Einhundert Quadratzentimeter Gesichtsfläche

Porträtplastik der Moderne aus der Marbacher Sammlung

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Darstellung des menschlichen Antlitzes ist für den Bildhauer von jeher eine besondere Herausforderung gewesen, obwohl er sich der Beschränkung, die im Porträt liegt, heute nicht immer gern unterwirft. Denn der Darzustellende ist ja für den Porträtisten Individuum wie er selbst, ein Mensch mit einem eigenen Willen, den er dem Willen des Künstlers entgegenstellt. Wenn es sich dann beim Gegenüber noch um einen Schriftsteller handelt, ist das eine zusätzliche Herausforderung. Einhundert Quadratzentimeter Gesichtsfläche - was soll hier von der Persönlichkeit des Autors, seiner geistigen Ausstrahlung, seinem Lebensschicksal und vielleicht sogar noch von seinem schriftstellerischen Werk vermittelt werden? Der Autor wird immer eine andere Auffassung von seinem Porträt haben, wie der Bildhauer selbst eine andere Formvorstellung.

Das "Marbacher Magazin" stellt in seiner 109. Ausgabe mehr als 30 Büsten, Masken, Statuetten und Stelen von bedeutenden Literaten des 20. Jahrhunderts, geschaffen von ebenso namhaften wie heute eher in Vergessenheit geratenen Bildhauern der Moderne, in Bild und Text vor. Sie stammen aus der Skulpturensammlung des Schiller-Nationalmuseums und Deutschen Literaturarchivs in Marbach und wurden von Januar bis März 2005 dort im Schiller-Nationalmuseum gezeigt. Eingeleitet wird der Band von einem anregenden Essay von Jan Bürger, der dem Thema ,Schriftsteller und ihre Porträts' nachspürt. Immer schon ist das Porträtiertwerden für Schriftsteller ein Zeichen dafür gewesen, ein "Stückchen Unsterblichkeit" zu gewinnen, zugleich aber auch, sich der eigenen Endlichkeit bewusst zu werden. Die "Wahrheit" der Bildhauerkunst macht sie betroffen. "Es ist furchtbar, was Bronze sagen kann, ein Stück geformtes Metall, und Sprache nicht", soll sich Franz Fühmann gegenüber Wieland Förster geäußert haben, der ihn porträtierte. Der eine Autor wirkt souveräner im Umgang mit seinem Porträt als der andere. Denn es steht ja sein künstlerischer Lebensentwurf auf dem Spiel. Bürger stellt abschließend die Frage, ob die Porträtplastik überhaupt noch eine Zukunft habe, wenn sich der Schriftsteller als "symbolisch überhöhtes Ab- und Sinnbild inszeniert, das in den Medien beliebig reproduziert werden kann".

Die abgebildeten Skulpturköpfe und ihre Kommentierung treten eigentlich schon den Gegenbeweis an. Curt Gitschmanns akkurate Porträtstatuette (1903-1911, Bronze auf Steinsockel) zeigt den fast fünfzigjährigen, längst berühmten Gerhart Hauptmann ganz in schöpferische Gedanken versunken bei einem seiner häufigen "Produktivspazierungen". Dagegen hat Clara Westhoff bei der Porträtbüste ihres Mannes Rainer Maria Rilke (1901, Gips auf Gipssockel) auf jeden detailfreudigen Naturalismus verzichtet und die geistigen und seelischen Regungen des Dichters herausgearbeitet. Dieser scheint in ein intensives Zwiegespräch mit der Künstlerin vertieft zu sein. Elf Jahre später gibt sie das Bildnis der noch jugendlich attraktiv anmutenden Ricarda Huch (1912, Bronze) in porträtgetreuer Beobachtung, aber mit das Alter vorwegnehmenden Zügen wieder, sodass die Schriftstellerin damals von Clara Westhoff verlangte, die Büste ohne Nennung ihres Namens auszustellen.

