Christen und wir
Gedanken zu Ratzinger, Habermas, Wieland, Lessing und zur Achtung vor Religiosität
Von Jan Philipp Reemtsma
Besprochene Bücher / Literaturhinweise1. "Im Operativen sind wir uns einig"
Das ist einer der katholischsten Sätze, die je gesprochen wurden. Leute wie ich, d. h. solche, die ihre Theologie zuerst aus calvinistischer Quelle bezogen haben, atmen dabei hörbar durch: welche Weltläufigkeit, welche Durchtriebenheit, welche Souveränität, was für ein Ick-bün-alldor-Selbstbewusstsein! Und: Was steckt dahinter?, fragt man besorgt, denn als Calvinist ist man natürlich misstrauisch, und dieses Misstrauen nimmt man aus dem theologischen Kontext in den säkularen mit. D. h. Leute wie ich, a-religiöse Ex-Calvinisten also, sind misstrauisch einer-, voll Bewunderung andererseits: für eine Religion, die 2000 Jahre Wissen um den Menschen und um die Ausübung von Macht in die Denkroutine übernommen hat, wie Skipper das Wissen um See und Segel aus noch viel mehr tausend Jahren in die Routinen des Arrangierens von Tauwerk auf dem Bootsdeck.Weltaufgeladene Theologie - da, hätte Tony Buddenbrook gesagt, weiß man doch, was man verschluckt.
"Im Operativen sind wir uns einig" - es war der katholische Kardinal Joseph Ratzinger, der den Satz zu Jürgen Habermas sagte, und zwar in einer Art Konklave, d. h. nur eine handverlesene Schar Journalisten war anwesend, und es fand statt, weil sich Habermas in der Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels zum Thema Religion geäußert und gleichzeitig mit einem Weber-Zitat bekannt hatte, er sei religiös unmusikalisch. Das war der Anlass, es kam zu einer Begegnung, und da beide, der Kardinal, schon durchs Epitheton "katholisch" verpflichtet, und der Philosoph, selbstverpflichtet durch seine Schriften, als bekennende Universalisten bekannt waren, nahm es eigentlich nicht wunder, dass sie sich im Operativen einig waren. Wie denn auch anders. Der katholische Universalismus des "Schlagt sie tot, der Herr wird die Seinen schon erkennen", ist zurzeit nicht mehr auf der politischen und wohl auch nicht theologischen Agenda.
2. Zum Beispiel Matthäus-Passion
In seinem letzten großen Roman "Aristipp und einige seiner Zeitgenossen" lässt Christoph Martin Wieland seinen Titelhelden Olympia besuchen und den Zeustempel mit der Statue des Phidias besichtigen. Er schreibt an seinen Freund Kleonidas im nordafrikanischen Kyrene: "Wie sehenswürdig auch die weltberühmten Olympischen Spiele sind, so zweifle ich doch nicht, daß die Einbildungskraft eines Dichters mit bloßer Hülfe des Hippodroms und der Gymnasien und Fechtschulen in Cyrene sich eine noch größere und den alten Heldenzeiten angemeßnere Vorstellung von ihnen machen könnte, als diejenige ist, die wir andern gewöhnlichen Menschen mittelst unsrer Leibesaugen erhalten haben. Aber den Jupiter des Fidias muß man sehen, Freund Kleonidas, wenn man sich einen Begriff von ihm machen will. Also komm und sieh, und bete an!" Beides: "sieh" und "bete an" - nimm den Anlass und überlass dich der Wirkung. Diese wird analysiert und beschrieben: "Nach diesem Eingang erwartest du, natürlicher Weise, keine Beschreibung von mir, die am Ende doch nur auf ein Verzeichnis der unzähligen einzelnen Stücke und Teile hinaus laufen würde, aus welchen dieses über allen Ausdruck große und reiche Kunstwerk, dem kein anderes in der Welt vergleichbar ist, mit hohem Sinne zusammengesetzt, wie eine himmlische Erscheinung vor unsern Augen da steht. Jeder dieser Teile ist, für sich selbst betrachtet, schön, groß gedacht, mit reiner sicherer Bestimmtheit der Verhältnisse und Formen ausgeführt, und so zierlich vollendet, daß dem Liebhaber der Kunst nichts zu wünschen, dem Kenner wenig oder nichts zu erinnern übrig bleibt. Aber alle diese besondern Schönheiten verlieren sich, oder vereinigen sich vielmehr in dem Haupteindruck, den das herrliche Ganze - Jupiter auf seinem Thron, von seinem ganzen Göttergeschlecht umgeben - auf die Seele des Anschauers macht, indem er sich beim ersten Anblick von einem wunderbaren Schauder ergriffen fühlt, den der große und glaubige Haufen für ein unmittelbares Zeichen der Gegenwart Gottes hält."
