Das ungeschriebene "Politikum"

Über Thomas Manns politisches Zaudern im Spiegel seiner Tagebuchaufzeichnungen

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Am 23. August 1936 notierte Thomas Mann in sein Tagebuch: "heute vormittag schloß ich "Joseph in Ägypten" ab, - ein merkwürdiges Datum, wenn ich bedenke, daß die Arbeit an diesem Bande diese ganzen 3 Jahre und annähernd 6 Monate begleitet hat, seit wir München verließen." Und weiter: "An Ablenkungen und großen Pausen fehlte es nicht: Die beiden Amerika-Reisen und der aufgegebene Versuch einer politischen Auseinandersetzung waren wohl die bedeutendsten." Was war das für ein "Versuch einer politischen Auseinandersetzung"?

Es ist zuweilen darauf verwiesen worden, dass der argumentative Fundus, aus dem Thomas Mann zu schöpfen vermochte, entgegen einer allgemeinen Annahme weniger aus Bildung, Wissen und Weltläufigkeit bestand als vor allem aus Emotion. Doch während diese Grundierung erst die großen Romane möglich machte - wie sonst hätte ein Josef-Roman entstehen können, eine Geschichte die längst erzählt war - verhinderte sie den politischen Essayisten und Schriftsteller. Denn das, so ahnte er wohl, unterschied ihn von seinem Bruder: der war ,auf dem Laufenden', mischte sich ein, wohl wissend um die Bedingungen einer solchen Intervention: Thomas Mann aber war ein Dilettant im Politischen.

Thomas Mann war kein politischer Autor und wollte es auch nicht sein. Als nach dem Erscheinen der "Betrachtungen eines Unpolitischen" 1918 ein reaktionär-konservatives Publikum den Schriftsteller für seine Sache zu vereinnahmen suchte, spürte Mann wohl ein Unbehagen, doch zu einer Distanzierung von der Umarmung der Deutschnationalen reichte es noch nicht. Stattdessen befürchtete der "ideologische Kriegsverlierer", wie ihn der Literaturkritiker Hans Mayer einmal bezeichnete, eine solche Distanzierung würde ihn am Ende allzu sehr in die Nähe gerade desjenigen bringen, gegen den er sich mit den Betrachtungen hauptsächlich abzugrenzen versuchte - den Bruder Heinrich. Wie sehr Thomas Mann die politischen Geschehnisse als trotziger Verlierer beurteilte, lässt sich in den Tagebuchaufzeichnungen jener Jahre nach dem Ersten Weltkrieg nachlesen. Während die revolutionären Wirren 1919 die Stadt München erschüttern, fühlt sich der Hausherr in der Poschingerstraße in seinem "Freiheitsgefühl" beeinträchtigt, weil ihm die Ausgangssperre den täglichen Spaziergang im Herzogspark verbietet. Ebenso falsch wie bösartig fällt noch am 29. Februar 1920 ein Urteil über den Politiker Erzberger aus, "dieser fidele Schieberkönig, eine echte Blüte dieser Republik."

Nur zögerlich findet der Tagebuchschreiber einen Weg als ,verspäteter Demokrat' in die Weimarer Republik. Anders als der Bruder, dessen demokratische Position eine zwangsläufige Folge seiner seit Kaisers Zeiten hellsichtigen Analyse der politischen Verhältnisse war, ging Thomas Mann einen komplizierten Umweg. Was sich im Tagebuch am 10. November 1918 noch vage auf ein "kosmopolitisches Wohlwollen" beruft, erläuterte Thomas Mann 1922 in der Rede "Von deutscher Republik". Noch einmal distanziert er sich dort von dem rational-aufklärerischen, westlich beeinflussten Republikverständnis und erläutert seinen von Goethe, Novalis und Walt Whitman inspirierten humanistisch-ästhetischen Demokratiebegriff.