Georg Kolbe, einer der bekanntesten Porträtisten der Weimarer Republik, belebt die strenge Grundform des Kopfes der exzentrischen Schriftstellerin Annette Kolb (1916, Bronze auf Steinsockel), die während des Ersten Weltkriegs für eine europäische Völkerverständigung eingetreten war, durch die herausstechenden Gesichtszüge und die unruhige Struktur der Haare. Einen ebenfalls überzeugten Europäer konterfeite Kolbe im gleichen Jahr mit der kultivierten und feinnervigen Erscheinung von Harry Graf Kessler (1916, Bronze auf Steinsockel), indem er dessen Schädel fast in seiner Grundform beließ und nur die Außenhaut zart modellierte. Für das Porträt Mechthilde Lichnowskys (1909/16, Eisen auf Steinsockel) allerdings wählte Kolbe die reduzierte und scharflinig umrissene Form einer Maske. Der abrupt wirkende obere Abschluss, der die Schädeldecke abschneidet, erinnert an ägyptische Porträtköpfe. Einerseits wirkt das Gesicht fremd, unnahbar, zeitlos, andererseits wird durch genau beobachtete physiognomische Details eine unmittelbare, sinnliche Gegenwärtigkeit erzielt.

Wiederholt ist die markante Erscheinung Theodor Däublers von Barlach, George Grosz oder Otto Dix porträtiert worden. Der Schweizer Bildhauer Fritz Ruf hat den mächtigen Kopf des vierzigjährigen Dichters (1916, Gips, rötlichbraun gefasst) überlebensgroß und in wuchtiger Kompaktheit auf einen Sockel gesetzt - und dennoch scheint das eine statuarische Ruhe ausstrahlende Antlitz von vorn gesehen fast zu schweben. Barlachs stilisierte Porträtmaske von 1934 (Bronze) ist eine Überarbeitung der Totenmaske Däublers. In der nahezu ornamentalen Rahmung kommen die ruhigen und klaren Gesichtszüge umso intensiver zum Ausdruck. Von der Spannung zwischen zerfurchter Oberfläche und fester Kontur lebt Renée Sintenis' Porträtmaske des französischen Schriftstellers André Gide (1932, Bronze). Der Blick (die Augen sind nur als Aussparung angegeben) geht forschend nach außen, aber auch nachdenklich nach innen. Wie in Kolbes Büste Graf Kesslers wird das Gegenüber auf Distanz gehalten.

Im Gegensatz zu Kolbes Porträtauffassung baut William Wauer seine Büste Nell Waldens (1918, Bronze), der Frau und Mitstreiterin des "Sturm"-Begründers, aus dynamisch gespannten Flächen, um den Hinterkopf geschlungenen Bändern und scharfen Kanten auf. Nimmt man noch das in Vertiefungen und Wölbungen aufgelöste Antlitz hinzu, dann scheint das ganze Porträt in die technoide Sprache einer modernen Maschinenwelt übersetzt zu sein. Ebenso kühn ist Rudolf Bellings nur auf Stirn, Augen, Nase und Mund reduzierter Porträtkopf des damals bedeutendsten deutschen Kunsthändlers Alfred Flechtheim (1927, Bronze), ein Werk, das einen Endpunkt möglicher Abstraktion anzeigt.

Modellierte Gustav Heinrich Wolff den Kopf des Dichters Gottfried Benn (1927, Terrakotta) überlebensgroß, massig, befremdlich und zugleich fast entrückt, so gibt der damals noch wenig bekannte Bildhauer Fritz Wotruba ein ergreifendes Bildnis des unter den zermürbenden Bedingungen des Exils leidenden Robert Musil (1939, Bronze), der den Blick ziellos ins Leere gerichtet hat. 1954 hatte Gustav Seitz im Auftrag der (Ostberliner) Akademie der Künste Thomas Mann in dessen Wohnsitz in Kilchberg bei Zürich porträtiert. Der Bildhauer notierte damals in seinem Tagebuch: "Er hat eine glühende rote Nase wie ein Bauer, der viel in der Kälte draußen arbeitet und gerne einen guten Schnaps trinkt. Er sieht wie 68 aus und nicht wie 79 [...] Seine Haltung gefällt mir. Sehr aufrecht nach hinten gebeugt, aber nicht von oben herunter". Und Thomas Mann zeichnete entgegen: "Das Bild ist fertig und wirklich recht gut, nur etwas unheiter. Bin doch erfreut über diese Verewigungen, die gut in dies Jahr passen". Das darauf folgende Jahr ist der Schriftsteller verstorben. Trägt sein Thomas Mann-Kopf (1954, Bronze) noch idealisierende Züge, so ist Seitz' Porträtstatuette Bertolt Brechts (1957/58, Bronze ) lapidar und treffend zugleich: Der statischen und geschlossenen Körperkontur geben der vorgestreckte Kopf, die gewinkelte Rechte mit der unvermeidlichen Zigarre und der leicht nach vorn gesetzte rechte Fuß innere Spannung und konzentrierte Aufmerksamkeit.