Das widerfährt dem Nicht-Gläubigen nicht, doch muss der darum nicht unempfindlich sein gegen ästhetische Sensationen: "Dir, mein Freund, brauche ich nicht zu sagen, daß weder dumpfes Anstaunen noch Überfluß an Glauben unter die Gebrechen meiner Natur gehören. Ich betrat den Tempel mit der kaltblütigsten Gewißheit, einen Gott von Elfenbein und Gold von der Hand eines großen Bildners zu sehen, und konnte mich doch des besagten Schauders so wenig erwehren, als ein anderer." Doch verbindet er das nil humani alienum mit dem nil admirari: "Du wirst mir indessen gerne zutrauen, daß ich bei dieser schnell vorüber gehenden Verzückung noch Besonnenheit genug behielt, dem Grunde des Zaubers nachzuforschen, wodurch dieses göttliche Machwerk eines sterblichen Meisters auf alle die es erblickten, ohne Ausnahme, eben dieselbe Wirkung tut."
Es folgt eine eingehende Analyse, die wir hier übergehen können, da sie sich auf die besondere Wirkung eines besonderen Kunstwerks bezieht. Das Allgemeine ist genügend bestimmt, es geht um diejenige Spielart des Schönen, die man das Erhabene nennt. Dass sie in diesem Fall mit der physischen Größe des Kunstwerks zusammenhängt, ist, wie gesagt, dem Beispiel geschuldet, dass die Wirkung Größe sein muss, gehört zur Wirkungsabsicht, und wäre die Ursache eine Miniatur. Das Erhabene in der Natur muss bekanntlich nicht im Gebirge gefunden werden, obwohl es dort gerne gesucht - oder, zuweilen, und der Einzelfall heißt dann Winckelmann oder Hegel, vermieden - wird.
Die Schilderung bringt eine gewisse Skepsis gegen das Erhabene zum Ausdruck - gegen das in der Natur (das, in der ästhetischen Theorie, die Augen öffnen sollte für das Erhabene in der Kunst) programmatisch der Romananfang: "Alle Götter der beiden Elemente, denen du bei unserm Abschied mein Leben so dringend empfahlst, schienen es mit einander abgeredet zu haben, die Überfahrt deines Freundes nach Kreta zu begünstigen. Wir hatten, was in diesen Meeresgegenden selten ist, das schönste Wetter, den heitersten Himmel, die freundlichsten Winde; und da ich dem alten Vater Oceanus den schuldigen Tribut schon bei einer frühern Seereise bezahlt hatte, genoß ich der herrlichsten aller Anschauungen so rein und ungestört, dass mir die Stunden des ersten Tages und der ersten Hälfte einer lieblichen mondhellen Nacht zu einzelnen Augenblicken wurden. Gleichwohl - darf ich dirs gestehen Kleonidas? - deuchte michs schon am Abend des zweiten Tages, als ob mir das majestätische, unendliche Einerlei unvermerkt - lange Weile zu machen anfange. Himmel und Meer, in Einen unermeßlichen Blick vereinigt, ist vielleicht das größte und erhabenste Bild, das unsre Seele fassen kann; aber nichts als Himmel und Meer und Meer und Himmel, ist, wenigstens in die Länge, keine Sache für deinen Freund Aristipp."
Was in der Natur die unterbrechungslose Erhabenheit des Immergleichen und immer gleich Großen ist, ist in der Kunst ein spezieller wunderbarer Schauder, der nicht anhält, wenn nicht etwas Außerkünstlerisches dazu kommt, eine religiöse Disposition etwa. Künstlerisch ist das Erhabene ebenso erklärlich wie herbeiführbar. Man kann die Technik verstehen, die es auslöst. Diese Erkenntnis unterbricht den spezifischen Genuss des Erhabenen ebenso wie die bloße Dauer der Wirkung beim konstitutionell nicht Disponierten. Das setzt das Erhabene in einen nicht unbedeutenden Kontrast mit dem Schönen. Das Erhabene verschwindet in der Natur mit der Gewöhnung des Blicks und in der Kunst mit dem Blick hinter die Kulissen wie der Zaubertrick; zurück bleibt dort die Vertrautheit mit unserer psychischen Apparatur, die naiv darüber zu erschrecken versteht, dass Berge, Meer und Wüste so gar nicht für unser Wohlbefinden da sind, der latent masochistische Genuss unserer Marginalität im Kosmos (oder, was für die Nerven dasselbe ist, vor der Majestät Gottes), hier die Bewunderung der Technik. Das Schöne aber verschwindet nicht mit der Zeit und nicht in der Analyse seiner Wirkung. Im Gegenteil: In beidem stellt es sich immer erneut her. Erkenntnis und Genuss sind hier Synergien.
