Ausgeträumt

Soziologen erklären in einem Sammelband, warum die Visionen des neuen Potsdamer Platzes gescheitert sind

Von Kersten SchüßlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kersten Schüßler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ist der Potsdamer Platz, das Kunstherz Berlins, ein Spielplatz für Soziologen? Soziologen üben normalerweise trocken. Warum also nicht mal im Freien turnen, dachten sich wohl der Dresdner Joachim Fischer und der Berliner Michael Makropoulos und schickten sich selbst und andere auf Bewährungsprobe in die Praxis. Als "Vorturner" betrachtet Fischer im ersten Kapitel das zur Jahrtausendwende geschaffene Artifzium am Potsdamer Platz aus der Perspektive jener 20er-Jahre, in denen die Metropole Berlin zum ersten Mal weltläufig sein sollte. Philosophische Anthropologie nannte sich der damals neu erdachte kritische Zweig der Lebensphilosophie, der raus ins wahre Leben wollte, ohne die Rationalität an der Garderobe hängen zu lassen. Als Experimentierfeld der Moderne erschien Vertretern wie Helmuth Plessner Berlin damals, und auf seinen Spuren setzt Fischer die Erkundung fort. Er durchschreitet Geschichte und Topografie des Potsdamer Platzes mit dem Blick für Entfaltungs- und Rückzugsmöglichkeiten, die der Mensch nach der Meinung der Philosophischen Anthropologie zum Ausgleich seiner selbst mit sich und anderen dringend braucht. Zunächst erschien der Potsdamer Platz als ein prototypisches Experimentierfeld für die Vermittlung von Gemeinschaft und Gesellschaft. Seine fragile architektonische Balance von Fluchtlinien entlasteten den Großstadtmenschen von der Festlegung durch fremde Blicke und gemeinschaftlich-provinzielle Zumutungen. Andererseits bot der Platz dem gehetzten Provinzler Fluchtpunkte, an denen der atemlos zu sich und seinesgleichen kommen durfte. Die Nazis wollten den Platz in bombastischer Architektur erstarren lassen, doch der Krieg kam ihnen zuvor. Unter DDR-Hoheit verwüstete das Experiment buchstäblich. Erst zur Jahrtausendwende gelang die Rekonstruktion des Platzes als offener Ort des Austauschs, in der Architektur vielleicht jung und unerfahren, als Projekt jedoch Spiegel bürgerlicher Krisenerfahrung.

Wie ein Kontrapunkt zu Fischers eher positiv getönter Jahrhundertperspektive erscheint die Platzrekonstruktion seit den 90ern aus Sicht der Rational Choice-Theorie. Sie beschreibt rationale Strategien, ist angesichts des Irrationalen aber eigentümlich hilflos. So erinnern Jürgen Friedrichs und Peter Christian, dass 1990 zwar der Wegfall des Subventionszustroms nach Berlin absehbar war, man aber andererseits mit einem gigantischen Boom von bis zu 6 Millionen Einwohnern und entsprechender Kaufkraft im Jahr 2000 rechnete. Warum der Berliner Senat sich schließlich vor diesem Hintergrund von seiner "Definitionsmacht" und vom "Kollektivgut" des Baugeländes am Potsdamer Platz für nur 15.000 Mark pro Quadratmeter so schnell verabschiedete, ist schwer zu verstehen, denn vergleichbare Lagen wurden früher für das Achtfache gehandelt. Dass nach der Jahrtausendwende in der wirtschaftlich verödenden Hauptstadt der Handel in anderem Licht erscheinen muss, erfasst die Rational Choice-Theorie leider auch nicht.

Andreas Ziemann und Andreas Göbel räumen gleich freimütig ein, dass auch Niklas Luhmans systemtheoretisch-distanzierter Blick keine optimale Platzbeschreibung liefert. Beobachten wollte Luhmann vorwiegend kommunikative und temporale Ordnungen, sodass weniger der architektonische Grundriss bzw. die Topografie als vielmehr die Rede über den Platz systemtheoretisch analysiert wird. Das Wirtschaftsinteresse am Verkauf des Potsdamer Platzes sei zunächst von der öffentlichen Hand bestimmt gewesen, die sich aber als Politik besonders beobachtet wusste und unpolitische Aspekte wie u. a. ästhetische und historische berücksichtigen musste. So diene der Platz, so das sehr allgemeine Fazit, heute sowohl Politik, Kunst, Architektur und Wirtschaft als "topographisches Gedächtnis".

