Hohe Menschen, kleine Gesellschaft

Jean Pauls Geschlechtergesellschaft bleibt undurchschaut

Von Maximilian BergengruenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maximilian Bergengruen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

So, nun ist die Ordnung der Geschlechter um 1800 auch bei Jean Paul untersucht. Die These ist deutlich: Theoretisch gesehen, so Elsbeth Dangel-Pelloquin, reproduziert Jean Paul das um 1800 bestehende Konstrukt der zwei polar differenzierten Geschlechter. In der poetischen Praxis, so die Autorin weiter, weicht die Eigendynamik der Texte die starre Dichotomie auf. Den männlichen Demiurgen und Pygmaliontikern, die Frauen in unnachahmlicher Blindheit nur für zu erweckende Statuen oder Haubenköpfe halten, wird von Zeit zu Zeit ein weiblicher Eigensinn entgegengestellt, der in einen Dialog der Geschlechter oder sogar in "Vermischung" und "Geschlechtertausch" mündet. Diese Behauptung von einer starren Trennung von Theorie und Praxis in den Texten Jean Pauls negiert ohne mit der Wimper zu zucken die Forschungsleistungen der letzten 25 Jahre. Wolfgang Proß hat mit seiner wichtigen Studie, "Jean Pauls geschichtliche Stellung", die Forschung gerade für die Verbindung (und nicht für die Trennung) von philosophischen Denkübungen und "literarischen Mustern" sensiblisiert. Dieser Ansatz hat sich in vielen Studien bewährt, und es ist zu fragen, warum die Verfasserin ihn ohne Argumente rückgängig machen möchte. Meine Vermutung ist die: Die Autorin war - nicht nur in diesem Fall - mit einem auf den ersten Blick verblüffenden Befund konfrontiert. Die Geschlechter-Konstruktion in den Texten Jean Pauls wird gerade nicht festgeschrieben, sondern wechselt ihre Gestalt. Dieser Proteus generum ist jedoch keine unbewusste Schreibtätigkeit, sondern hartes Kalkül. Er ist Folge der Figuren-Konstellation und der verschiedenen und komplementär zu denkenden Schreibstrategien des, wie ihn Burkhardt Lindner nannte, "Generalautors Jean Paul". Grundsätzlich ist in den Romanen zwischen den hohen Menschen und den "Nebencharaktere[n]", zwischen den "wachen" und den "schlafenden Monaden" zu unterscheiden. Nur den wachen Geist- oder Seelen-Monaden können, wie es bei Leibniz im "Neuen System" heißt, moralische Qualitäten zugesprochen werden. Die restlichen (Körper-)Monaden besitzen dementsprechend das Reflexionsniveau von Schlafwandlern und die Entscheidungsfähigkeit von "Automaten". Will heißen: Nur die hohen Menschen können moralische Leistung erbringen; nur sie können außerhalb der dichotomisch organisierten Welt der Geschlechter das Modell einer androgynen Liebe leben. Zu den weiblichen hohen Menschen, an die ein solcher Anspruch gestellt werden kann, gehören, um zu den zwei von Dangel-Pelloquin untersuchten Romanen zu gelangen, Klotilde ("Hesperus") und Natalie ("Siebenkäs"), nicht aber Lenette. Die hohen Frauen haben - entgegen ihrer geschlechtlichen Zuschreibung - Teil am philosophischen und literarischen Diskurs. Sie sind Leserinnen und, auch wenn es Dangel-Pelloquin beharrlich negiert, Dichterinnen. Lenette hingegen, eine Putz- und "Poliermaschine", ist zu einer solchen Vernunft- und Phantasie-Leistung nicht fähig und reproduziert wie ein gut geölter Automat den weiblichen Geschlechtscharakter (wie Stiefel den männlichen). Dementsprechend wundert man sich über lange Vergleiche zwischen den drei Frauen (die man sozusagen a priori hätte haben können) und die daraus erwachsenen Thesen des Buches. Es wird nicht ersichtlich, warum gerade die Putzmaschine Lenette eine Widersetzung gegenüber den dichotomen Geschlechtscharakteren darstellen sollte. Noch weniger leuchtet ein, warum Siebenkäs den scheiternden männlich-pygmaliontischen Hochmut repräsentiert, nur weil er einen harmlosen Schattenriss von Lenette herstellt. Die Argumentation ist auch in sich nicht mehr konsistent. Während Siebenkäs in diesem Teil des Buchs an der Anhäufung von Demiurgenpotenz zu ersticken droht, werden ihm im in einem anderen leichtfüßig androgyne Eigenschaften zugesprochen. Ja, was denn nun? Zurück zu Jean Paul: Die Unschärfe in der Geschlechterkonstruktion lässt sich nicht nur auf die Figuren-Konstellation, sondern auf die (kalkulierte) Überkreuzung verschiedener Erzählstrategien zurückführen. Das von mir skizzierte Modell der hohen Menschen mitsamt ihrer Utopie einer androgynen "kleinen Gesellschaft" (Rousseau) ist radikal-empfindsam - und wird vom humoristischen Teil der Generalautorschaft Jean Paul, der sich über so etwas nur lustig machen kann, in Frage gestellt. Gerade diese humoristischen Momente werden jedoch von Dangel-Pelloquin mit Vorliebe übergangen. Ein Beispiel: In der Satire "Einfältige aber gutgemeinte Biographie einer neuen angenehmen Frau von bloßem Holz" aus den "Teufelspapieren" (1789) werden anhand einer grotesken Holzpuppe Theorien von der Beseelung toter Materie lächerlich gemacht. Die Aufzählung der Vorteile, die eine hölzerne Frau hat, ist deutlich als vorgeblich gekennzeichnet und ruft zur Desavouierung auf. Dangel-Pelloquin erweist sich jedoch als erstaunlich komikresistent und macht aus der Satire den Prototext eines Frauen-erschaffenden Mannes, der gemeinerweise aus ihrer "Unbelebtheit" auch noch "Vorteile" zieht. Solche und andere Leseungenauigkeiten werden von einer auch in der Interpretation vorgenommenen Trennung von philosophischer Theorie und literarischer Praxis gestützt. Jean Pauls Blick auf das Geschlechterverhältnis seiner Zeit lässt sich meines Erachtens nur dann erarbeiten, wenn man sein philosophisches System und dessen literarische Umsetzung in den Romanen mit berücksichtigt. Bei Elsbeth Dangel-Pelloquin werden Jean Pauls philosophische und ästhetische Stichwortgeber, Leibniz, Jacobi und Herder, nicht einmal erwähnt.

Titelbild

Elsbeth Dangel-Pelloquin: Eigensinnige Geschöpfe. Jean Pauls poetische Geschlechter-Werkstatt.
Rombach Verlag, Freiburg 1999.
425 Seiten, 65,40 EUR.
ISBN-10: 3793091996

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