Goethe zwischen Pansophie und Weltweisheit

Ein Sammelband untersucht die Langlebigkeit analogisch-philosophischer Konzepte

Von Kristine HannakRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kristine Hannak

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die frühen Auseinandersetzungen Goethes mit naturmagischen und pansophischen Traditionen sowie deren Einflüssen auf das 'Weltbild des jungen Goethe' ernten seit der gleichnamigen grundlegenden Studie Rolf Christian Zimmermanns Ende der sechziger Jahre wissenschaftliches Interesse. Gerade die jüngere Goethe-Forschung hat das Erbe jener spekulativen Tradition in Goethes Lebenswerk herausgearbeitet, dessen Spuren wesentlich tiefer und vielschichtiger sind, als Goethes eigenes distanziertes Bekenntnis zu seiner "heimliche[n] Geliebten", der "Chymie", vermuten lässt, das er unter anderem in "Dichtung und Wahrheit" äußert. Der Tagungsband "Von der Pansophie zur Weltweisheit: Goethes analogisch-philosophische Konzepte" fokussiert in neun Beiträgen jenes Erbe der pansophischen Tradition, deren Denkmuster in z. T. adaptierter, variierter und ironisierter Form Goethes Werke bis ins hohe Alter durchziehen.

Die Adaptionen pansophischer Denkfiguren in Goethes Natur- und Menschenbild zeigen einmal mehr die inspirierende, transformierende und damit höchst lebendige Kraft dieser offiziell längst totgesagten Weisheitslehre. Weit davon entfernt, sich auf den Status einer okkulten Geheimlehre eingrenzen zu lassen, erscheint die 'Weltweisheit' als das ursprünglich weit verbreitete frühneuzeitliche Streben nach Erkenntnis der Schöpfung, also nach dem, "was die Welt // Im Innersten zusammenhält"; ein Streben, dessen Spuren sich im poetischen Werk vielseitig interessierter Zeitzeugen spiegeln.

Goethes öffentliche Zurückhaltung gegenüber der romantischen Naturphilosophie oder dem Modephänomen des Mesmerismus hat dabei lange über die ungebrochene Bedeutung der pansophischen Denkmuster für sein eigenes Werk hinweggetäuscht. Gerade frühe Studien folgten Goethes Selbstbild allzu bereitwillig, das einen Bruch zwischen dem stürmerisch-enthusiastischen, hermetisch 'tingierten' Jugendwerk und dem klassischen Alterswerk betont. Demgegenüber zeichnet der vorliegende Tagungsband an verschiedenen Beispielen die fortlaufende Attraktivität analogischen Denkens gerade auch im Spätwerk nach.

Als Auftakt betrachtet Jean Starobinskis kurze Abhandlung über das Begriffspaar 'Aktion-Reaktion' Goethes Vorbehalte gegen die Idee der rein mathematischen Vermessbarkeit der Natur und gegen den Wortgebrauch mechanistischen Denkens, wie es die Wissenschaftssprache des 18. Jahrhunderts entwickelt hatte. An Goethes Beharren auf einer Verbindung der Kräfte des Sonderns und Vereinigens, der Analyse und der Synthese verdeutlichet er das Erbe der neuplatonischen Tradition und zeigt, wie das Gesetz der Einheit des Verschiedenen, das die Erscheinungen der Welt lenkt, für Goethe auch die Tätigkeit des erkennenden Bewusstseins zu bestimmen hat.

In einem wissenschaftshistorischen Beitrag verfolgt Christa Habrich Goethes Engagement als Staatsmann in Weimar bei der ökonomisch und politisch pragmatischen Förderung der Chemie. Anschließend interpretiert sie die Homunculusepisode in "Faust II" als höchstes alchimistisches Kunststück vor dem Hintergrund einer chemiegeschichtlichen Wende, nämlich der ersten Herstellung eines organischen Stoffs aus anorganischem Material. Aufschlussreich ist die Darlegung, wie Goethe gerade neben seiner praktischen Förderung der zeitgenössischen Naturwissenschaft als Politiker im "Faust" jedoch der Natur das letzte Wort zuspricht und das herrische Bemühen des Menschen, diese zu unterwerfen, ad absurdum führt.

Zwei thematisch eng verwandte Aufsätze fragen anschließend nach den Grundlagen für Goethes Metamorphosenlehre und seiner Morphologie. Das Denkmodell von der Kette der Wesen, wie sie dem jungen Goethe in der "Aurea Catena Homeri" begegnete - vorgestellt von Irmtraut Sahmland - bildet nicht nur den erkenntnistheoretischen Ausgangspunkt, sondern erweist sich auch als Grundlage für sein Festhalten an seinem Sonderweg als Naturforscher. Margrit Wyder zeichnet in ihrem detail- und nuancenreichen Aufsatz zur Morphologie nach, wie es gerade die Grundannahme der Analogie als Ordnungsmuster der Natur war, die ihn den Zwischenkieferknochen beim Menschen entdecken ließ und wie schließlich die Beobachtung der Metamorphose bei Pflanzen nur den analogen Schluss zuließ, dass auch der Mensch ein Werdender sei. Auf exemplarische Weise zeigen ihre Beobachtungen die Universalität des Analogiedenkens, das das Prinzip der stufenweisen Steigerung sowohl in der Pflanze als auch in den Schlussszenen des "Faust" sowie in Goethes persönlicher Einstellung zu seiner eigenen Sterblichkeit festmacht.