Doch war dieses Verständnis nicht geeignet, spezielle politische Kompetenzen zu begründen. Im Gegenteil: seinem ästhetisch geprägten Verständnis von Politik blieben demokratische Alltagsformalismen fremd. Eine hübsche Episode überliefert in diesem Zusammenhang Hans Mayer in seinen Erinnerungen anlässlich des Besuchs Thomas Manns zum Goethe-Jahr 1949 in Weimar. Thomas Mann hatte die Einladung der ostdeutschen Vertreter nach seinem Besuch in der anderen Goethestadt Frankfurt trotz der mahnenden Bedenken seiner westlichen Gastgeber angenommen und war in Weimar von der Bevölkerung sehr innig empfangen worden. Am Abend hielt er beim festlichen Bankett eine Rede, in der er zunehmend gerührt und erregt seiner Dankbarkeit Ausdruck gab. "Und wenn es stimmt," so erinnert sich Hans Mayer an die Worte Thomas Manns, "wenn Ihnen mein Werk wirklich etwas bedeutet und weiterhelfen kann, dann wäre ich sehr glücklich." Nun aber sah man, so Hans Mayer, "wie Katja Mann mit wachsender Sorge zuhörte. Ich sehe noch, wie sie ihn endlich sanft am Rocksaum zupfte, damit er sich nicht weiter ins Unheil redete." Soviel Zuspruch für die sozialistischen Erneuerer in Deutschlands Osten, das musste denn doch nicht sein. Die Episode, mag sie sich so zugetragen haben oder nicht, ist bezeichnend für den ,politischen' Thomas Mann. Eine Episode im Übrigen, die ähnlich auch Hermann Broch in einem Brief an Annemarie Meier-Graefe am 26. August 1950 überliefert. Da habe "der Tommy" anlässlich einer Ehrung der Yale-University "gegenüber den Reportern in der Library wieder einmal politischen Unsinn geredet". Und "weil er von der Katia sehr unsanft darauf aufmerksam gemacht worden war", sei er "so deprimiert" gewesen, "so daß man ihn hat trösten müssen."

Seit der Nobelpreisverleihung 1929 war Thomas Mann zunehmend in die Rolle des geistig-kulturellen Repräsentanten der Weimarer Republik geraten. Er nahm die Verantwortung an und warnte immer wieder deutlich vor der aufkommenden nationalsozialistischen Bedrohung. Es half nichts. Noch im Februar 1933 hatte er in München seinen vielbeachteten Wagner-Vortrag gehalten. Bereits im Exil, musste er zur Kenntnis nehmen, wie diese Arbeit mit bewusst verstellenden und groben Direktheiten niedergemacht wurde. "Ein hundsföttisches Dokument" schrieb Thomas Mann am 19. April 1933 nach Lektüre des Protestes der Richard Wagner -Stadt München.

Es ist bekannt, dass Thomas Mann in den ersten Jahren nach der erzwungenen Emigration lange Zeit nicht zu einer klaren Haltung gegen das verbrecherischen Naziregime finden konnte. In den Tagebüchern kann man aber nachlesen, wie sehr der Meister am Zwiespalt zwischen eindeutiger Ablehnung des barbarischen Systems in Deutschland und jenen Rücksichtsnahmen litt, denen er sich als Repräsentant deutschen Geisteslebens verpflichtet sah. "Bedrücktes Gespräch", so notierte er gequält am 12. September 1933, nachdem er sich soeben entschlossen hatte, sich von der ersten Nummer der von Sohn Klaus herausgegeben "Sammlung" zu distanzieren, "über die Unmöglichkeit richtigen Verhaltens, dem notwendigen Versagen vor der Bestialität. Über das Bedürfnis nach geistiger Freiheit und Seelenruhe, Fernhalten von der Ressentiment- und Verzweiflungsliteratur." Wie so oft schwingt bei solchen selbstbeschwichtigend gemeinten Passagen ein unleidlicher Ton der Übertreibung mit. Denn natürlich lautet die Alternative zur geistigen, künstlerischen Freiheit nicht Ressentiment- und Verzweiflungsliteratur, ebenso wenig wie das "alkoholische Emigrantentum", das er böse anlässlich eines kritischen Artikels von Joseph Roth über die in Deutschland verbliebenen Verleger diagnostiziert. Die drastische Diffamierung der anderen Seite ist auch Ausdruck der eigenen Selbstzweifel.