"Mir bleibt", schreibt Joseph Cardinal Ratzinger, "unvergessen das Bach-Konzert, das nach dem frühen Tod von Karl Richter Leonhard Bernstein in München dirigiert hat. Ich saß neben dem evangelischen Landesbischof Hanselmann. Als der letzte Ton verklungen war, schauten wir uns spontan an und sagten ebenso spontan zueinander: Wer das gehört hat, weiß, daß der Glaube wahr ist. In dieser Musik war eine so unerhörte Kraft anwesender Wirklichkeit vernehmbar geworden, daß man nicht mehr durch Schlußfolgerung, sondern durch Erschütterung wußte, daß dies nicht nur aus dem Leeren stammen konnte, sondern nur geboren werden konnte durch die Kraft von Wahrheit, die in der Inspiration des Komponisten sich gegenwärtig setzt." Und doch empfinden auch die religiös Unmusikalischen, aber musikalisch Musikalischen etwas. Aber etwas anderes.
Ratzinger möchte auf das Moment der Erschütterung hinweisen, das dem Erleben großer Kunst eigen sein kann, und ihm ist es Zeichen (im Grunde mehr als Zeichen, nämlich Beweis) für etwas das Menschenmögliche Übersteigende. Leute wie ich würden sich die Erschütterbarkeit nicht absprechen oder absprechen lassen. Einer wie ich, sitzend zur andern Seite des Kardinals, hätte im Bunde der Theologen insofern den Dritten abgeben können, als ein Vierter die Blicke hätte kaum unterscheiden können, und doch wäre unsere je eigene Beschreibung dessen, was wir gehört, und wie wir unsere Blicke wieder adjustiert hätten, ganz unterschiedlich ausgefallen. Tatsächlich hätte ich, in den Augen Ratzingers, die Transzendenz verpasst. In meinen Augen hat er das Humanum nicht verstanden. Da für ihn die Potenz des ex nihilo schon vergeben ist, kann er es, wo er es vor Ohren hat, nicht mehr hören. Für ihn verkörpert sich die Schönheit in ihrer höchsten Qualität im Erhabenen, das von Mehr-als-Menschlichem zeugt, für mich ist das Erhabene ein Gefühl, das, wo es nicht durch bloße technische Fertigkeit auf meinen Nerven spielt, ein Gefühl, das das Erlebnis des Schönen begleitet: weil das Schöne menschenmöglich ist. Für Ratzinger ist das vermutlich ein Gattungs-Narzissmus, der jene Demut vermissen lässt, die die Schönheit allein als gottgegebene Fähigkeit vom Göttlichen zu zeugen erkennt; für mich reduziert Ratzinger das Schöne auf den Atavismus der Überwältigung.
Wir empfehlen beide, in Bach-Konzerte zu gehen. Sind wir, also, im Operativen einig, obwohl wir einander wechselseitig der Blasphemie zeihen: er mich der am Göttlichen, ich ihn der am Schönen?
3. "The Passion of Christ"
Das Schöne, so Ratzinger, das er mit einem verwundenden Pfeil vergleicht, das also seine Würde durch Schmerz zu verbürgen hat, sei aber nicht hinreichend - "Apoll reicht nicht aus". Gemäß seiner Auffassung, das katholische Bekenntnis vereine griechische Aufklärung mit hebräischer Frömmigkeit zur Verkündigung einer ganzheitlichen Wahrheit, fehlt noch etwas. Wir stimmen zu und nennen es Moral.
Ratzinger gewinnt seine Gedankenführung aus der Auslegung zweier den Psalm 45 einführender Antiphone: "Du bist der Schönste von allen Menschen, Anmut ist ausgegossen über deine Lippen" und "Nicht Schönheit war an ihm noch edle Gestalt. Sein Gesicht war entstellt." Zur Schönheit muss die Entstellung treten, die Christus-Gesichter der Ikonenmalerei reichen nicht aus, es muss "das Grabtuch von Turin" - nota bene nicht Grünewald, sondern der Fetisch - hinzukommen: "Gerad in dem so entstellten Gesicht kommt die wahre, die letzte Schönheit zur Erscheinung: die Schönheit der Liebe, die ›bis zum letzten‹ geht und sich eben darin stärker erweist als die Lüge und die Gewalt. Wer diese Schönheit wahrgenommen hat, weiß, dass eben doch die Wahrheit und nicht die Lüge die letzte Instanz der Welt ist."
