Weite und Vielfalt der DDR-Literaturforschung

Ein Sammelband sucht neue Zugänge

Von Ulrich KrellnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Krellner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Literatur der DDR aus dem Abstand von anderthalb Jahrzehnten als ein historisches Phänomen aufzufassen, ist nicht nur legitim, sondern auch begrüßenswert - gibt es doch in der ausufernden Forschungslandschaft einen Bedarf an verlässlichen und vor allem methodisch klar umrissenen Darstellungen, die den diskursiven Raum der Literaturproduktion in vierzig Jahren DDR wissenschaftlich erschließen. Der Herausgeber Franz Huberth, der eine "gewisse Beliebigkeit in der Schwerpunktsetzung" bei der Behandlung dieses Themas zu beobachten glaubt, hat deshalb sowohl ausgewiesene Kenner der DDR-Literatur als auch Beiträge von jüngeren Forschern versammelt, die das literarhistorische Feld DDR neu konturieren sollen. Interessanterweise enthält das Buch aber auch Artikel von Autoren, die einst als Akteure den Gegenstand der aktuellen Untersuchung mit konstituiert haben und nun in der Auseinandersetzung mit ihrer einstigen Rolle noch einmal zu Wort kommen.

Im Vorwort profiliert der Herausgeber zwei konträre Funktionen, die der Literatur unter den Bedingungen des 'realexistierenden' Sozialismus zugefallen sind: nämlich zum einen als offiziöses Transportmedium der Staatsideologie und zum anderen als Forum einer Gegenöffentlichkeit, die non-konformen Stimmen eine Artikulationsmöglichkeit zu verschaffen suchte. Als Beispiel für die Wirkungsmacht staatlicher Sanktionen dient ihm die literarische Behandlung der Vergewaltigung deutscher Frauen durch sowjetische Soldaten - ein Sachverhalt, der in der DDR-Literatur lange tabuisiert und erst nach der Wende offen angesprochen wurde. Die Behauptung allerdings, das Thema sei wie in der westdeutschen Literatur auch beim übergesiedelten Uwe Johnson lediglich mit einem "kurze[n] Hinweis" abgehandelt worden, belegt eher eine Textkenntnislücke Huberths als eine inhaltliche Leerstelle der angeführten "Jahrestage". Entfaltet dieser Roman Johnsons doch eine panoramatische Gesamtschau der Nachkriegszeit in Nordwestmecklenburg, in der auch das Schicksal mehrerer vergewaltigter Frauen detailliert beschrieben wird.

Die zehn Artikel des Bands bieten höchst unterschiedliche - und zum Teil sehr interessante - Perspektiven auf einzelne Autorengruppen, literarische Institutionen und Genres sowie auf die prinzipielle Situation der Literatur im politischen Raum der ehemaligen DDR. Matthias Braun etwa porträtiert die 1948 gegründete Zeitschrift "Sinn und Form", die in ihrer Anfangszeit auch von westlichen Kritikern zu den besten Literaturblättern Europas gezählt wurde. Nach der Entlassung des Gründungschefredakteurs Peter Huchel war das Blatt jedoch massiven Eingriffen durch staatliche Organe ausgesetzt und konnte seinen Anspruch, eine "linke Internationale" zu etablieren, nur durchsetzen, indem auf jede Diskussion von politischen oder ethisch-moralischen Alternativkonzepten zur Staatsdoktrin verzichtet wurde. Sehr lesenswert ist auch Kurt Habitzels Artikel zum "historischen Roman der DDR", der u. a. zum überraschenden Ergebnis kommt, dass im Jahrzehnt nach der pauschalen Diskreditierung des historischen Genres im Zeichen des "Bitterfelder Weges" (1959) die Produktion von historischen Romanen in der DDR ihren quantitativen Höhepunkt erreichte.

Einem gleichfalls nur selten behandelten Genre widmet sich Reinhard Hillich: der DDR-Krimiliteratur. Die aufschluss- und materialreiche Untersuchung zeigt, dass Kriminalromane nicht nur eine (im hochsubventionierten DDR-Literaturbetrieb oft marginalisierte) finanzielle Bedeutung für die Verlage besaßen, sondern ab den 70er-Jahren auch einen "beachtlichen Trend zur Realitätsnähe" ausbildeten: "Was selten im ND stand, davon erzählten Krimiautoren [...]: von der sozialen Isolation in den Neubaugebieten [...], von Prostitution [...], vom erwachenden Interesse an Sekten und okkulten Praktiken, [...] vom Leben hinter Gittern [...], von der Szene der Homosexuellen [...], vom Milieu der Berufsverbrecher [...] und immer wieder von den Symptomen und Auswirkungen der Mangelwirtschaft."

Ines Geipels Beitrag ist teilweise dem von ihr mitinitiierten Projekt eines "Archivs unterdrückter Literatur in der DDR" verpflichtet und untersucht die zwischen Anpassung und Widerstand changierenden (und seinerzeit zum Teil unveröffentlicht gebliebenen) Texte von DDR-Autorinnen, deren Schreiben anhand der Leitbegriffe "Aufbruch, Dienstbarkeit und Widerstand" erläutert wird. Weniger analytisch ausgerichtet, sondern eher als Zeitzeugenberichte konzipiert sind hingegen die Beiträge von Peter Bohley, Fritz Mierau und Karsten Dümmel, die eine Synopse der literarischen Spuren des 17. Juni 1953, Insider-Anmerkungen zur einstigen "Taktik des Büchermachens" und Einblicke in die (überwachte) Tätigkeit sowohl kirchlicher als auch unabhängiger Arbeitskreise in Sachsen und Thüringen liefern.