Der Philosophenschädel Martin Heideggers (1964, Bronze) gewinnt bei Bernhard Heiliger eine fast schwebende Leichtigkeit, die der weich fließenden Modellierung des Gesichts, dem verhangenen Blick und dem wirklichkeitsentrückten Lächeln entspricht. Hans Wimmer zeigt die altersgebrechliche Geistigkeit des umstrittenen Schriftstellers Ernst Jünger (1972, Bronze), während der italienische Bildhauer Marino Marini fast eine Rohfassung des Porträts Gottfried Bermann Fischers (1967, Bronze auf Metallstab), des Exil-Verlegers, vorstellt: Die linke Gesichts- und Halspartie steht im Kontrast zur rechten, und über die Stirn bis zum Kinn verläuft in Zickzackbewegung eine Schicksalslinie, die auf die Verbindung von Leben und Vergänglichkeit im Sinne eines Memento mori verweist.

Wieland Försters Porträtplastiken leben von der Spannung zwischen abstrakter Form und der Individualität des Dargestellten. Jeder der Porträtierten hat ein Geheimnis, sein Geheimnis. "Ohne Geheimnis, das sich in der Arbeit erst langsam enthüllt, keine Kunst", sagt Förster. Er erfand beim Bildnis Erich Arendt (1968, Bronze) die dünne, tragende Stele, die das Porträt des Dichters im Luftraum fixiert, sie vom Postament befreit. Hat es abgehoben, hat es etwas Schwebendes, so sinkt dagegen der massige Kopf Franz Fühmanns (1969, Bronze) geradezu in seine Unterlage - der nachdenkende, schreibende oder lesende Dichter in kontemplativer Versunkenheit. Försters Porträtstele von Walter Jens (1997, Bronze) wiederum lässt den Kopf des Tübinger Gelehrten als nach oben sich verbreiternde Vertikale wachsen, die den Oberkörper stelenartig torsiert belässt. Der jüngste in der Runde der Bildhauer, Florian Flierl, zitiert in der von giftgrüner Patina überzogenen Porträtbüste Heiner Müller (1998, Bronze auf Steinsockel) die markantesten physiognomischen Merkmale dieses Theatermannes und Zeitkritikers: den spöttisch verzogenen Mund, die hochmütig gerümpfte Nase, die strichähnlichen, scharf blickenden Augen hinter der Brille.

Obwohl nur diesem einen Genre gewidmet, chronologisch Bildniskopf an Bildniskopf gereiht, ist das Betrachten und die Lektüre des Bandes vielseitig und abwechslungsreich. Hier werden nicht nur die Gesichter einer Literaturepoche versammelt, sondern man kann zugleich teilnehmen an einem stillschweigend-beredten Dialog zwischen Partnern in Kunst und Literatur.

Titelbild

Sabine Fischer / Jan Bürger (Hg.): Literarische Köpfe. Porträtplastik der Moderne aus der Marbacher Sammlung. Marbacher Magazin 109.
Schiller-Nationalmuseum Deutsches Literaturarchiv, Marbach am Neckar 2005.
118 Seiten, 9,00 EUR.
ISBN-10: 3937384057

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