Demütiges Opfer

Willi Winkler hat Platons Apologie des Sokrates in Matthias Claudius' Übersetzung neu ediert

Von Reinhard GörischRSS-Newsfeed neuer Artikel von Reinhard Görisch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist erstaunlich - und spricht für den Autor - dass fast jährlich kleinere oder größere Auswahlausgaben aus den Werken von Matthias Claudius (1740-1815) herauskommen und so dessen Rezeption über sein ungemein populäres "Abendlied" ("Der Mond ist aufgegangen") hinaus permanent in Gang halten. Fast nie werden in diesen Auswahlen jedoch Übersetzungstexte berücksichtigt, die Claudius besonders in den späteren Teilen seiner "Sämtlichen Werke" (Teile I/II - VIII 1775 - 1812) wie selbstverständlich zwischen eigene Texte einreiht, weil er sich mit dem, was sie darlegen, identifiziert; das betrifft Auszüge aus altindischen Religionsschriften und Konfuzianische Lehren ebenso wie religiös geprägte Texte Francis Bacons und Isaac Newtons oder Lehrbriefe und Sprüche griechischer Weiser aus der Schule des Pythagoras. Damit will Claudius zeigen, dass religiöse und ethische Grundwahrheiten überall, nicht nur im christlichen Glauben zu finden sind - insoweit folgt er aufklärerischen Ansichten - und auch von hochrangigen Philosophen und Naturwissenschaftlern festgehalten werden - damit wiederum rückt er religionskritische aufklärerische Überheblichkeit zurecht.

In diesen inhaltlich-konzeptionellen Zusammenhang fügt sich Claudius' Übersetzung von Platons "Apologie des Sokrates" und ihre Aufnahme in den V. Teil seiner "Sämtlichen Werke" (1790) ein, und es ist verdienstvoll, dass Willi Winkler und die Friedenauer Presse mit einer neuen Edition wieder einmal auf einen der bedeutendsten Beiträge in diesem Sektor des schriftstellerischen Schaffens von Matthias Claudius aufmerksam machen. (Wie auch im Nachwort vermerkt, hatte schon der namhafte Altphilologe Bruno Snell die 'Apologie'-Übersetzung von Claudius 1947 eines Nachdrucks gewürdigt, allerdings in behutsamer Überarbeitung.) Zu Recht sieht Winkler in diesem Text "das Hauptstück" des V. Werke-Teils. Wie sehr er dessen integraler Bestandteil ist, lässt sich auch aus dem Umstand schließen, dass Claudius ihn nicht zugleich als Einzeldruck publizierte.

An dieser Stelle sind jedoch nicht Platons "Apologie des Sokrates" und nicht primär Claudius' Übersetzung zu rezensieren, sondern deren erneute Edition. Deshalb kann hier außer Acht bleiben, inwieweit Claudius' Übersetzung durchweg philologisch korrekt ist - Winkler bemerkt dazu, trotz einiger möglicher Einwände sei sie "dennoch erstaunlich genau und über gut zwei Jahrhunderte unerhört lebendig geblieben". Winklers nicht genannte Textvorlage könnte der Erstdruck von 1790 sein; Stichproben lassen auf eine zuverlässige (in Orthographie und Zeichensetzung modernisierte) Wiedergabe schließen. Wohltuend knappe Anmerkungen erläutern Namen, Begriffe und Anspielungen, ergänzt um eine Auswahl weiterführender Literatur zu Sokrates und Claudius. Die angebliche "Vorrede" zur "Apologie des Sokrates", in Fraktur vorangestellt und als "Faksimile aus 'Sämmtliche Werke des Wandsbecker Bothen', 1789, Theil 5" ausgewiesen, macht sich gut, entpuppt sich allerdings als Montage und passt im Satzspiegel nicht zu dem vermerkten Erstdruck, sondern nur zu der Werke-Ausgabe von 1819 oder der von 1829 (beide datieren den V. Teil auch fälschlich auf 1789; als Vorlage für den Neudruck der 'Apologie' wurden sie jedoch, einem Lesartenvergleich zufolge, nicht verwendet). Die Überschrift gilt in Wahrheit der Vorrede zum ganzen V. Werke-Teil, die nur unter anderem auf die 'Apologie' eingeht, und der Schluss dieses "Faksimiles" (Ort, Datum, Name) entstammt der "Subscriptions-Anzeige", die im Dezember 1789 in Hamburger Zeitungen erschien und im V. Teil vor der Vorrede wiederholt ist.