Der in flottem Stil verfasste Beitrag Maximilian Bergengruens zum hermetischen Wissen Mephistos kontextualisiert die Teufelsfigur im frühneuzeitlichen paracelsistischen Schrifttum und versucht eine neue Lesart des "Faust". Ihr liegt als Voraussetzung zugrunde, dass das Böse im paracelsistischen Weltbild einen schwachen metaphysischen Status hat. Anregend und präzise verfolgt eine detaillierte Deutung der expositorischen Szenen des "Faust" die These, dass Faust den Weg zu höherer Erkenntnis konträr zur unio mystica gehe: Nicht in der Verschmelzung, sondern in der Differenz soll die eigenmächtige Eroberung der Erkenntnis liegen. Da die archetypische Differenzsituation, der Sündenfall, untrennbar mit der Möglichkeit zu gegenstandsbezogener Erkenntnis verknüpft sei, so ziele Fausts Streben auf eine Dauersimulation des Sündenfalls, um in ihr immer erneut in die Ursprungssituation des Wissens zu gelangen. Leider endet die genaue Analyse hier, denn gerade nach dieser Exposition und den anregenden Überlegungen zu Parodie und Illusion hätte man sich weitere Details gewünscht. So wird die zentrale These, das Drama kreise um die 'technische Reproduzierbarkeit des Sündenfalls' gerade nicht an Goethes Text rückgebunden, und Fausts Scheitern erscheint damit ein wenig hastig als schlichtes Versagen des "virtuellen Sündenfalls". Der Ausgang des Dramas in "Faust II" reduziert sich somit ebenfalls sehr spielerisch-salopp auf den letzten Stich eines göttlichen Spielers, da "der 'Herr' [...] sein metaphysisches Tafelsilber irgendwie doch nicht zur Disposition stellen" mochte.

Zwei folgende Aufsätze widmen sich dem Phänomen des Ganzen beziehungsweise des Ganzheitsdenkens im "Faust" und in "Wilhelm Meisters Wanderjahre". Karl Pestalozzi perspektiviert Goethes Bestimmung des Kunstwerks als in sich geschlossenes Ganzes im Hinblick auf Karl Philipp Moritz' Verknüpfung des Schönen mit der Idee des Ganzen. Somit, so die Beobachtung, spiegele sich im Kunstwerk die anders nicht wahrnehmbare Totalität des Kosmos. In einem letzten Schritt wird schließlich diese Lesart schlüssig auf den Prolog im Himmel übertragen. Während der erste Aufsatz inhaltlich argumentiert, fokussiert Armin Westerhoff auf die Bedeutung des analogischen Denkens für Goethes Romanpoetik und hier für die poetische Verfahrensweise der doppelten Spiegelungen. Zugrunde liegt wiederum die Annahme, dass sich das Eigentliche der Erfahrung entzieht, dass es aber möglich sei, mittels einer Poetik der Bezüge und des analogischen Verweises Sinn zu erschließen.

Auf die poetische Transformation analoger Denkmuster zielt schließlich auch Katharine Weder in einem sehr anregenden Aufsatz zum Magnetismus im Natur- und Menschenbild. Magnetismus und Elektrizität treten das Erbe der Magia Naturalis und der Sympathienlehre des animistisch gedachten Kosmos an, da sie als unsichtbare Kräfte den sympathetischen Zusammenhalt der Welt symbolisieren. Sehr überzeugend zeigt der Aufsatz Goethes differenzierte Position, seine Bejahung der Erfahrbarkeit unsichtbarer Kräfte einerseits und seine skeptische Zurückhaltung andererseits gegenüber ihrer wissenschaftlichen Erklärbarkeit oder ihrer Nutzung und Verdinglichung in Heilmethoden, wie es der Mesmerismus propagiert. Drei beispielhafte Interpretationen vom "Werther" bis zu den "Wanderjahren" belegen äußerst stichhaltig die These von der poetischen Transformation der Sympathienlehre, eine poetische Adaption, die diese Lehre gerade nicht idyllisiert, sondern sie als macht- und spannungsvolles Erbe ausweist.

Passend zum Schluss befasst sich Johannes Anderegg in einem Aufsatz mit Goethes Wahrnehmung von zyklischer Zeit und seinen Überlegungen zur Vergänglichkeit im Alter. In Auseinandersetzung mit der Vergänglichkeitsklage des "Kohelet" und seinen eigenen Pflanzenstudien zum Weinbau findet der alte Goethe noch einmal Trost in einer pansophischen Denkfigur, die das Grundprinzip des Lebens symbolisiert: Nur die Zyklik und mit ihr das individuelle Hinscheiden verbürgt die zeitlebens gefeierte Lebendigkeit.

Auf diese Weise vereinigt der Band eine überwiegend anregende Auswahl an Perspektiven, die die These von der Langlebigkeit analogisch-philosophischer Konzepte in Goethes Werk bestätigen und detailreich belegen. Er untermauert damit zugleich die Zweifel an einem tieferen Bruch zwischen dem jugendlichen und dem 'erwachsenen' Werk Goethes. Im Hinblick auf Pansophie schließlich scheint der Band die alte (Welt-)Weisheit zu bestätigen, dass Totgesagten mitunter noch lange Leben beschert werden.

Titelbild

Hans J. Schrader / Katherine Weder / Johannes Anderegg (Hg.): Von der Pansophie zur Weltweisheit. Goethes analogisch-philosophische Konzepte.
Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2004.
188 Seiten, 32,00 EUR.
ISBN-10: 3484108630

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