Die Poetik des ,Anderen Texts'
"Enuma elisch. Traum im Traum", ein wenig bekanntes Schlüsselwerk Anna Achmatowas
Von Daniel Henseler
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAnna Achmatowa (1889-1966) bedarf nicht unbedingt einer langen Vorstellung. Als eine der beiden großen Frauengestalten der russischen Literatur neben Marina Zwetajewa hat sie auch im Ausland ein beachtliches Publikum. Dabei scheint man aber von dieser Dichterin nach wie vor in erster Linie das frühe Werk und besonders ihre Liebeslyrik bis zur Revolution oder allenfalls bis in die frühen 20er Jahre wahrzunehmen. Die Ausnahme hiervon bildet freilich ihr Opus magnum, das "Poem ohne Held", das sie über die letzten zweieinhalb Jahrzehnte ihres Lebens ständig beschäftigte. Weniger bekannt ist hingegen die späte Lyrik nach dem Krieg, und fast schon gänzlich unbekannt ihr Werk "Enuma elisch".
Der Verleger Urs Engeler und der Übersetzer Alexander Nitzberg haben nun eine zweisprachige Ausgabe dieses recht eigenartigen und auch von der akademischen Forschung bisher stiefmütterlich behandelten Stücks vorgelegt. Damit ermöglichen sie der deutschsprachigen Leserschaft zum ersten Mal überhaupt den Zugang zu diesem Werk.
"Enuma elisch" ("Als droben") lauten die Eröffnungsworte eines altbabylonischen Schöpfungsmythos. Achmatowas zweiter Ehemann, der Wissenschaftler und Dichter Wladimir Schileiko (1891-1930), hat an einer russischen Übersetzung dieser Kosmogonie gearbeitet, die allerdings verschollen ist. Man weiß jedoch, dass Achmatowa den Text zur Kenntnis genommen hat. Entstanden ist eine erste Version von "Enuma elisch" in den Jahren 1942-1944 im usbekischen Taschkent, wohin Achmatowa aus dem belagerten Leningrad evakuiert worden war. Nach ihrer Rückkehr aus dem exotisch-orientalischen Süden an den Finnischen Meerbusen hat die Dichterin das Werk jedoch verbrannt und um das Stück herum eine eigentliche Legende geschaffen. Sie hat in Notizen, Interviews und Gesprächen immer wieder auf das Stück und seinen Inhalt verwiesen, hat Informationen gestreut, wie es genau ausgesehen hat und warum sie es verbrannt hat. Achmatowa hat einige Spuren gelegt, welche die Leserschaft bei der Interpretation anleiten sollten. Und wie so oft im Hinblick auf ihr Werk hat die Dichterin dabei durchaus widersprüchliche Angaben gemacht, um ihre Leser (darunter die Zensoren!) zu verwirren.
In den 60er Jahren ist Achmatowa zum Projekt zurückgekehrt und hat das Stück "rekonstruiert", dabei aber gleichzeitig verändert und in seiner Konzeption ausgeweitet. Während der letzten vier Lebensjahre wurde es zu ihrer literarischen Hauptbeschäftigung. Zu Lebzeiten der Dichterin wurden allerdings nur ein paar Ausschnitte aus dem Stück veröffentlicht, eine abgeschlossene Version gibt es nicht. Man kennt immerhin inzwischen eine ganze Reihe von Fragmenten, die sich bisweilen stark ähneln. Manche davon sind in Prosa, andere in Versen verfasst. Achmatowa selbst maß dem Werk erhebliche Bedeutung bei.
Worum aber geht es im Stück? Über eine Dichterin wird in bruchstückhaften, manchmal traumartigen Szenen Gericht gehalten. Welches Vergehens sie angeklagt ist, wird dabei auch für die Dichterin nicht klar, aber hinter den Anklägern kann man zum Teil bös karikierte Vertreter der Sowjetmacht erkennen. Zugleich beschwört das Stück eine Liebe, welche sich über Raum und Zeiten erhebt: Immer wieder werden die Dichterin und ein "Gast aus der Zukunft" in Dialogen und in schicksalhaften Begegnungen miteinander konfrontiert. Den Gast aus der Zukunft kennt man bereits aus dem "Poem ohne Held", ebenso wie die sehr ausgeprägte Doppelgänger- und Spiegelthematik.
Das Stück steht in enger Beziehung zu Achmatowas Hauptwerk "Poem ohne Held", das übrigens derselbe Nitzberg vor wenigen Jahren neu ins Deutsche übersetzt hat. Achmatowa selbst hat "Enuma elisch" eine "Wegbegleiterin" des Poems genannt. Angesichts der fragmentarischen Gestalt des Stücks und der vielfältigen Verweise auf das seinerseits komplexe "Poem ohne Held" ist offensichtlich, dass eine Lektüre des Stücks ohne eine gewisse Hilfestellung schwierig wäre. Nitzberg ergänzt seine Übertragung deshalb mit Anmerkungen und einem sehr hilfreichen Nachwort, in dem er wichtige Informationen zum Kontext bereitstellt.