Zu konstatieren ist eine veritable Lebens- und Schaffenskrise. Das plötzliche Herausgeworfensein des Schriftstellers bedingte ja nicht nur den Verlust von Haus und Habe - beides war nach dem geldwerten Nobelpreisgewinn 1929 noch am ehesten zu verschmerzen - sondern auch den Verlust jener Geordnetheit des Lebens, die sich im Münchner Poschingerhaus zur viel bewunderten Schaffensroutine des bürgerlichen Schriftstellers veredelt hatte. So taumelt der Exilant zwischen aktiver Empörung und angstvoll-passiver Resignation. Vergeblich müht er sich, in Schweizer Hotelzimmern und geliehenen Wohnstätten an der eigentlich ungeliebten Côte d'Azur die ersehnte Ordnung aus Ruhe, Korrespondenz, Besuchen und Schaffen wiederherzustellen. Auch als sich nach dem Bezug des Küsnachter Hauses die äußeren Bedingungen normalisieren, findet Thomas Mann nicht sofort wieder in die alte Schaffensroutine zurück. Etwas erregt ihn ebenso wie es ihn irritiert und peinigt, es macht ihn "nerventraurig".

Immer wieder sind es die deutschen Angelegenheiten, die ihn derart verstören. Im Sommer 1934 demonstriert das Nazi-Regime mit konsequenter Brutalität seinen Machtwillen. Unter dem Deckmantel der Niederschlagung eines vom SA-Führer Röhm geplanten Putsches werden in Deutschland in den ersten Junitagen gezielt Opponenten des Regimes ermordet. Am 2. August stirbt Hindenburg. Die "Inthronisierung jenes ekelhaften Menschen als Reichspräsident", die Thomas Mann am 1. August noch sorgenvoll als Möglichkeit notierte, ist nun Fakt geworden: Hitler ist Reichskanzler. Damit aber besteht eine neue Form der Herrschaftslegitimation, die Thomas Mann als eine weitere Bedrohung wahrnehmen muss. "Ich war und bin halb krank vor Trauer und Entmutigung." An normales Arbeiten ist nicht zu denken. Am 31. Juli notiert er: "Ich versuchte, weiterzuschreiben am Joseph, kam aber nicht über wenige Zeilen hinaus, - Müdigkeit, Zerstreutheit, Erregung bildeten das Hindernis. Zu sehr liegt mir anderes im Sinn. Der Gedanke über D. zu schreiben, meine Seele zu retten in einem gründlichen offenen Brief an die "Times", worin ich die Welt wachrütteln will, ein Ende zu machen mit dem Schand-Regime in Berlin, - dieser Gedanke, wach geworden oder wieder erwacht in den letzten Tagen, lässt mich nicht los, beschäftigt mich tief."

Das Material für ein solches Unternehmen sammelte sich bereits in den Tagebuchaufzeichnungen an. Ausführlich und engagiert ,kommentiert' Thomas Mann die Geschehnisse in Deutschland. Hinsichtlich der Einschätzung der Naziherrschaft unterscheiden sich diese Notate kaum von den Analysen anderer politisierter Emigranten. Sie haben sogar der nüchternen Analyse einiges voraus in Sachen Direktheit und Betroffenheit. Man kann sagen: Thomas Mann dilettiert hier gewissermaßen in die richtige Richtung. Vor allem in der zornigen Eindeutigkeit sind die Bemerkungen zu den deutschen Verhältnissen nicht nur sympathisch, sondern auf eine überwältigende Art zutreffend. Er schreibt von "Lumpen", "Lügnern" und "Verbrechern", wenn er die Nazirepräsentanten meint. Typisch ist hier eine Bemerkung über Hitler, die er am 5. Juli 1934, nachdem er von der Ermordung des ehemaligen Generalstaatskommissars in Bayern, Ritter von Kahr, erfahren hat, notiert: "Am kennzeichnendesten ist vielleicht die Ermordung des alten Kahr in München, die einen politisch völlig unnötigen, persönlichen Racheakt Hitlers für Verjährtes darstellt. Es zeigt sich da, was für ein Kujon dieser Mensch ist, [...] Was für ein Vieh mit seinen Hysterikerpfoten, die er für Künstlerhände hält." Und über den "Verbrecherschwindel" von der Niederschlagung eines Röhm-Komplotts schreibt er einen Tag vorher: "Es handelt sich um eine ,staatsmännische' Scheusäligkeit im Stil dieser verdorbenen Hirne, ein Präventiv-Blutbad rechts und links [...] und das als große moralische Reinigungstat aufgemacht wird [...] Es ist möglich und scheint so, dass die Kleinbürgermassen wieder auf die mit dreckiger Seelenkunde auf sie zugeschnittene Moralität hineinfallen und in Hitler aufs neue den Retter sehen." und über "die ganze national-sozialistische ,Bewegung' einschließlich ihres Erweckers" notiert er am 5. August 1934: "...ein wahres Sich sielen des deutschen Gemütes in der mythischen Jauche."

