Erforschen der eigenen Existenz
Milan Kunderas Band "Der Vorhang"
Von Peter Mohr
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWenn Schriftsteller einen Einblick in ihr Innerstes gewähren, wenn sie schreibend ihre Seele nach außen krempeln und sich und ihr Werk in Beziehung zu den Größen der Weltliteratur setzen, dann ist das Resultat nicht selten ein narzisstisches verbales Trommeln in eigener Sache. Nicht so bei Milan Kundera. Der gebürtige Tscheche, der seit einem Vierteljahrhundert in Frankreich lebt und 1984 mit seinem Roman "Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins" einen Welterfolg feierte, versteht es, in unzähligen essayistischen Anekdoten eine (relativ) leicht verständliche und pointiert formulierte Genese des europäischen Romans vorzulegen. Als Ahnherren zitiert er Cervantes und Rabelais herbei, macht uns mit den französischen Romanciers des 19. Jahrhunderts ebenso vertraut wie mit Dostojewski und Tolstoj und erhebt Kafka, Musil, Broch und Gombrowicz zum "Giganten-Quartett" des 20. Jahrhunderts.
Man möchte mit Kundera über viele seiner Befunde streiten, etwa darüber, dass Dostojewski der letzte "Balzacianer" gewesen sein soll oder dass der "Ulysses" ohne "Anna Karenina" nicht denkbar gewesen wäre. Und doch nimmt dieses Buch gefangen. Es ist nicht die analytische Brillanz oder die Stringenz der Gedanken, sondern die Begeisterung für die Literatur, die von Kundera auf den Leser überschwappt. Anders als in seinen Romanen lässt der 76-jährige Autor hier seinem erzählerischen Elan freien Lauf. Je tiefer man in diesen Band eindringt, umso stärker verwischen die Grenzen zwischen Essay und Autobiografie. Wenn Kundera über die Literaturgeschichte philosophiert, schreibt er auch immer über sich selbst. Die Entstehungsgeschichte, der historische Kontext, sei für ein Werk eminent wichtig. Dahinter verbirgt sich latent die Frage, inwieweit seine eigene, durch den Prager Frühling geprägte Vita sein literarisches Werk beeinflusst hat. Was wäre aus ihm geworden, wenn er nicht nach Paris emigriert wäre und weiter Tschechisch geschrieben hätte? Den gebürtigen Prager Kafka, so Kunderas Behauptung, hätte nämlich niemand zur Kenntnis genommen, wenn er nicht seine Werke in Deutsch verfasst hätte.
Die Skepsis wird noch deutlicher, wenn sich Kundera über die politisch-kulturelle Entwicklung in Europa auslässt. Die großen Romanciers hätten über Jahrhunderte miteinander geistig korrespondiert, über Sprachbarrieren hinweg Traditionen fortgeschrieben und neue Entwicklungen, die er als "Reise in unbekannte Länder" bezeichnete, geprägt, aber an den Universitäten würde nur noch im "nationalen Kontext" studiert. Darin liege das "irreparable intellektuelle Scheitern" begründet. Hier macht es der "Geistesmensch" Kundera etwas zu kompliziert. An anderer Stelle konstatiert er nämlich völlig zutreffend, dass in Prag die "ideologische Dummheit" Anfang der 90er Jahre von der "kommerziellen Dummheit" abgelöst wurde. Die im Laufe des 20. Jahrhunderts völlig disparaten politischen Verhältnisse in den europäischen Staaten dürften die ausschlaggebende Barriere für die von Kundera angestrebte kulturelle Union sein.
"Der Romancier ist weder Historiker noch Prophet, sondern Erforscher der Existenz", schrieb der in Brünn geborene Autor 1986 in seinem Essayband "Die Kunst des Romans". Auf äußerst kurzweilige Art und Weise hat uns Kundera an seiner Reise ins Innere, an der Erforschung der eigenen Existenz teilhaben lassen. Uns begegnet ein bekennender Kosmopolit, enthusiastischer Literaturliebhaber und skeptischer Grübler, der uns spielerisch von Böhmen nach La Mancha und von Paris nach Wien und Prag versetzt. Ein grandios geschriebener, wenn auch streitbarer Reiseführer durch die europäische Literatur.
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