Können die Cultural Studies mehr erkennen? Udo Göttlich und Rainer Winter erinnern zunächst an die Fantasien der 90er, aus Berlin eine Kommunikations- und Dienstleistungsmetropole zu machen, ein weltstädtisches Zentrum, von dem man sich eine "produktive Neuordnung gesellschaftlichen Lebens" erwartete. Der Platz sollte dabei als Zentrum und Symbol des zusammenwachsenden Deutschlands, als "Baustelle der deutschen Einheit" fungieren. Was heute als Hybris erscheint, war damals noch ungeklärt: Erlaubt der Platz als postmoderner Idealort Heterogenes, lädt er "das Überraschende und das Ungeplante" ein? Wer den Platz kennt, seine Hotels, Spielcasinos, Einkaufspassagen, Bürohäuser und Bierkneipen, die so auch in Stuttgart oder Bochum stehen könnten, ahnt: Die Nation könnte den Platz bekommen haben, den sie verdient. Als Shopping-Mall zwischen Ku'damm (West) und Alex (Ost) wird er von Berlinern mangels Authentizität eher gemieden: ein Ort des "vorstrukturierten Konsums", banal und allenfalls "location" für "events" und Touristen-Cafés.

So erscheint er dann auch, wenn Christine Resch und Heinz Steinert ihn im Lichte der Kritischen Theorie Adornos betrachten. Während Adorno meist unverstanden zwischen Spießerenge, Staats- und Konsumterror nach Auswegen tastete, sehen seine Schüler den Platz als fluchtweglose Sackgasse des Verblendungszusammenhangs von Kapital und Macht. Um so problematischer werde der Komplex, je spielerischer sich seine "Herrschaftsarchitektur" gebe. Das "internationale Finanzkapital" habe sich hier einen Ort der Selbstdarstellung subventionieren lassen, einen "Potsdaimler Platz", der es dem kaufkräftigen Durchschnittler erlaube, den "Herrenmenschen" zu spielen. Die Gebäude wecken Misstrauen, sei es durch ihre Massigkeit (Kollhoffs Klinker-Hochhaus) oder durch ihre glatten Großkonzern-Fassaden (debis), und dienten letztlich nur der "Selbst-Darstellung der Unterhaltungsindustrie" (Sony), wobei jegliche geschichtliche Erinnerung, sei es an die Nazi-Zeit oder an die DDR, ausgeblendet werde. Lediglich die 20er-Jahre würden mit Renzo Pianos Hommage an Mies van der Rohe im gläsern-spitzwinkligen Haus gelungen zitiert. Hier aber lauere schon wieder die nostalgische 20er-Jahre-Marketing-Falle. So wiederbeleben Resch und Steinert den Adorno-Sound des Essays von 1962 über 'Jene 20er Jahre'. Dieser Geist, der stets verneint und nur darin Positives aufscheinen lässt, wirkt allerdings ein wenig nostalgisch.

Das würden vielleicht Hannelore Bublitz und Diierk Spreen nicht so sehen. Mit der Brille der Gender-Studies entdecken sie einen Architektur-Körper mit eingeschriebener "Überwachungs-, Disziplinierungs- und Kontrolltechnologie", mit Video-Observierung und gläserner Transparenz. Mit der totalen Beobachtung seien alle Unterscheidungen zwischen Kunst und Natur, Innen und Außen, Privat und Öffentlich aufgehoben. Die Individuen folgten nur noch einem "regulierten Begehren" in einem Ensemble von Warenhäusern ohne Waren. Sony-Komplexe und Daimler-Häuser bildeten eine postmoderne Zitadelle, in der eine Tyrannei der Intimität durch vorstrukturierte Kommunikation und warenmäßige Körperbetrachtung herrschten. Motto: Wer seiner selbst nicht sicher ist, lebt eben per Zuschreibung von außen. Bublitz und Speen greifen dabei die Sprachspiele französischer Dekonstruktivisten in so bierernster Weise auf, dass die zum Beweis angeführten Beispiele so assoziativ-beliebig wie die kritisierte Werbewelt daherkommt. Ist, wo Damenmoden 'Comme les garcons' heißen, nicht auch Emanzipation eingewoben? Steckt im Potsdamer Platz nicht auch noch ein Hauch des Versprechens der Moderne?

