Wenn Dichter lesen

Literatur im öffentlichen Raum

Von Markus SteinmayrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Markus Steinmayr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lesungen gehören zur Literatur und dienen ihrem Wohl. Das Verhältnis der Literatur zum öffentlichen Raum ist aber dennoch zwiespältig. Einerseits ist die Literatur seit Erfindung des privaten Lesens immer mehr aus dem öffentlichen Raum verschwunden. Die Lektüre ist in private Zirkel hineingewandert - vormals religiöse Bibelkreise, dann zur gemeinsamen Lektüre profaner Literatur in den zahlreichen Gesellschaften des 18. Jahrhunderts und schließlich hin zur rein privaten, solitären Lektüre. Andererseits spiegelt sich in der Nachfrage des ja heutzutage primär solitär lesenden Publikums nach authentischen Zeugnissen des literarischen Lebens in Form von Dichterlesungen eine Sehnsucht wider, die die private Erfahrung der Lektüre am öffentlichen Auftritt des Dichters überprüfen möchte. Durch die Lesung soll eine Gemeinschaft von Lesenden entstehen, die sich durch die gemeinsame Erfahrung der Lektüre allererst konstituiert und durch die gemeinsam besuchte Lesung stabilisiert.

Keiner hat dies möglicherweise besser erkannt und schöner inszeniert als Stefan George. Die Lektüre war bei ihm zugleich Dienst an der Literatur und Pflichterfüllung. Las der Dichter selbst, so lauschten seine Jünger der Stimme der Meisters. Die Lesungen dienten aber nicht nur der Verehrung des Dichters, sondern in den Lesungen war Literatur ein Geschehen an sich. Erst in der Stimme des Autors erfüllte sich Georges Literatur.

Nun will aber nicht jeder Gegenwartsautor ein Meister sein, dessen Lesungen einer Messe gleichen, in der er das priesterliche Amt übernimmt. Das hat nicht nur mit dem schwindenden Verständnis für religiöse Rituale zu tun. Vielmehr sind die Autorenlesungen höchst widersprüchliche Veranstaltungen geworden, in denen es nur an zweiter Stelle um Vermittlung von Literatur geht. Primär scheint wohl das Interesse des Publikums zu sein, hinter den vieldeutigen Zeichen des Textes die Persönlichkeit des Autors zu entdecken. Die Persönlichkeit des Dichters und sein Privates werden so in die Rolle von Autoritäten gerückt, denen es zukommt, die Dichtung zu legitimieren.

Dabei ist dies ein sehr verkürztes Verständnis von Lesungen. Zum einen, weil die Kriterien für ein Gelingen oder auch Misslingen von Lesungen vollkommen unklar sind. Denn Idiosynkrasie von Autoren oder geheime Wünsche von Lesungsbesuchern sind nur schwer evaluierbar. Deshalb ist auch die Frage, ob denn eine Lesung gelungen sei, nicht so einfach zu beantworten. Zeugnisse für die Schwierigkeit dieser Frage und für die Komplexität möglicher Antworten enthält der Sammelband "Auf kurze Distanz". Der Herausgeber Thomas Böhm, seines Zeichens Programmdirektor des Literaturhauses Köln, Organisator und manchmal wohl auch Opfer misslungener Lesungen, lässt in seinem Band nicht nur die Dichter zu Wort kommen. Vielmehr gibt der Band auch den am literarischen Leben (und Geschäft) Beteiligten wie den Buchhändlern, Rezitatoren, Literaturkritikern und professionellen Veranstaltern von Lesungen eine Stimme. Es geht in den Beiträgen unter anderem darum, ein, wie es im programmatischen Aufsatz des Herausgebers heißt, strikt "literarisches Verständnis" von Lesungen zu entwickeln. Die Frage nach Funktion und Wirkung von Literatur soll im Kontext der Lesung neu gestellt werden. Doch nicht nur das. Vielmehr müsse man die Lesung fast wie einen Roman oder eine Geschichte beurteilen. Gibt es interessante Figurenkonstellationen, schafft der Autor es, seine Figuren durch die Geschichte sich entwickeln zu lassen, gibt es Überraschungen? Überträgt man dies auf die Lesung, fallen mögliche Parallelen auf: Ist die Figurenkonstellation Autor/Veranstalter (bzw. Moderator) gelungen oder sollte man das Personal austauschen? Schafft der Veranstalter es, dem Stück Text, das der Autor vorliest, durch die Lesung ein sur plus zu verleihen oder bleibt es beim schlichten Vorlesen? Eine gelungene Lesung - sei es nun eine Autorenlesung oder eine Rezitation - ist ein Stück authentisch verkörperte Literatur jenseits von Selbstinszenierung und psychologisierenden Fragen aus dem Publikum. Dies zu vermitteln, dass es für die und mit der Literatur zu leben lohnt, ist ein hoher Anspruch an die Lesung. Aber manche Gegenstände geben sich nicht mit einfacher Vermittlung zufrieden. Und zu diesen Gegenständen gehört ganz sicherlich die Literatur.