Nun beginnt Mann, die politische Situation in Deutschland immer genauer zu beobachten. "Ich bat Erika, mir ein Gespräch mit dem jungen Kommunisten zu vermitteln, der im Konzentrationslager war." Zwei Tage später, am 2. August 1934, erscheint "der junge Schauspieler und Kommunist mit den ausgeschlagenen Zähnen. Erzählte von seinen Erlebnissen, aus denen überzeugend hervorgeht, daß der Nationalsozialismus Bestialismus ist und nichts weiter." Der im Tagebuch nur X genannte Freund der Tochter war der spätere Intendant des Deutschen Theaters, Wolfgang Langhoff, dessen Erlebnisbericht "Die Moorsoldaten. 13 Monate Konzentrationslager" 1935 im Schweizer Exil erschien. In den nächsten Tagen geht es hin und her. An einem Tag notiert er: "Exzerpierte und schrieb in Erregung einiges". Zwei Tage später, am 4. August 1934, plagen ihn aber wieder schwere Zweifel: "Schrieb noch einmal an den politischen Aufzeichnungen weiter, werde aber im Gefühl der Zwecklosigkeit und in tiefer Niedergeschlagenheit vom elenden Unsinn der Ereignisse... kaum damit fortfahren". Tags drauf dann die Klage: "Dieser Zustand ist ein schweres Leiden." Dann ein Spaziergang mit Katja: "Sie lehnt die Selbstverdächtigung, der Übergang zu einer politisch-konfessionellen Arbeit sei eine Desertion von der künstlerischen Aufgabe, deren ich überdrüssig oder die mir zu schwer, entschieden ab und bestreitet ebenso lebhaft die Nutzlosigkeit und Müßigkeit dieser Aufgabe." Vor allem aber weiß sie um den Effekt für Thomas Mann. Eine solche "befreiende Äußerung" könne endlich der "Halbheit meiner Stellung, meiner Abhängigkeit von dem Lande, dem unwürdigen An der Nase herum geführt werden in Sachen meines Besitzes ein Ende machen." Kurzum: eine Entscheidung tut Not. In einem Brief an Hermann Hesse aus diesen Tagen schreibt er von der schweren Krise, in der er sich befindet, deutet die Abfassung einer politischen Bekenntnisschrift an, zweifelt aber im gleichen Moment am Nutzen des Vorhabens. Trotzdem, am 6. August 1934 notiert er wieder in sein Tagebuch: "Sei es gut oder schlimm, ich habe mich wieder der politischen Schrift zugewandt..." Stefan Zweig, der an diesem Tag zu Besuch kommt, rät zu. Also exzerpiert und sammelt Thomas Mann weiter. Am 12. August dann wieder ein Rückschlag: "In mein Zimmer zurückgekehrt, habe ich das Material zum ,Politikum' beiseite geräumt. Ich werde diese Arbeit jetzt nicht ausführen, sondern die weiteren Ereignisse abwarten und vielleicht in einem neuen leidendschaftlichen Augenblick mit einer knappen und schlagenden Äußerung hervortreten. [...] Literarisch liegt mir vorerst ein Feuilleton für die N.Z.Z. im Sinn, dessen Stoff die Ozeanfahrt wäre." Aber es ist doch nur eine "vorläufige Unterhaltung", wie er am 15. August notiert. In den folgenden Tagen heißt es wieder: "Exzerpiert und skizziert für das Politikum." Und nun scheint die Sache Form anzunehmen, als er am 20. August 1934 mitteilt: "beendete die TB-Auszüge fürs Politikum und werde fortan zugehörige Notizen dort eintragen." So geschieht es in den nächsten Tagen "mit eilender Feder", wie es am 22. August heißt. Thomas Mann wirkt beruhigt. Ein in diesen Tagen geführtes Gespräch mit Ferdinand Lion erinnert ihn an die Gespräche, die er mit Bertram zur Zeit der Niederschrift der "Betrachtungen eines Unpolitischen" führte. Und überhaupt: "vieles regt mich jetzt an und liefert mir Stützen für mein Denken wie zur Zeit der Betrachtungen."