Vielleicht aber wurde der Potsdamer Platz wirklich als Mythos der Vergangenheit und Versprechen an die Zukunft schlichtweg überlastet. Michael Makropoulos beschreibt ihn abschließend mit den Hilfsmitteln der Diskursanalyse und der Semiologie frei nach Robert Musil als "Platz ohne Eigenschaften". Tatsächlich stand dort in den 90ern, als der Platz noch im Werden war, eine rote Infobox als Traumzentrale. Heute ist das lustvolle kollektive Träumen der Ernüchterung gewichen, der Mythos ausgeträumt. Was aber war der Treibstoff der Visionen? Sicher war der Boom-Traum, der an jene 20er anknüpfte, als Berlin mit 4,3 Millionen Einwohnern die Drittgrößte unter den Weltstädten, Europas größte und die am schnellsten wachsende Industriemetropole war, eine Schimäre. Doch war dieser Traum auch unredlich oder nur illusionär? 1920 war der Verkehrsknoten am Anfang der Potsdamer Straße ein nur aus der Luft halbwegs als Platz auszumachendes Gebilde, vergleichbar mit dem heutigen Alexanderplatz, der seit seiner Betonierung unter dem DDR-Regime bis heute ein zugiger Unort geblieben ist. "Die Stadt der Geschwindigkeit ist die Stadt des Erfolges", postulierte Le Corbusier als Credo des Möglichkeitsmenschen, der befreit aus tradierten lokalen und sozialen Einbindungen beschleunigte Sozialkontakte als vielfältige Chancen sehen musste. Technisierte Kommunikation, technisierte Kunst und ästhetisierte Technik sollten den Potsdamer Platz bereits 1928 zum "Weltstadtplatz" machen. Massenkultur entfaltete sich im Modell in abgestuften Geschwindigkeiten auf buchstäblich verschiedenen Niveaus - mit hochgelegten Straßen, dem Platz auf Normalebene und untergründigen Schienensträngen reist der konsumierende, produzierende und schauende Massenmensch zu sich selbst und begreift sich zugleich als jemand, der jederzeit auch ein anderer sein und werden könnte.

Diese Vision wurde damals nicht gebaut und würde heute auch nicht mehr funktionieren, meint Makropoulos. Ein Weltstadtplatz hätte Anfang der 30er-Jahre materieller Netzknotenpunkt für den "Möglichkeitssinn" sein können. 2000 hingegen hat sich "Weltkommunikation" längst in elektronischen Netzen virtualisiert. Dass ein retrospektiv wiederbelebter Mythos letztlich den nachgebauten "Verkehrsturm" als Zitat nutzlos am Platzrand abstellt und den Möglichkeitssinn nur noch zitieren kann, zeige die Hilflosigkeit der Architektur.

Wer nicht nur einen teils in Realität ernüchterten Mythos mit den Augen der Soziologie, sondern auch an der Realität ernüchterte Soziologie in praktischer Übersicht betrachten mag, ist mit dem Band von Fischer und Makropoulos gut bedient. Ein chronologischer Abriss, ausführliche Literaturverzeichnisse und zahlreiche Fotografien erinnern an ein Projekt, das wie kein anderes für die Visionen der 90er-Jahre stand und wohl auch so schnell wie kaum ein anderes wieder in Vergessenheit geraten ist.

Titelbild

Joachim Fischer / Michael Makropoulos (Hg.): Potsdamer Platz. Soziologische Theorien zu einem Ort der Moderne.
Wilhelm Fink Verlag, München 2004.
241 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-10: 3770537084

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