Wir, die wir nicht von der gläubigen Sorte sind, zweifeln nicht nur an der Beweisführung, sondern auch an den Substantiven. Gleichwohl sind wir uns im Operativen insofern einig, als auch wir sagen würden, dass Apoll nicht ausreiche. Nur haben wir, was das Ethische anlangt, die Bilderfixierung hinter uns gelassen. Sie gehört in den Bereich des Ästhetischen, das mit dem Ethischen in moralischen Fragen gut zusammengehen kann (etwa in der Idee des Vorbilds), und dort keinerlei Regressives hat. Wir sind nur der Meinung, dass in der Idee der Universalität, die modernen ethischen Konzepten eigen ist, das Bild keine Rolle zu spielen hat, weil es zu sehr an historisch kontingente Vorlieben gebunden ist. Die Ursprungsfrage ist damit nicht tangiert, wohl aber die Zielrichtung. Ob es ein gekreuzigter Gott ist oder eine Familienidylle - mit irgendwelchen Bildern verbinden sich die Moralvorstellungen genetisch zugrunde liegenden Affekte meist. Aber so, wie man lernen kann, die unmittelbaren Affektlagen im Raisonnement zu transzendieren, so kann man lernen, auch andere und immer wieder neue Bilder ansprechend, gar schön zu finden.
Ich lasse hierbei zwar mein Misstrauen gegenüber den besonderen Religionen, bei denen Bilder und Inszenierungen von Leid und Qual eine zu zentrale Rolle spielen wie beim schiitischen Islam und dem Christentum, nicht unerwähnt, aber beiseite, denn es geht um einen allgemein evolutionären Zug des Geistes: die Metaphorisierung des Religiösen. Wo Religionen in ihren jungen und ungestümen Jahren noch physisch kämpfen, da ringen ihre Anhänger später nur noch im Gebet. Wo die Hölle einst noch bildlich und wörtlich mit dem ganzen Dante'schen Arsenal imaginiert wurde, ist mit "Hölle" irgendwann nur noch ein Seelenzustand "getrennt von Gott" gemeint. Am Ende solcher Metaphorisierung steht - nur wenig noch. Weltliterarisches Dokument ist dies in Lessings Dialog "Testament Johannis" geworden, wo nach einer alten Legende die letzten Tage des Jüngers Jesu vorgestellt werden - die eines am Körper hinfälligen Greises, der gleichwohl seine Gemeinde nicht im Stich lässt: "Er", sagt die in diesem Dialog mit "Ich" bezeichnete Stimme, "ließ keine Collecte gern zuende gehen ohne seine Anrede an die Gemeinde, welche ihr tägliches Brot lieber entbehrt hätte, als diese Anrede. / Er: Die öfters nicht sehr studiert mag gewesen sein. / Ich: Lieben Sie das Studierte? / Er: Nachdem es ist. / Ich: Ganz gewiß war Johannis Anrede das nie. Denn sie kam immer ganz aus dem Herzen. Denn sie war immer einfältig und kurz; und wurde immer von Tag zu Tag einfältiger und kürzer, bis er sie endlich ganz auf die Worte einzog - - / Er: Auf welche? / Ich: Kinderchen, liebt euch! / Er: Wenig und gut. / Ich: Meinen Sie wirklich? - Aber man wird des Guten, und auch des Besten, wenn es alltäglich zu sein beginnt, so bald satt! - In der ersten Collecte, in welcher Johannes nicht mehr sagen konnte, als Kinderchen, liebt euch! gefiel dieses, Kinderchen liebt euch! ungemein. Es gefiel auch in der zweiten, in der dritten, in der vierten Collecte: denn es hieß, der alte schwache Mann kann nicht mehr sagen. Nur als der alte Mann auch dann und wann wieder gute heitere Tage bekam, und doch nichts mehr sagte, und doch nur die tägliche Collecte mit weiter nichts, als einem Kinderchen liebt euch! beschloß, als man sahe, daß der alte Mann nicht bloß, nur so wenig sagen konnte; als man sahe, daß er vorsätzlich nicht mehr sagen wollte; ward das Kinderchen liebt euch! so matt, so kahl, so nichtsbedeutend! Brüder und Jünger konnten es kaum ohne Ekel mehr anhören; und erdreisteten sich endlich den guten alten Mann zu fragen: Aber, Meister, warum sagst du denn immer das nehmliche? / Er: Und Johannes? / Ich Johannes antwortete: Darum, weil es der Herr befohlen. Weil das allein, das allein, wenn es geschieht, genug, hinlänglich genug ist. - / Er: Also das? Das ist Ihr Testament Johannis? / Ich: Ja! / Er: Gut, daß Sie es apokryphisch genennet haben! / Ich: Im Gegensatz des kanonischen Evangelii Johannis. - Aber göttlich ist es mir doch."