Fünf Tage später sieht es schon wieder anders aus: "Beschäftigung mit ,Meerfahrt' (...) Der Gedanke ist mir jetzt angenehm, mit Bedenkzeit für das Politikum zu schaffen, indem ich erst das Feuilleton schreibe..." Und so vermeldet das Tagebuch am 31. August: "Begann ,Meerfahrt' zu schreiben." Tatsächlich scheint nun die akute Pein verflogen zu sein. Kaum noch finden sich in diesen Tagen Reflexionen zur Lage in Deutschland, erst recht nicht jene wütend emotionalen Bemerkungen, mit denen er noch im Vormonat die Geschehnisse zu verarbeiten suchte. "Die Dinge", so notiert er am 1. Oktober, "sind erkannt. Mein Antrieb, darüber zu schreiben, hat sehr nachgelassen, und meine eigenen dringlichen Angelegenheiten sind mir näher." Zuvor waren ihm noch einmal Zweifel gekommen, als am 2. September die ehemalige Münchner Nachbarin Constanze Hallgarten zu Besuch in Küsnacht weilt und ihre Erzählungen aus Deutschland die Politik wieder bedrohlich nahe bringen. "Ich schäme mich zuweilen, daß ich Allotria treibe und damit der Pflicht ausweiche, dies und das Zugehörige der Welt zu sagen." Aber die Bemerkung klingt eher pflichtbewusst, ihr fehlt das emotionale Engagement. Einige Tage später mahnt auch der Freund René Schickele brieflich zur Abfassung eines "Kampfbuchs", fügt freilich hinzu, über die Veröffentlichung könne man dann immer noch entscheiden. Aber zu diesem "Frontalangriff", antwortet Thomas Mann am 12. September, kann er sich nicht entschließen. Anfang Oktober ist die Sache vorerst ausgestanden. Die Erregung ist abgeklungen, Zeit für ein Fazit aus Anlass des vor einem Jahr getätigten Einzugs in das Küsnachter Haus: "Es wird hohe Zeit, daß ich die leichte Zwischenarbeit beende, mit der ich einen Zustand der Unentschlossenheit ausgefüllt habe, und wieder zum "Joseph" gelange, der unbedingt beendet werden muß." Und dann, am 2. Oktober geht es erst einmal auf Reisen nach Lugano. Nach der Rückkehr am 24. Oktober steht stolz das Notat: "Wiederaufnahme der Beschäftigung mit dem Joseph."

Erfolgreiche Lesereisen, ein "helles Aufleuchten meiner Existenz", notiert Thomas Mann am 31. Januar 1935, bestärken ihn nun in seiner wachsenden Bedeutung und Selbstwahrnehmung als Repräsentant: "moralisch und kulturell gewinnt meinesgleichen... etwas einsam Ragendes, und ich verkenne nicht, daß viel von den Huldigungen, die ich auf dieser Reise empfing, auf Rechnung der menschlichen Ehrfurcht vor den Überlebenden einer höheren Epoche kommt." Und es bestätigt sich dieses Bewusstsein eines Repräsentanten zum 60. Geburtstag. Am 4. Juni, zwei Tage vor dem Geburtstag, stellt er im Rückblick auf den 50. fest: "Werk und Person sind gewachsen, die Akzente sind feierlicher, rein-ehrerbietiger, eine Art von Sicherung, Verewigung hat eingesetzt... Die Welt... trägt einer geistigen Tatsache Rechnung in Ton und Haltung...". Einige Tage später registriert er penibel-zufrieden: "175 Danksagungen".