Der erste Teil des Buchs besteht aus den schon erwähnten Interviews und Aufsätzen, der zweite aus einer amüsanten, instruktiven und verdienstvollen Materialsammlung zum Komplex 'Literarische Lesung', die Zitate von Aristoteles, Goethe, Rilke und vielen anderen enthält. Hier findet sich auch eine noch ungeschriebene Geschichte der Lesung. Wie nicht anders zu erwarten, hat der österreichische Schriftsteller Thomas Bernhard kein gutes Haar an Lesungen gelassen. So heißt es in seinem Roman "Alte Meister": "Nichts ist widerlicher als eine sogenannte Dichterlesung, sagte Reger, mir ist kaum etwas verhaßter, aber all diese Leute finden nichts dabei, überall ihren Mist vorzulesen".

Der Band versammelt neben Berichten über Beat-Performances, Poetry-Slammer im Kostüm einer überdimensionierten Teekanne und Originalinterviews mit Dichtern auch höchst kunstvolle (und amüsante) Essays. So sinniert der unvermeidliche Harry Rowohlt über seinen exorbitanten Whisky-Konsum, der Schriftsteller Georg Klein reflektiert darüber, welche Entfremdung es bedeuten kann, sich längst vergessene Sätze vorzulesen. Die Lyrikerin Brigitte Olschenski schlägt ein medientheoretisches Verständnis der Lesung vor, in dem die Stimme, und nicht die Lesung, als Medium der Literatur gilt, während der Rezitator und Schauspieler Bernt Hahn seine vorlesende Stimme an die lesende Stimme des Textes anpassen möchte. Richard Powers empfiehlt hingegen Askese: Man solle niemals eine solche Veranstaltung besuchen.

John von Düffel plädiert dafür, dass der vorlesende Dichter sich zum Diener des eigenen Textes machen solle. Er habe sich als Schauspieler seiner selbst und der Leser zu betrachten. In der Inszenierung kann es dann natürlich auch Fehler, Momente der Peinlichkeit und der Scham geben. Diese stellen dann Verdachtsmomente für das Publikum dar, die in der angedachten (aber wohl selten gestellten) Frage kulminieren, ob der Autor denn von seiner eigenen Geschichte so erschüttert und ergriffen sein, daß ihm jegliche Selbstkontrolle abhanden kommen müsse. In dieser Form wird eine Lesung eine öffentliche Therapiesitzung für das Publikum.

Judith Hermann berichtet davon, wie Fragen aus dem Publikum das eigene Schreiben positiv wie negativ irritieren und damit auch weiterbringen können. Insgesamt vermittelt der Band einen Eindruck dessen, was derzeit unter den Begriff "Lesung" subsumierbar ist: amüsante, groteske und kuriose Events, die Literatur nur noch in ihrer Schwundstufe als Selbstdarstellung zum Thema haben, differenzierte Überlegungen zu Funktion, Wesen und Wirkung der Lesung, Meditationen über die Geschichte und die Funktion der Stimme in einer primär von optischen Medien bestimmten Welt. Es sind engagierte und selbstironische Auseinandersetzungen mit der Doppelrolle als Schreibender und Lesender, in der man auch noch Fragen beantworten muss, kulturjournalistische Überlegungen mithin, die für ein professionelles Management von Lesungen das Wort ergreifen.

Der in Hildesheim Kulturjournalismus und Literatur lehrende Stephan Porombka bezeichnet Lesungen als "Non-event-Marketing". Im Zentrum der Lesung stehe aber nicht das Buch oder die Literatur, sondern die Inszenierung. Durch diese wird nicht nur den Konsum von Büchern angeregt, sondern auch der Konsum eines Lebensgefühls ermöglicht. Lesungen wären in diesem Sinne Investitionsprogramme der Kulturindustrie.

Dies gilt nur sehr eingeschränkt. Sicherlich gilt es für die Lesungen der so genannten "Popfraktion", die mit Musik, kabarettistischen Einlagen und inszeniertem Dialog mit dem Publikum den Text aus dem Zentrum der Lesung rücken. Es gilt aber ganz sicher nicht für Lesungen von Literaten des so genannten Höhenkamms. Man stelle sich nur mal eine Genazino-Lesung dieser Art vor.

Der Band plädiert für ein reflektiertes Verständnis der Vermittlung von Literatur durch Lesungen. Es handelt sich um ein vielleicht nicht-instrumentelles Verständnis von Literaturvermittlung, das nicht so sehr auf die Vermittlung von Inhalten setzt, sondern in der Literaturvermittlung als kulturelle Praxis betrachtet wird, die nicht nur von der Literaturdidaktik oder Literaturwissenschaft ausgeübt wird. Die Aufsätze, Interviews plädieren für einen emphatischen Begriff von Literatur, kreisen um die Frage nach dem Sitz der Literatur im Leben und in der Öffentlichkeit, um Fragen also, die sich Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik nur selten zu stellen wagen. In dieser Hinsicht wächst dem Elternhaus, der Schule und der Hochschule und nicht zuletzt auch der Literaturkritik, die alle irgendwann an der Vermittlung von Literatur teilhaben, durch die Lesungen und vor allem durch die Literaturhäuser eine nicht zu unterschätzende Konkurrenz heran. Verstärkt wird diese Konkurrenz noch durch eine vom Herausgeber Thomas Böhm konzipierte Internetseite. Unter der Adresse http://www.lesungslabor.de/ findet sich eine Fortsetzung des Projekts mit anderen Mitteln. Wer also surfen kann, der lese hier weiter.

Titelbild

Thomas Böhm (Hg.): Auf kurze Distanz. Die Autorenlesung: O-Töne, Geschichten, Ideen.
Tropen Verlag, Köln 2003.
190 Seiten, 15,80 EUR.
ISBN-10: 3932170679

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch