Schwabs Prätext

Kai Brodersen präsentiert erstmalig eine vollständige zweisprachige Ausgabe der Bibliothek des (Ps.-)Apollodoros

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Gustav Schwab von 1834 bis 1840 seine Sammlung der "Schönsten Sagen des klassischen Altertums" veröffentlichte, dienten die drei Bände weniger einem philologischen Zweck als vielmehr dem Ziel, nachfolgenden Generationen ein verständliches Bild der griechischen und römischen Mythen und Sagen zu vermitteln. In seiner Einleitung schrieb Schwab von dem "Versuch", "die schönsten und bedeutungsvollsten Sagen des klassischen Altertums den alten Schriftstellern und vorzugsweise den Dichtern einfach und vom Glanze künstlerischer Darstellung entkleidet, doch, wo immer möglich, mit ihren eigenen Worten nachzuerzählen". Was auf den ersten Blick wie eine Kompilation aus den Primärtexten antiker Dichter wie Hesiod oder Homer erscheint, lässt bei genauerer Betrachtung einen anderen Referenztext erkennen: die unter dem Namen des grammatikos Apollodoros von Athen überlieferte "Bibliothek" (bibliothéke), ein facettenreiches Kompendium der griechischen Mythologie.

Kaum eine Äußerung charakterisiert dieses Werk, das eine ganze Bibliothek antiker Texte ersetzen und zu diesem Zweck Kurzfassungen der in ihr präsentierten Texte bieten will, besser als ein Zeugnis des gelehrten Patriarchen Photios aus dem 9. Jahrhundert: "Ich las ein Büchlein des gelehrten Apollodoros; sein Titel war Bibliothek. Es enthielt das Allerälteste von den Griechen, das die Zeit ihnen über die Götter und Helden zu glauben gegeben hat, und über die Namen von Flüssen, Ländern, Völkern und Städten, und von da an alles andere, was bis ins Altertum hinaufreicht. Das Werk geht weiter bis zum Troianischen Krieg und behandelt die Schlachten, die bestimmte Männer miteinander ausgefochten haben, ihre Taten und manche Irrfahrten der Rückkehrer von Troia, insbesondere die des Odysseus, mit dem für ihn die Geschichte der alten Zeit endet. Im allgemeinen ist das Buch eine Synopse, der es durchaus nicht an Nutzen für die mangelt, die der Erinnerung an die alten Geschichten Wert beimessen."

Streng genommen müsste man jedoch von einem "Pseudo-Apollodoros" als Verfasser dieses mythografischen Handbuchs sprechen, da der gelehrte Philologe aus dem 2. Jahrhundert v. Chr. keinesfalls als Verfasser dieses Werks in Betracht kommt. Das wird recht deutlich, wenn man sich die Quellenangaben dieser Sammlung anschaut. Völlig unverdächtig sind die Referenzen auf Homer und Hesiod, zwei Autoren des 7. Jahrhunderts v. Chr., sowie auf zwei Autoren des 5. Jahrhunderts v. Chr., deren mythographische Werke nicht direkt erhalten sind: Pherekydes von Athen und Akusilaos von Argos. Problematisch wird es jedoch mit der Bezugnahme des (Ps.-)Apollodoros auf den Historiker Kastor von Rhodos, der, wie aus anderen Zeugnissen ersichtlich wird, seine Chronik bis ins Jahr 61/60 v. Chr. führte. Daher kann der Autor der "Bibliothek" nicht bereits - wie der gelehrte und berühmte Apollodoros von Athen - um 180 v. Chr. geboren sein.

Gleichwohl liegt mit der "Bibliothek" ein faszinierendes und einzigartiges Kompendium der griechischen Mythologie vor. Die griechischen Mythen werden von der Kosmogonie und Theogonie bis hin zu den Taten der Heroen spannend erzählt und durch zahlreiche Varianten angereichert, die die Hand des Philologen verraten und die aus für uns heute verlorenen Texten der antiken Poesie und Prosa stammen. Wie Kai Brodersen in der informativen Einleitung zu seiner im Rahmen der "Edition Antike" in der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft vorgelegten zweisprachigen Ausgabe der "Bibliothek" erläutert, bedient sich der Autor, "[u]m den umfangreichen Stoff überhaupt präsentieren zu können", "zum einen der möglichst weitgehenden Verknappung der Angaben, zum anderen der klaren genealogischen Zuordnung aller mythischen Figuren". So verknappt (Ps.-)Apollodoros die gesamte Homerische "Ilias" auf ein Kapitel, und die Geschichte von Antigone, der Sophokles immerhin eine der bis heute am meisten bewunderten Tragödien der Antike gewidmet hat, wird in zwei Sätzen abgehandelt. Den im Anschluss daran präsentierten Katalogen fehlt es zwar an erzählerischer Ausschmückung, ihnen entnommen werden konnten aber im Lauf der Jahrhunderte die wichtigsten Namen der griechischen Götter und Helden. (Ps.-)Apollodoros' "Bibliothek" wurde in Antike und Mittelalter mehrfach abgeschrieben, eine Abschrift des gesamten Textes ist jedoch nicht erhalten geblieben, so dass man bei der Rekonstruktion des griechischen Textes der "Bibliothek" auf unterschiedliche Zeugnisse angewiesen ist, auf deren unterschiedliche Relevanz Brodersen in seiner Einleitung eingeht. Die erste Druckausgabe der "Bibliothek" erschien schließlich 1555. Die letzte kritische Ausgabe des Textes geht auf das Jahr 1894 (2. Auflage 1926) zurück, ist aber dadurch überholt, dass die Bedeutung der wichtigsten Codices, mit deren Hilfe ein Gesamttext rekonstruiert werden kann, erst in den 1930er Jahren erkannt wurde. Eine angekündigte neue kritische Ausgabe ist bisher noch nicht realisiert worden.

Deshalb kommt dem von Brodersen edierten Lesetext eine besondere Bedeutung zu, bietet er doch nicht nur erstmalig eine vollständige zweisprachige Ausgabe, sondern berücksichtigt auch die neueren Erkenntnisse zum Text in Edition und Übersetzung. Jedem Leser, der sich in seiner Jugend oder auch später begeistert in Schwabs Jahrhundertwerk festgelesen hat, sei die Lektüre dieser ersten griechisch-deutschen Leseausgabe von (Ps.-)Apollodoros' "Bibliothek" wärmstens empfohlen, denn bereits hier findet sich mehrere Jahrhunderte vor Schwab ein lebendiges Bild der griechischen Mythologie vermittelt.

Titelbild

Apollodoros: Götter und Helden der Griechen. Griechisch und deutsch.
Herausgegeben und übersetzt von Kai Brodersen.
wbg – Wissen. Bildung. Gemeinschaft, Darmstadt 2004.
327 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-10: 3534181166

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