Doch die notwendige Klarstellung in Sachen Politik ist nur aufgehoben. Es war nur eine Frage der Zeit, bis der Zwiespalt sich wieder lähmend und quälend auf das Gemüt des Schriftstellers legen würde. Nicht angesichts einer kurios-naiven - und vergeblichen - Werbung des Rudolf Bindings um den zu Ehrenden, der auch beim Reichsinnenministerium für eine offizielle reichsdeutsche Ehrung des Schriftstellers anfragte. Es war die Situation seines Verlags, des Fischer-Verlags in Deutschland. Seit dem Tod des Patriarchen von dessen Schwiegersohn Bermann geführt, galt dem Haus Thomas Manns besondere Rücksichtnahme - auch auf Kosten der Solidarisierung mit dem Exil. Dabei gingen der Verlag und seine im Exil lebenden Schriftsteller, neben Thomas Mann sei hier noch Hermann Hesse genannt, von einer falschen Voraussetzung aus: Man glaubte den Verlag in Deutschland weiterführen zu können, wenn auch unter erschwerten Bedingungen. Dazu gehörten unweigerliche Kompromisse mit den Machthabern. Das aber bedeutete eine peinliche Neutralität in Politikangelegenheiten, die nur auf Kosten einer klaren Aussage zugunsten des Exils zu haben war. Die Klärung kündigt sich unscheinbar an. Eine sehr herabwürdigende Kritik von Heinrich Manns Buch "Die Jugend des Königs Henri Quatre" von Armin Kesser in der "Neuen Zürcher Zeitung" erregte Widerspruch in Exilantenkreisen. Proteste waren abzusehen. In dieser Situation forderte der Feuilletonredakteur der Zeitung, Eduard Korrodi, Thomas Mann gewissermaßen vorbeugend auf, sich nicht an "einer Aktion gegen die Kritik des kleinen Kesser" zu beteiligen. In seiner Antwort an Korrodi vom 29. November 1935 bekundet Thomas Mann wenig Interesse an einer Aktion, findet aber doch erstmals deutliche Worte der Ablehnung einer Haltung, die dazu neigt, die Emigration pauschal und "in einem hin" wegen ihrer Haltung zu verurteilen. Kurz darauf erschien in der deutschen Exilzeitung "Pariser Tageblatt" ein Artikel, der die allzu lange gutmütige Haltung der "verspäteten Emigranten" wie Gottfried Bermann Fischer, der einen Teil des Fischer-Verlags seit Sommer 1935 im Exil führte, kritisierte. Noch schärfer griff unmittelbar darauf der Herausgeber der in Paris erscheinenden Wochenzeitschrift "Das Neue Tage-Buch", Leopold Schwarzschild, Bermann Fischer an. Dieser sei gleichsam ein "Schutzjude" von Goebbels gewesen, und mit dem Aushängeschild Thomas Mann führe er nun in Wien einen "getarnten Exilverlag". Er sei "der stillen Teilhaberschaft des Berliner Propagandaministeriums dringend verdächtig." Auf Bitten seines aufgeregten Verlegers formuliert Thomas Mann eine Gegenrede, in dem er jeden Zweifel an der Haltung und Gesinnung Bermanns zurückweist. "Ein Protest" erschien am 18. Januar 1936 wiederum in der "Neuen Zürcher Zeitung" und war von Thomas Mann, Hermann Hesse und Annette Kolb unterzeichnet. Alles scheint geklärt, da findet Thomas Mann am 21. Januar einen Brief seiner Tochter Erika vor: "Bei der Heimkehr leidenschaftlicher und unbesonnener Brief von Erika in Sachen Bermann-Tagebuch, der mich sehr schmerzte." Erika Mann ist, wie auch ihr Bruder Klaus, seit Langem schon nicht mehr gut auf Bermann Fischer zu sprechen. Unduldsam beurteilen sie seine zu kompromissbereite Haltung gegenüber den deutschen Machthabern und halten ihn mitverantwortlich für Thomas Manns schwankende Haltung in der Exilfrage. Dass Thomas Mann nun ausgerechnet für ihn erstmals eine offizielle Stellungnahme verlauten lässt, der erste offizielle "Protest" sich gegen Schwarzschild und das "Tagebuch" richtet und dies zudem in der "Neuen Zürcher Zeitung" erscheint, die zuletzt die abwertende Kritik an Heinrich Manns letztem Roman abdruckte, empört die Tochter. Zum zweiten Mal nach 1933, als Thomas Mann sich unter Bermann Fischers Einfluss vom Klaus Manns Projekt "Die Sammlung" distanzierte, bringe Bermann Fischer es nun fertig, "daß Du der gesammten Emigration in den Rücken fällst".

Tatsächlich geht es längst nicht mehr um Bermann Fischer, sondern um Thomas Manns Haltung zum Exil. Gefordert wird eine eindeutige Positionierung. "Das Werk, das Ihren Namen trägt," formuliert Schwarzschild in seiner Erwiderung auf den Protest am 25. Januar im "Tage-Buch", "steht gegen Sie auf und fragt Sie, wohin das führen soll."