Für Lessing ist die Entwicklung des Christentums, anderswo als "christliche Religion" unterschieden von der "Religion Christi", die dann auch konsequenterweise als "diejenige Religion, die er als Mensch selbst erkannte und übte; die jeder Mensch mit ihm gemein haben kann" bezeichnet wird, ein Abweg von diesem sigillum-veri-Einfachen in die Vieldeutigkeit: Die Religion Christi und die christliche Religion ließen sich nicht "in ein und demselben Buche" finden. Jene sei "in den klarsten und eindeutigsten Worten" geschrieben, diese "hingegen so ungewiß und vieldeutig, daß es schwerlich eine einzige Stelle giebt, mit welcher zwei Menschen, so lange als die Welt steht, den nehmlichen Gedanken verbunden haben." Der Philologe und Moralist spricht, nicht der Theologe, das hatte Goeze ganz richtig gesehen, und hatte nur das Pech, dass eben auch der viel bessere Schriftsteller sprach. Für Lessing ist die Theologie ein erwiesenermaßen unpassender hermeneutischer Schlüssel zum Verständnis der Bibel.
Dass Reimarus über Goeze triumphieren konnte, war eine protestantische Angelegenheit, keine katholische. Aber sie ist über diese innerchristliche Differenzierung hinaus bedeutsam. Dass die fundamentalistische Regression, die der Protestantismus jeder Couleur darstellt, der Säkularisierung so ungeheuren Schub versetzen konnte, liegt eben nur zum Teil an den politischen Umständen seiner Verbreitung. Es liegt an der Wortneigung und Bilderdistanz des Protestantismus. Die muss sich nicht zum Ikonoklasmus steigern oder sich diesbezügliche Abstinenz verordnen, wie es der sture Calvinimus tut, aber gerade in ihren gemäßigten Formen erlaubt sie eine stärkere und schnellere Adaption an eine sich säkularisierende Gesellschaft, weil sie es nötig macht, ihre Inhalte immer wieder neu und damit à la longue einigermaßen geschmeidig, man kann sagen: beliebig zu formulieren. Das "Testament Johannis" ist nicht eine uralte Kernwahrheit, von der sich eine komplizierte Theologie und zur Idolatrie verkommene Religion abgewandt hat, sondern der schale Rest, der bleibt, wenn man alle Theologie von der Religion abzieht, und nur noch gelten lässt, wozu alle Ja sagen können, ohne Amen sagen zu müssen. Ratzinger hat eine solche Theologie der Selbstaufgabe im Vorwort zu seiner "Einführung in das Christentum" mit der Situation des Hans im Glück, nachdem er alles, was ihn beschwerte, weggetan hatte, verglichen: "Wie lang seine Trunkenheit währte, wie finster der Augenblick seines Erwachens aus der Geschichte seiner vermeinten Befreiung war, das auszudenken überlässt jene Geschichte, wie man weiß, der Phantasie ihrer Leser."
Das ist der Grund, warum ein Film wie Mel Gibsons "The Passion of Christ" feuilletonauf und -ab besprochen werden konnte, als habe es sich um ein künstlerisches Ereignis von Belang gehandelt. Es hat sich um ein Ereignis gehandelt, das es erlaubte, den verblassten Bildervorrat, aus dem sich das Gemüt bedient, wenn andere im Sonntagsradio Choräle singen, wieder zu restaurieren und neu einzufärben. Die Zeiten, in denen einige dieser Lieder einer aufgeklärten Ästhetik verdächtig waren, sind seit dem Tode von Tante Amelie, deren Sarg "in der großen Halle" aufgestellt werden sollte, "wo der Faun steht", vorbei. Sie hatte noch verfügt: "Es soll auf dem Wege vom Schlosse bis in den Park, unter Vorantritt Nipplers, von allen Dorfkindern das Lied: 'Was Gott tut, das ist wohlgetan' gesungen werden. Aber nicht: 'O Haupt voll Blut und Wunden'. Dies verbiete ich ausdrücklich."