Im ausführlichen Nachwort befasst Winkler sich zu annähernd gleichen Anteilen mit Sokrates und Claudius: zunächst mit dem Philosophen und Platons Bild von ihm, mit der historischen Situation und den Herrschaftsverhältnissen, die zu dem "Schauprozeß" gegen Sokrates führen, und mit den Umständen von dessen Tod ("Selbstmord oder staatlicher Mord?"). Im zweiten Teil des Nachworts geht Winkler dann unter Einstreuung biografischer Daten ausführlich und teilweise abschweifend auf den Journalisten Matthias Claudius ein (der dieser von Haus aus und vor allem als Redakteur des "Wandsbecker Bothen" war und der sich in vielerlei Sinn als Bote verstand) und erläutert anhand von Claudius' "Werther"-Rezension beiläufig - zu beiläufig! - das in der Tat für diesen Autor sehr charakteristische Stilmittel 'sokratischer Ironie'. Von da schlägt Winkler den Bogen zu der Wertschätzung, die Sokrates in Claudius' Werk immer wieder erfährt - seine Sokrates-Übersetzung solle "ein Opfer sein, das ich demütig den Manibus dieses Menschen bringe", schreibt Claudius in der Vorrede zum V. Werke-Teil - und verweist darauf, dass Freunde in Claudius' Lebensstil selbst viel Sokratisches zu erkennen meinten. Schließlich bringt Winkler Claudius' Übersetzung und Publikation der "Apologie des Sokrates" vom Jahr 1790 einleuchtend in Beziehung zur Französischen Revolution, die Claudius im Unterschied zu vielen von ihr begeisterten Zeitgenossen aufklärungskritisch und aufgrund seiner Überzeugung (und materiellen Abhängigkeit) von der Autorität der Obrigkeit vehement ablehnt. "Sokrates, alles andere als ein Untertan, wird ihm [Claudius] zum Schutzheiligen gegen die neuern Zeiten, weil er 399 vor Christus einem Regimewechsel zum Opfer fiel, wie ihn der 'Sokrates von Wandsbe[c]k' in seiner revolutionären Gegenwart nicht wenig fürchtet", führt Winkler aus. Zu kurz kommt bei ihm der religiöse Aspekt, unter dem Sokrates Claudius auch wichtig ist: als Symbolfigur dafür, dass auch 'Heiden' als fromme, d.h. gottesfürchtige Menschen an der ewigen Seligkeit teilhaben können, die den Christen verheißen ist - hierin schließt Claudius sich einer Auffassung der Aufklärung an und setzt sich beachtlich vom orthodox christlichen Absolutheitsanspruch seiner Zeit ab.

Das Büchlein ist mit einem optisch reizvollen Umschlagentwurf von Horst Hussel und einem angenehm lesbaren Druckbild außen und innen ansprechend gestaltet. Es präsentiert alles in allem einen immer noch lesenswerten und informativ erläuterten Text aus dem Œuvre von Matthias Claudius.

Titelbild

Matthias Claudius: Matthias Claudius übersetzt Platons Apologie des Sokrates in den Sämmtlichen Werken des Wandsbecker Boten.
Friedenauer Presse, Berlin 2005.
104 Seiten, 14,50 EUR.
ISBN-10: 3932109414

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