Aber noch bevor Thomas Mann sich äußern kann, erscheint in der "Neuen Zürcher Zeitung" ein Artikel von Korrodi über die "Deutsche Literatur im Emigrantenspiegel". Heftig polemisiert der Verfasser gegen die Emigrantenliteratur und weiß auch typische antijüdische Klischees in seinen Artikel einzuweben, indem er behauptet, dass doch vor allem die "Romanindustrie" ausgewandert sei, die von Emigranten wie Schwarzschild als deutsche Literatur mit derjenigen jüdischer Autoren identifiziert wird, während deutsche Dichter wie Hauptmann, Carossa, die Jünger-Brüder, Rudolf Alexander Schröder u. a. nach wie vor in Deutschland wirken. "Wir begreifen", so schließt der Artikel, "daß es angesehene Schriftsteller gibt, die lieber nicht zu dieser deutschen Literatur gehören möchten, der der Hass lieber ist als das Streben nach Wahrheit und Gerechtigkeit."

Damit konnte nur Thomas Mann gemeint sein. Noch am gleichen Tag erhält dieser von Klaus Mann und dem Verleger Fritz Landshoff aus Amsterdam ein dringendes Telegram: "bitten inständig auf Korrodis verhängnisvollen Artikel wie und wo auch immer zu erwidern / stop diesmal geht es wirklich um eine Lebensfrage für uns alle."

Am nächsten Tag vermeldet das Tagebuch Thomas Manns: "Geplant ein offener Brief an Korrodi; K. verfaßte vormittags Entwurf dazu." Zunächst gelingt der Brief nur mühsam, "sehr müde; benommen und herabgestimmt", heißt es am 28. Januar. Am nächsten Tag wieder Erleichterung: "Erika zu Tische. Liebevoll. Gespräch mit ihr über die Dinge." Nun geht's, und am 31. Januar ist's vollbracht: "Starke und entscheidende Worte" urteilt der Verfasser selber; höchstselbst fährt er in die Stadt und gibt das Manuskript bei der Redaktion ab. "Ich bin mir der Tragweite des heute getanen Schritts bewußt. Ich habe nach 3 Jahren des Zögerns mein Gewissen und meine feste Überzeugung sprechen lassen. Mein Wort" - und hier schreibt der Repräsentant - "wird nicht ohne Eindruck bleiben."

Der offene Brief an Korrodi erscheint am 3. Februar 1936. Er ist keineswegs ein engagiertes Politikum. Über weite Strecken liest er sich wie eine durchaus höfliche dabei aber niveauvoll-fachkundige Gelehrtenauseinandersetzung mit den Korrodi'schen Thesen. Erst in der Schlusspassage wird Thomas Mann deutlicher. Klar bezeugt er seine Abkehr von Nazi-Deutschland. Zugleich bekennt er sich aber zu jenem höheren "Deutschtum", dessen geistiger Tradition er sich nach wie vor zugehörig fühlt. Daraus rührt die Überzeugung "daß aus der gegenwärtigen deutschen Herrschaft nichts Gutes kommen kann, für Deutschland nicht und für die Welt nicht, - diese Überzeugung hat mich das Land meiden lassen, in dessen geistiger Überlieferung ich tiefer wurzele als diejenigen, die seit Jahren schwanken, ob sie es wagen sollen, mir vor aller Welt mein Deutschtum abzusprechen." Das wird zum zentralen Motiv des ,politischen' Thomas Mann: "Wo ich bin, ist Deutschland!"