Nitzberg stand zunächst vor der Aufgabe, den Text als solchen überhaupt erst einmal zu konstituieren. Er hielt sich beim Abdruck an die "Rekonstruktion" des Stücks durch Michail Kralin, einem der Herausgeber von Achmatowas Werk. Kralin hat die existierenden Teile zusammengetragen und eine mögliche Abfolge vorgeschlagen. Absolut richtig erscheint hier Nitzbergs Entscheidung, im Gegensatz zu Kralin auf eine Nummerierung der einzelnen Fragmente zu verzichten. Damit lässt er nämlich ausdrücklich auch andere Anordnungen zu. Dies wäre mit Sicherheit auch im Sinne der Dichterin. Denn: Achmatowa hat in den letzten Jahren eine eigentliche "Poetik des Anderen Texts" entwickelt. Sie gibt in ihrem Werk etwa mit Hilfe alternativer Anordnungen von Gedichtzyklen, ja überhaupt durch das Schaffen immer weiterer Varianten ihrer Texte zu verstehen, dass sie stets wieder eine andere Spielart vorlegen könnte. Keine Variante scheint mehr endgültig. Mit "Enuma elisch" bringt sie diese Poetik zur Perfektion: Der Text strebt nicht einmal mehr in Ansätzen eine (vermeintlich) letzte Version an. Der Mythos um den verbrannten Text, den Achmatowa später gleichwohl aber wieder rekonstruiert, wird zum wichtigen Bestandteil dieser Poetik: Auch ein abwesender Text ist letztlich doch wiederum anwesend. Achmatowa suggeriert schließlich ihrer Leserschaft, dass auch andere abwesende Texte als vielleicht doch existent zu denken sind. Stets könnte eine alternative Textvariante angenommen werden. Man kann diese Poetik auch als eine direkte Antwort auf Bestrebungen der Leserschaft verstehen, die Dichterin endgültig auf bestimmte Varianten hin zu kanonisieren. Gleichzeitig schlug Achmatowa damit aber auch der Zensur immer wieder ein Schnippchen.
Ein Wort zur Übersetzung ist angebracht: Alexander Nitzberg hat schon viel russische Lyrik ins Deutsche übertragen, vorwiegend aus dem 20. Jahrhundert, aber auch Alexander Puschkin. Er ist selbst Lyriker, und dies merkt man seinen Übersetzungen auch an, beherrscht und verwendet er doch die klassische deutsche Metrik. Insgesamt ist die Übersetzung sehr schön und lesbar geraten. Dort, wo Achmatowa im Original Verstext verwendet, hat sich Nitzberg dafür entschieden, der Form ganz genau zu folgen. Er wählt dasselbe Versmaß und behält sogar das Reimschema bei. Dies ist eine Wahl, für die es gute Gründe gibt. Allerdings bringt sie auch mit sich, dass sich ab und zu ein Wort in die Übersetzung hineinschleicht, das im Original nicht vorhanden ist. So spricht Nitzberg an einer Stelle von "gezündetem Benzin", während im Original lediglich von Feuer die Rede ist. Auch ist die Verwendung einiger deutscher Wörter wohl diskutabel, etwa im Fall des Adjektivs "krass", dessen Stilebene allzu sehr von der gegenwärtigen Jugendsprache geprägt ist und deshalb nicht so recht in diesen Text passen will. Oder bei der "High Society", wenn von der höheren Gesellschaft des Petersburg von 1913 die Rede ist. Warum Nitzberg schließlich den "jurodiwyj", den "Narr in Christo", eine ganz eigene und typische Figur der russischen Kulturgeschichte, nüchtern mit "Bettler" übersetzt, dafür lassen sich kaum Gründe anführen. Hier gehen doch einige Konnotationen verloren.
Prächtig sind die Gedichtbände aus Urs Engelers Verlag gestaltet, auch wenn im vorliegenden Fall noch anzumerken ist, dass in der Übersetzung manchmal eine Zeile herausgefallen ist. "Enuma elisch" darf mit Fug und Recht als ein Schlüsselwerk für das Verständnis von Werk und Poetik Anna Achmatowas bezeichnet werden. Aber es ist dies weniger durch seinen Inhalt oder die literarische Bedeutung, als vielmehr durch die darin implizit zum Ausdruck gelangende Poetik der Dichterin.