Den Sanktionsmechanismen der Staatsmacht und den komplementären Anpassungs- oder Verweigerungsstrategien der Autoren widmet sich Franz Huberth anhand der Schriftstellerkarrieren von Johannes R. Becher, Franz Fühmann und Uwe Kolbe. Wenn er dabei auch Christa Wolfs - für diese Fragestellung höchst aufschlussreiche - Erzählung "Was bleibt" anspricht und als "relativ harmlos" kennzeichnet, kann das jedoch im Zusammenhang einer historisch verfahrenden Untersuchung nicht völlig überzeugen. Harmlos könnte das Buch nach dem Ende von SED-Diktatur und Stasistaat erscheinen. Hätte die Verfasserin aber versucht, einen Prosatext, der ihre Überwachung durch den Staatssicherheitsdienst unverblümt beim Namen nennt, tatsächlich 1979 zu publizieren, wäre sie damit in der DDR mit Sicherheit gescheitert. Sie hätte aber eine offene Konfrontation mit der DDR-Führung riskiert, die einer Aufkündigung ihrer (Rest-)Loyalität gleichgekommen wäre - und zweifellos eine völlig anders geartete Debatte ins Rollen gebracht, als sie elf Jahre später dann tatsächlich stattfand. Die rezeptive Umpolung, die Christa Wolfs Text nach der Wende erfuhr, hätte angemessener beschrieben werden können, wenn Huberth sein Konzept, Literatur als "Spiegel" sozialer Wirklichkeit aufzufassen (das offenbar an Lukács' Postulat einer 'Widerspiegelungsästhetik' anschließt), um rezeptionsgeschichtliche und literatursoziologische Fragestellungen erweitert hätte.

Um eine solche methodische Erweiterung der Analyse ist es Wolfgang Emmerich zu tun, der in einem interessanten Beitrag das "Generationsparadigma in der DDR-Literaturgeschichte" für die Schriftsteller der Jahrgänge 1933-1935 analysiert. Er fragt zunächst (mit Karl Mannheim) nach dem "natürlichen Weltbild" dieser Alterskohorte, geht dann der "Relevanz der sozialen Herkunft" nach und kommt schließlich auf die konkreten Folgen der sozio-biografischen Prägung für die genannte Autorengruppe zu sprechen. Auf diesem Wege wird es möglich, die Anhänglichkeit gegenüber dem "autoritären Vater DDR" einer nicht nur zahlenmäßig wichtigen Gruppe von literarischen Akteuren, die sich erst nach 1968 schrittweise von ihrer Staatsloyalität zu lösen begannen, soziologisch zu begründen - auch wenn der nach Ansicht Emmerichs bedeutendste dieser Schriftsteller, Uwe Johnson, mit seinem bereits 1959 umgesetzten Entschluss, die DDR zu verlassen, die Grenzen des angelegten Erklärungsschemas wieder zu sprengen scheint.

Ganz im Einklang mit Emmerichs Autorenschema steht hingegen der Artikel des 1935 geborenen Heinz Czechowski, der - wie zur Bestätigung der Generationenthese - die Ambivalenzen der "Lyrik hinter der Mauer" herausarbeitet und mit der Formel vom "gelinden 'Widerstand'" die paradoxe Situation der zur Kritik und zum Bleiben in der DDR entschlossenen Schriftsteller beschreibt. Weniger ein Beispiel genuiner DDR-Lyrik als vielmehr ein Zeugnis des Übergangs bilden Uwe Kolbes für den Schlussteil des Bandes herausgesuchte Gedichte - zumal zwei Drittel davon erst nach 1989 entstanden sind und in ihrer melancholischen Utopiesuche eher Dokumente der 'DDR-Literatur der 90er-Jahre' als ein Beitrag "zu einer historischen Betrachtung der DDR-Literatur" sind, wie der Untertitel des Bandes ihn in Aussicht stellt - und in der Mehrzahl der Artikel auch einlöst.

Insgesamt liefert das vorliegende Buch einen thematisch und methodisch breit gefächerten Zugang zu einem literarhistorisch klar konturierten Gegenstand, dessen Erschließung, trotz einer Vielzahl sachbezogener Publikationen, noch am Anfang steht. Heinz Czechowskis Befund, "Über die DDR war alles noch zu ihren Lebzeiten gesagt", trifft eben nur für die literarische 'Widerspiegelung' der ostdeutschen Gesellschaft zum Zeitpunkt ihres Bestehens zu. Für die historische Einordnung und wissenschaftliche Erkundung der in der DDR entstandenen Literatur hat der vorliegende Sammelband zum Teil bemerkenswerte Ansatzpunkte geliefert. Deren Entfaltung und methodisch-systematische Ausarbeitung ist jedoch nach wie vor als ein Desiderat anzusehen.

Titelbild

Franz Huberth (Hg.): Die DDR im Spiegel ihrer Literatur. Beiträge zu einer historischen Betrachtung der DDR-Literatur.
Duncker & Humblot, Berlin 2005.
178 Seiten, 36,00 EUR.
ISBN-10: 3428115929

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