Nach dieser Klarstellung kehrt endlich Erleichterung ein. Die beängstigende Erfahrung einer durch politische Angelegenheiten bedrohten Schaffenskraft ist überwunden. Ein gelassener Umgang mit den Geschehnissen wird möglich. Angesichts der Rheinlandbesetzung durch die Wehrmacht notiert er am 14. März 1936 im Tagebuch: "Andauer der politischen Spannung. Erregung bei der Zeitungslektüre. Der Gedanke, einen Brief an die Times zu richten, läßt mich nicht los. Ich werde ihn aber nicht schreiben. Die Welt will vom ,Emigrantenhass' nicht belehrt sein. Wozu sich den Mund verbrennen." Zwar empört sich Thomas Mann nach wie vor über die politischen Geschehnisse, so etwa wenn er am 13. August 1936 die Berichterstattung der bürgerlichen Presse, hier vor allem der "Neue Zürcher Zeitung", zum spanischen Bürgerkrieg anprangert: "Die Haltung der N.Z.Z. in Sache Spanien und Frankreich ist ungeheuerlich, der Haß dieser Presse auf den Front populaire so albern und abstoßend, daß man erstaunt ist über die Niedrigkeit." Doch so richtig vermag dergleichen nicht mehr zu irritieren, denn das Wichtigste ist getan: der Joseph-Band ist im August 1936 vollendet, und Weiteres steht bevor. Die Goethe-Novelle, auf die ein erster Tagebucheintrag schon am 6. Januar 1935 hinwies, gewinnt bereits Kontur: "Lotte in Weimar" notiert Thomas Mann als Titel am 7. November 1936. Zur Konsolidierung der Lage trägt auch ein formaler Akt bei, über den es am 6. August 1936 im Tagebuch heißt: "Zum Essen Herr Fleischmann aus Prosec, C.S.R., rührender Mann, der mit heiligem Eifer und ,historischer' Feierlichkeit meine und der Meinen Ehren-Einbürgerung betreibt. [...] Angeregte Unterhaltungen, merkwürdiger, vielleicht denkwürdiger Tag. Ich unterschrieb den Einbürgerungsantrag an die tschechische Gemeinde." Durch die Bemühungen Fleischers erhielt die gesamte Familie das tschechische Staatsbürgerrecht. Als dann im Dezember 1936 die deutsche Ausbürgerung kommt, ist dies kein besonderer Grund mehr zur Beunruhigung. Die deutsche Angelegenheit ist bereinigt. Es fehlt allerdings noch ein abschließendes Dokument in dieser Sache, grundsätzlicher noch als die (doch eher spezielle) Klarstellung in der Korrodi-Sache. Dieses Dokument folgt alsbald. Auslöser wird die Aberkennung der Ehrendoktorwürde der Universität Bonn sein.

Diese Umstände machen das ,Politikum' überflüssig. Umso erstaunlicher, dass Jahre später die Aufzeichnungen wieder aktuell werden. Am 11. Februar 1945 notiert Thomas Mann im Tagebuch: "Nach dem Thee Beschäftigung mit den Tagebuchauszügen aus der ersten Zeit der Emigration, an deren Publikation ich denke." Auslöser für diesen Rückblick ist ein Aufsatz gewesen, den Thomas Mann im Februar 1945 für die New Yorker Zeitschrift "Free World" verfasst hatte. "The End" war "eine Art von Nekrolog auf den National-Sozialismus, der mir, glaub ich, recht gut gelungen ist." Weiter schrieb er der Freundin Agnes E. Meyer in einem Brief vom 15. Februar 1945: "Ich habe dazu Tagebuch-Aufzeichnungen aus dem Beginn der Emigration benutzt, die zeigen, wie die persönliche Verstörung und Beängstigung überherrscht war von dem Gefühl des Mitleids mit dem unglückseligen deutschen Volk...". Eine beherzte Beschönigung der tatsächlichen Bedeutung der ,persönlichen Verstörung und Beängstigung' für den Schriftsteller Thomas Mann. Aber nun, angesichts des bevorstehenden Endes von Nazi-Deutschland, schien eine solche Funktionalisierung des Materials vertretbar. Die einstmaligen Aufzeichnungen, Ausdruck einer existenziellen Lebens- und Schaffenskrise, waren nun eine "ganz erregende und erinnerungsvolle Lektüre", die dem Schriftsteller zu neuem Material werden musste. Trotzdem, so schreibt er am 9. März 1945 an Bermann Fischer, sei das Ganze ein ,persönliches Dokument', das er nicht in üblicher Weise veröffentlicht sehen wollte. Und so erscheint "Leiden an Deutschland. Tagebuchblätter aus den Jahren 1933 und 1934" 1946 im Verlag Pacific Press als kleinauflagiger Privatdruck. In der Rückschau wirken die Notate als wohl bemerkte letztlich vorausschauende Kommentare zum Verlauf der deutschen Tragödie. Trotzdem will Thomas Mann auch in diesem Text gar nicht als politischer Analyst wahrgenommen werden. Er weiß sich eins mit sich und seinem Werk, in dem, wie Hans Mayer schrieb, "Politisieren aus ästhetisch-erotischem Impuls" durchaus möglich war. Die tatsächlichen Ängste und die damit einhergehende Lebens- und Schaffenskrise sind nicht mehr rekonstruierbar - bestenfalls erhalten als wohlig gruselige Erinnerungen - als jener emotionale Impuls, aus dem heraus Politisieren in Thomas Manns Werk einzig zu verstehen ist.