Man möchte die Bilder wieder haben; man ist einer Sinngebung durch das Wort, die in der Verfügung des Sprechenden liegt, überdrüssig. Wahrheit ist etwas, das sich in der Kommunikation herstellt und keine Instanz jenseits der Welt. Das erscheint denen anders, die sie im Bild zu erblicken meinen - von dort blickt sie zurück. Die Theologie, die um das Anbeten von Bildern eine Ratio spinnt, entwirft die Bilder als Instanzen, vor denen sich die Sprechenden zu rechtfertigen haben: "Sinn, der selbst gemacht ist, ist im letzten kein Sinn." Für die nicht-Gläubigen sind Bilder Objekte, über deren Bedeutung für uns wir uns untereinander verständigen müssen, und Sinn ist nur das, was man selbst seinem und anderem Tun verleiht.
Wäre ich einer, der Bilder alter Schriften auslegte, ich führte Moses, der die Schrifttafeln angesichts des idolatrischen Haufens zerbricht, an und wiese darauf hin, dass er, als er die Gesetze brachte, dem Berg mit all dem gewittrigen Gotteszubehör den Rücken kehrte.
4. Respekt
Ratzinger hat mit großer Verve gegen eine Theologie, die ihren Glaubensbestand metaphorisiert, geschrieben. Sie breche ihre Versprechen, sie gebe Menschen keinen Halt. Er hat Recht, er schreibt überzeugend. Ich lese Ratzinger lieber als Küng. Aber das ist privat. Der diesbezügliche Respekt gilt dem hinsichtlich der intellektuellen Architektur meiner Bibliothek interessanteren Text, nicht der Religion. Die ist so oder so zu respektieren. Religionsfreiheit bedeutet nicht Freiheit von Religion, wie wünschenswert diese einem, der nicht aus dem "großen und glaubigen Haufen" stammt, auch erscheinen mag, sondern ist individuelle Freiheit von Religion ebenso wie Freiheit zur Religion, kurz: Glaube jeder, was er will. Solche Freiheit schließt Respekt noch nicht ein. Dennoch halte ich einen diesbezüglichen Respekt für eine Tugend, und da, wie es scheint, sind wir, der Kardinal und ich, im Operativen einig: Er nennt die "Achtung vor dem, was dem anderen heilig ist" einen "für alle Kulturen wesentlichen Aspekt".
Ist, dass der Text so weiter geht, bloße gedankenlose Routine und Unhöflichkeit? -: "[...] insbesondere die Achtung vor dem, was im höheren Sinne heilig ist, die Achtung bzw. Ehrfurcht vor Gott, etwas, das man auch bei Menschen findet, die nicht an Gott glauben. In einer Gesellschaft, in der diese Achtung verletzt wird, geht etwas Wesentliches verloren." Wohl keine Gedankenlosigkeit. Und es ist jenseits des Operativen, es stiftet den Sinn dessen, was sonst eben bloß das Operative wäre. Dass der Theologe meine Bereitschaft, seine Religiosität zu achten, als Hinweis auf meine Disposition zum Glauben versteht, versteht sich. Auf dieses Verständnis aber gründet er, der Theologe, seine Achtung, die er dem entgegenbringt, was mir von existenzieller Bedeutsamkeit erscheint. Dort, wo ihm dieses nicht von Glauben in unentwickeltem Stand zeugt, sondern nur von (aus seiner Sicht) beliebigen Ideosynkrasien, ist allenfalls Achtung minderen Grades angebracht. Nun steckt darin ein Differenzierungsbemühen, dem man sich kaum verschließen kann: Nicht jeder Unfug, nur weil einer ihn für wichtig hält, kann Achtung verlangen, wenn man unter Achtung mehr versteht, als ihn einfach machen zu lassen, wenn er keinen Schaden damit anrichtet.
Wir reden nicht über bürgerliche Freiheiten, sondern über Dimension von Zivilität, die hinzukommen sollte: Respekt. Weder seine noch meine Bereitschaft zum Respekt ist unbedingt. Da sind wir uns einig. Ich achte Frömmigkeit, Religiosität, Theologie nicht bloß darum, weil sie vorhanden sind. Ich respektiere keine geistigen Gehalte, die für mich bedeutungslos sind oder die ich für Unfug halte - interessanten Unfug vielleicht, aber eben Unfug. Ich respektiere auch nicht, wenn sich jemand ohne Not das Leben schwer macht. Und doch spielen diese Faktoren eine Rolle beim Respekt: ein fremdes Denken (dem eigenen bringt man ja keinen Respekt entgegen), das man nicht abtun will, bloß weil es fremd ist, und ein Denken, das Auswirkungen auf die Lebensführung hat, erschwerende. Respekt vor einem gewissen Ernst. Meinerseits ist dieser Respekt von der Ansicht geleitet, dass wir, um noch einmal Wieland zu zitieren, nicht alle durch dasselbe Schlüsselloch in die Welt sehen können, und das Leben zu schwer ist, als dass man es einfach leicht nehmen könnte. Getragen ist er von der Überzeugung, dass wir auf der Basis solchen wechselseitigen Respekts besser miteinander leben können als ohne ihn. Und damit kommt ein Moment der Reziprozität ins Spiel und wird entscheidend.
