für das Bildungsbürgertum dieser Epoche typische pathetische Diktion der Autorin, der "durchgehend hohe Ton", wie der Herausgeber schreibt, der stets "heiße Tränen" fließen lässt oder - wenn schon, denn schon - die "Krone der Liebe" auf dem "Haupte" fühlt. Doch lasse man sich nicht täuschen: Ihre Offenheit für die Moderne bewies die 1863 geborene Autorin, in zweiter Ehe mit Edmund Mauthner, einem Neffen des Philosophen Fritz Mauthner, verheiratet, als sie sich nach 1900 für den damals noch weitgehend verkannten Vincent van Gogh engagierte. Für Bruno und Paul Cassirer erstellte und übersetzte die mit Malern wie Lovis Corinth oder Max Liebermann verkehrende Kunstenthusiastin eine Ausgabe der Briefe van Goghs, die bis Ende der 20er-Jahre viele Auflagen erlebte.
Ihre Geschichte der beiden weit verzweigten und mehrfach durch Heirat und Verwandtenehen miteinander verbundenen Familien Meyer und Alexander schrieb Margarete Mauthner von 1915 bis 1917 für ihre Enkelin, war also nur für den privaten Gebrauch gedacht. Die beiden großbürgerlichen Sippen sind Beispiele für das emanzipierte, assimilierte preußische Judentum und hatten maßgeblichen Anteil am preußischen Wirtschaftsleben des 18. und 19. Jahrhunderts. Die heile Welt, die Margarete Mauthner, gestützt auf ein umfangreiches Familienarchiv, wieder auferstehen lässt, ist geprägt von patriarchalen Strukturen sowie von materiellem und kulturellem Wohlstand. Es herrschen die Grundsätze strenger Redlichkeit, und Frommheit und Königstreue sind hier ebenso miteinander verquickt wie persönliche Anspruchslosigkeit, Wohltätigkeit und Gewinnstreben. So zitiert die Autorin, sei es zur Erbauung, sei es zum Amüsement ihrer Enkelin, aus Briefen, in denen längst verstorbene Patriarchen ihren Nachkommen wortreich ihr geistiges Vermächtnis überreichen. Oder schwelgt in Erinnerungen, wie alljährlich zu Weihnachten aus England eine "große Eßkiste" mit Real Turtle Soup, Plumpudding und Stilton-Käse geliefert wurde. Oder erzählt wie ihr Vater, der Bankdirektor Julius Alexander, sich nach dem Börsenkrach mit Blankversen Goethes tröstete.
Der letzte, für die Musil-Forschung eigentlich relevante Teil der Familiengeschichte berichtet von der unglücklichen Verbindung der damals 18-jährigen Martha Heimann mit Margaretes Bruder, dem jungen augenleidenden Maler Fritz Alexander im Jahr 1895. Musil, den diese frühe Liebe seiner Frau zeitlebens beschäftigte, hat der Tragödie - Fritz Alexander starb noch auf der Hochzeitsreise in Florenz an Typhus - im "Mann ohne Eigenschaften" als Teil der Lebensgeschichte von Ulrichs Schwester Agathe ein literarisches Denkmal gesetzt.
Margaretes Darstellung verrät einiges von ihrer ambivalenten Haltung, wenn nicht gar ihrem Misstrauen gegenüber ihrer elf Jahre jüngeren Cousine Martha. Während sie, Margarete, zum Zeitpunkt der Tragödie noch an der Seite ihres ersten Mannes eine trostlose Ehe führte, selbst aber für ihren Bruder Fritz eine geradezu "animalische Geschwisterzärtlichkeit" empfand, musste sie erleben, wie hier eine romantische Liebe alle Widerstände ignorierte und sich zu verwirklichen suchte.
Vor allem an dem gegensätzlichen, gefühlsbetonten Charakter Marthas rieb sich Margarete noch in der Erinnerung knapp zwanzig Jahre später: Man fühlte, schreibt Margarete über Martha, "in ihr die komplizierte Natur, die aus dem Rahmen heraus, in den sie die Geburt gebannt hatte, das Recht des Lebens, ungebändigt durch äußere Rücksichten und innere Verpflichtungen, für sich in Anspruch zu nehmen gewillt war". "Ohne eigentlich hübsch zu sein" und mit einem "etwas breiten Mund", habe Martha etwas "Geheimnisvolles" an sich gehabt, das "das einfache, natürliche Familienvertrauen unmöglich" machte. Zwischen den Zeilen wird deutlich, dass Margarete der sorglosen, spontanen Martha bewusst oder unbewusst eine Mitschuld an der zum Tode ihres Bruders führenden Erkrankung gab.
Auch dafür, dass Martha sich später weigerte, der Überführung der Urne mit der Asche Fritz Alexanders nach Friedrichsfelde beizuwohnen, hatte Margarete wenig Verständnis: "Ihr Aufbäumen war zur verderblichen Flamme aufgelodert, und jetzt schritt sie auf neuen Wegen menschlichen Irrens", schreibt sie unter Anspielung auf Marthas Affäre mit dem verheirateten Galeristen Paul Cassirer im Jahr 1897. Zu gern wüsste man, was Margarete über Marthas spätere Ehe mit Robert Musil gedacht hat.