Eine Romanze der Seelen

Ein großer Geschichtenerzähler meldet sich zurück: Matt Ruffs "Ich und die anderen"

Von Anne K. BetzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne K. Betz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Haus, See, Wald und 'Wüste' befinden sich alle in Andy Gages Kopf, beziehungsweise in dem, was Andy Gages Kopf gewesen wäre, wenn er noch lebte. Andy Gage wurde 1965 geboren und nicht lange danach von seinem Stiefvater, einem sehr bösen Menschen namens Horace Rollins, ermordet. Es war kein normaler Mord: die Mißhandlungen und Schändungen, die ihn töteten, waren zwar real, sein Tod aber nicht. Tatsächlich starb nur seine Seele, und als sie starb, zersplitterte sie. Dann wurden die einzelnen Fragmente zu eigenständigen Seelen, den gemeinsamen Erben von Andys Leben."

Matt Ruffs Romane sind immer beeindruckend. Der inzwischen über 40-jährige und doch jung gebliebene Autor hat mit "Ich und die Anderen" den vierten seiner Romane veröffentlicht, die ausnahmslos in viele Sprachen übersetzt wurden und sich, obwohl meist als Geheimtipp per Mundpropaganda weiterempfohlen, großer Beliebtheit erfreuen. Wie bereits in "Fool on the hill", einem von der Cornell-Universität in Ithaca, Wisconsin, inspirierten und durch viel Fantasie, mit lebendig gewordenen Sagengestalten und sprechenden Tiere aufgepeppten Roman über das Geschichtenerzählen, und in der fleisch- oder besser buchgewordenen Großstadt-Wucherung "G.A.S." beweist Matt Ruff auch in seinem neuen Roman, dass er sein Handwerk beherrscht: Leichthändig jongliert er mit einem Dutzend und mehr Figuren (zwei davon mit jeweils etwa sieben dominanten Seelen), diversen Handlungssträngen, Vergangenheit, Gegenwart und Parallelgeschehen. Dass der Leser sich bei einer solchen Fülle von Gesichtern, Hinweisen und Motiven nicht einfach überrollt fühlt, ist und bleibt eine Leistung.

Aus wechselnder Perspektive erzählt Ruff die Geschichten von Andy und Penny, zwei jungen Menschen, die unter multipler Persönlichkeitsstörung leiden. Andy hat es geschafft, in seinem Kopf eine gewisse Ordnung in Form einer Landschaft aufzubauen, mittels derer es ihm gelingt, die vielen Seelen in Schach zu halten. Die Seele, die im Moment alles steuert, heißt Andrew, und so heißt auch Andy im Moment Andrew. Penny dagegen ist sich ihrer Krankheit nicht bewusst und erleidet jedes Mal einen Blackout, wenn eine ihrer verschiedenen Seelen die Kontrolle über Leib und Körper an sich reißt. Sie erwacht völlig desorientiert in den unschönsten Situationen, verliert ihre irgendwie erlangten Jobs, ohne zu wissen warum, und wird von seltsamen Hinweisen auf Zetteln verfolgt, die irgendjemand für sie geschrieben haben muss. Als sie einen neuen Job in der "Reality Factory", einer Firma für virtuelle Realität, bekommt, erkennt ihre Chefin Julie, worunter sie leidet, denn bei Reality Factory arbeitet auch Andrew. Eigentlich will Andrew Penny nicht helfen, da er weiß, dass es eines ausgebildeten Arztes bedarf, eine multiple Persönlichkeitsstörung zu diagnostizieren und zu behandeln, aber Julie lässt nicht locker. Und da Andrew sich zu Julie hingezogen fühlt und Penny von einigen ihrer Persönlichkeiten ernsthaft bedroht zu sein scheint, lässt er sich überreden. Dann aber entwickeln sich die Dinge auf eine Weise, die sein eigenes mentales Gerüst zu zerbrechen drohen, da an Dinge gerührt wird, die die Seele namens "Andrew" von seinen Mitbewohnern nie erfahren hatte ...

Das Thema "Multiple Persönlichkeitsstörung" in einem Roman angemessen und doch unterhaltsam zu behandeln, verlangt große Einfühlsamkeit und Fachkenntnis. Es gibt bisher nur einen Roman, dem das gelungen ist, Adriana Sterns "Hannah und die Anderen", an den auch der deutsche Titel von Matt Ruffs Buch angelehnt wurde. Auch in Ruffs Roman wird nichts beschönigt, aber dennoch nicht in medizinischen Fachbegriffen gesprochen. Andy und Penny bleiben normale Menschen, nur dass sie eben viele komplette Persönlichkeiten in sich vereinigen, die alle den einen Körper für sich beanspruchen. Der Auslöser dieser Krankheit liegt in ihrer Vergangenheit, und gemeinsam mit Andy und Penny tastet sich der Leser langsam zu ihr zurück: Die Ereignisse, die zur Seelenspaltung führten, wiederzufinden, wieder zusammenzusetzen, ist als der beste Weg zur Besserung propagiert, aber immerhin waren sie so schrecklich, dass sie eine Seele töteten, und es erfordert viel Mut und einiges an Recherche, diesen Dingen auf die Spur zu kommen. Und da wird an manches Geheimnis gerührt, dass vielleicht sogar zu einer Gefahr für Leib und Leben werden könnte.

"Ich und die anderen" ist ein einfühlsames Porträt zweier Persönlichkeiten, die bereits in ihrer Kindheit gebrochen wurden und nun versuchen müssen, mit den Folgen zurechtzukommen. Die Dinge, die sie herausfinden, sind nichts für schwache Nerven und lassen Privatsender-Fernsehdramen blutleer erscheinen, dennoch ist nichts platt, nichts so überzogen, dass es ins Lächerliche umkippt. "Ich und die anderen" wird so zu einem sehr spannenden, unterhaltsamen und auch lehrreichen Buch, in dem trotz aller Dramatik der Witz nicht zu kurz kommt. Denn auch wenn Andy und Penny sich anfreunden und sich zwischen einigen Seelen sogar etwas mehr entwickelt, können sich andere wiederum nicht ausstehen und geben ungefragt ihren Senf dazu.

Titelbild

Matt Ruff: Ich und die anderen. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Giovanni und Ditte Bandini.
Carl Hanser Verlag, München 2004.
597 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3446205357

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