Tatsächlich kann ich vor Fanatikern keinen Respekt haben. Ich kann sie nicht achten wie eine Art ritterlichen Feindes - man schlägt einander vielleicht tot, respektiert einander aber. Das mag in den Haushalt kriegerischer Tugenden gehören, in den ziviler gehört es nicht. Respekt erhält man für Respekt. Und damit wird klar, dass ich den Religiösen nicht für das respektiere, worauf es ihm ankommt. Ich empfinde keine Achtung vor dem, was ihm im höheren Sinne heilig ist, sondern vor ihm, zu dessen Lebensentwurf gehört, Empfindungen des Heiligen zu forcieren. Wenn er das im Rahmen bürgerlicher Dezenz tut.
Ich höre von einem, der den Sabbat heiligt, und das macht seinen Weg vom Hotel zum Tagungsort kompliziert. Das ist zu respektieren. Er bedient sich auch nicht zureichend der Unterstützung derjenigen, die den Sabbat nicht heiligen, weil er nicht möchte, dass sie Gebote brechen, obwohl die für sie gar nicht existieren. Mir begegnet einer, der das anerkennenswert findet. Ich finde das albern, aber, wie heißt es doch?: Wenn du die Neurose triffst, sag ihr, ich lass sie grüßen. Wir tanzen alle mit wunderlichen Gebärden den Todesweg hinab. Und nun kommt dieser fromme Mensch zu spät, und da ein Vortrag von ihm auf dem Programm steht, warten alle lange und geben dann auf. Dann kommt er irgendwann; er hat sich auf dem Stadtplan vertan und der Fußweg war länger als geschätzt. Das geht nicht. Der Mann ist ein Flegel, über anderes reden wir später.
Die Einhaltung der Regeln des Zusammenlebens vorausgesetzt, respektiere ich den Sinn, den jeder seinem Tun gibt, er mag diesen Sinn verstehen, wie er selber möchte, im Zweifelsfalle ganz anders als ich, vor allem, wenn er in bestimmter Weise religiös ist, nicht als Sinn, den er selbst seinem Leben gegeben hat. Ich verlange, dass er sich so verhält, dass als Resultat seines Verhaltens dasselbe herauskommt wie bei meinem. Er wird sich etwas anderes denken dabei, er wird mich innerlich darum respektieren, weil er in dem Teil von mir, den er respektiert, etwas zu erkennen meint, wovon ich nichts weiß. Er respektiert es darum, weil er darin das erkennen möchte, worum es ihm geht.
Das ist wie Öl und Wasser. In einer säkularen Gesellschaft gibt - tendenziell wenigstens - das Denken, das ich hier "meines" genannt habe, den Rahmen ab. In ihr kann man den von Ratzinger definierten Respekt der Religiösen so verstehen, als bedeute er dasselbe. Man sollte das vielleicht um des lieben Friedens willen tun. In weniger säkularen Gesellschaften sieht das anders aus - fabula resp. historia docet. Das sind die Gesellschaften, in denen man nur Platz hat, wenn man zur Familie gehört oder als verlorener Sohn oder verirrtes Schaf. Timeo christianos et reverentiam praestantes.
5. Modefragen
Die Leute können sich anziehen, wie sie wollen. Das ist kein Zeichen einer säkularen Gesellschaft, sondern einer permissiven. Ich hätte nichts gegen Kleidungsvorschriften in Kirchen und Museen. In kurzen geblümten Hosen sollte nicht Mann noch Frau vor einer Madonna oder einer Venus stehen dürfen. Aber wir haben wenige, und, hätten wir andere, weil sich Ansichten wie die eben geäußerte durchsetzten, so liefen sie auf ein Mehr an Bedeckung hinaus, nicht auf ein Weniger.
Wer seine Haare bedecken möchte, soll das tun, und als Frau darf sie das sogar in einer Kirche. Ein Kopftuchverbot, ob an Schulen oder anderswo, ist nicht tolerabel, und eine Bemerkung wie die von einem schwäbischen Rektor berichtete: "Ich will Ihre Haare sehen" ist widerwärtig. Es gibt gewisse Anstandsregeln, die verletzt werden, wenn man zu wenig trägt. Darüber hinaus hat sich der Staat nicht in Modefragen einzumischen.
Beim Kopftuch handele es sich aber nicht um eine Modefrage, sondern darum, ob an Schulen religiöse Propaganda gemacht werden dürfe. Das Kopftuch sei ein diesbezügliches Symbol. Das kann schon sein, jedenfalls aus der Perspektive derjenigen, die es trägt. "Kann sein", sage ich, denn es ist ja umstritten, ob das Kopftuch automatisch dies oder das bedeute. Aber lassen wir es bei der Annahme.
Wir verbieten das Tragen des Hakenkreuzes. Es ist als Symbol einer verbotenen Partei verboten. Wäre das Kopftuch Symbol einer verbotenen Religionsgemeinschaft, wäre gegen sein Verbot nichts einzuwenden.
Wenn eine Lehrerin ihre Stellung dazu missbraucht, religiöse Propaganda zu machen, ist sie zu entlassen. Aber sie muss dazu etwas tun. Zu zeigen, dass sie etwas anderes glaubt als die anderen Lehrer oder die Schüler, reicht nicht. Strengt man ein Disziplinarverfahren gegen die Lehrerin an, kann der Umstand des Kopftuchtragens als Teil eines Befundes gewertet werden. Nicht aber als einziger Befund hinreichen.
Ist umgekehrt geboten, wenn man das Kopftuch verbietet, auch die Soutane des Religionsunterricht gebenden Pfarrers zu verbieten oder das Kreuz am Hals des Mathematiklehrers? Ein Fehler wird nicht dadurch besser, weil man aus Gerechtigkeitsgründen noch einen begeht. Es ist nur so, dass sich eine Gesellschaft, die das Recht zum Tragen von Kopftüchern einschränkt, nicht aber das von Kreuzen, dem Verdacht aussetzt, es gehe ihr nicht darum, die weltanschauliche Neutralität ihrer Schulen zu wahren, sondern, weil sie eine traditionell christliche ist, Moslems das Leben schwer machen zu wollen.
Mein Respekt, den ich einem religiösen Menschen entgegenbringe, gilt ihm, seiner individuellen Entscheidung, zu leben, wie er leben will. Ich übernehme nicht seine Vorstellung von Respekt, die dem gilt, was er für heilig hält. Meine Toleranz gegenüber einer religiös bestimmten Tracht hat nichts damit zu tun, dass ich etwa die Vorstellungen über die Reinheit oder Sündigkeit des menschlichen Körpers, die sie oder er hat, achte, sondern ich respektiere ihren oder seinen Lebensentwurf. Solange sie die Spielregeln der säkularen Gesellschaft respektieren und damit ihre Tochter nicht über das Eltern allgemein zuzubilligende Maß an Intoleranz hinaus schikanieren.
Als Mitmenschen haben sie meinen Respekt; als Mitbürger meine Zusage, dass ich mich für ihre Rechte einsetze; als Vorgesetzter haben mich Modefragen, Kopftücher, Kreuze und andere Accessoires nicht zu interessieren, sofern sie nicht, siehe oben, die gerade gültigen Anstandsbräuche verletzen. Kopftücher haben für die Schulbehörde Modefragen zu sein. Symbole werden erst durch Handlungen und geeignete Kontexte zu Symbolen. Darin besteht die Auffassung, die für die Umgangsformen einer säkularen Gesellschaft bestimmend ist: dass der Kontext und die Kommunikation den Sinn stiften. Dass der Sinn von außerhalb kommt und festgelegt ist, ist die Ansicht der Religiösen, nicht unsere. Wir sind uns da nicht einig. Nur auf diesem Dissens beruht die Möglichkeit, Religionen zu respektieren. Da so das Grundsätzliche beschaffen ist, werden wir uns auch im Operativen seltener einig sein, als man meistens glaubt.
Anmerkung der Redaktion: Der Aufsatz ist dem von Friedrich Jaeger und Jürgen Straub herausgegebenen Buch "Was ist der Mensch, was Geschichte?" entnommen. Wir danken dem Autor und dem transcript Verlag für die Genehmigung zur Nachpublikation. Der Band ist eine Festschrift zum 65. Geburtstag des Kulturwissenschaftlers Jörn Rüsen und verdankt sich einem Symposium am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen, dessen Präsident Rüsen war. Einige weitere Informationen über das Buch enthalten die Hinweise von Thomas Anz auf Zusammenhänge von Kultur-, Religionswissenschaft und Theologie in einem gesonderten Beitrag zu dieser Ausgabe von literaturkritik.de.
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