Chronik eines Verrats

Paul Nizans Klassiker "Antoine Bloyé" in einer Neuausgabe

Von Jörg AubergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Auberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Die heutigen Philosophen scheuen sich noch zuzugeben, daß sie die Menschen um der Bourgeoisie willen verraten haben", schrieb Paul Nizan am Ende seines Pamphlets "Die Wachhunde" (1932; dt. 1969). "Wenn wir heute die Bourgeoisie um der Menschen willen verraten, sollten wir uns nicht scheuen zu gestehen, daß wir Verräter sind." Der Verrat ist ein wiederkehrendes Motiv im schmalen Werk Nizans, der 1940 als 35jähriger Soldat bei Dünkirchen getötet wurde. In seinem Roman "Die Verschwörung" (1938; dt. 1975) ist es der kleinbürgerliche Verräter Pluvinage, der die Revolte einer Gruppe junger Intellektueller scheitern lässt, während Antoine Bloyé im gleichnamigen Roman (1933; dt. 1974) als Preis seines Aufstiegs vom Arbeiter zum Ingenieur bei der französischen Eisenbahn seine Klasse verrät. Als Nizan im September 1939 nach dem Hitler-Stalin-Pakt die Kommunistische Partei nach zwölf Jahren der Zugehörigkeit verließ, galt er selbst als Verräter, dessen Name aus der Geschichte getilgt werden sollte. Nicht allein Stalins französischer Stellvertreter Maurice Thorez denunzierte ihn als einen vom Innenministerium in die Kommunistische Partei eingeschleusten Polizeispitzel, sondern auch Parteiintellektuelle wie Louis Aragon - in seinem Roman "Die Kommunisten" (1949) - und Henri Lefèbvre beteiligten sich an der Rufmordkampagne gegen den einstigen Weggefährten. Erst nach 1960 setzte - nicht zuletzt aufgrund des Engagements Jean-Paul Sartres - eine Nizan-Renaissance in Frankreich ein, wo das Œuvre des Autors bis heute im Buchhandel erhältlich ist.

"In Deutschland tut sich die Rezeption Paul Nizans schwer", bemerkte Delf Schmidt 1973 im Nachwort zu einer deutschen Ausgabe von literarischen und politischen Aufsätzen Nizans aus den dreißiger Jahren. In den siebziger Jahren erschienen die Werke Nizans zwar auch in den beiden deutschen Staaten, doch verschwanden sie auch schnell wieder von der Bildfläche. Anlässlich des hundertsten Geburtstags des Autors wurde nun "Antoine Bloyé" in einer "durchgesehenen Neuausgabe" erneut dem Literaturmarkt zugeführt. Dazu muss gesagt werden, dass Nizan und sein grandioser Roman Besseres verdient hätten, als von einem kontur- und profillosen Gemischtwarenverlag in einer lieb- und interessenlosen Neuauflage vermarktet zu werden. Nicht zuletzt deshalb, weil sich dieses Unternehmen nicht einmal dazu aufraffen konnte, dem Autor und dem interessierten Publikum ein Nachwort zu spendieren. Offenbar galt es einzig und allein, einen passenden Zeitpunkt in der medialen Gedenkmaschinerie auszunutzen, Nizan im Schatten des ebenfalls hundertjährigen Sartre in den einschlägigen Feuilletons - von rechts bis halblinks - zu platzieren und Profit in der Neuverwertungskette zu generieren. Ironischerweise wurde hier ein Roman, der die erzwungene Unterwerfung des Individuums unter die Herrschaftsverhältnisse des bürgerlichen Kapitalismus denunziert, zum Objekt durch und durch an den Betrieb angepasster Feuilletonisten, mit dem sie ihr scheinbares Unbehagen am Kapitalismus (zumeist als Industrialismus umschrieben) sublimieren können. Iris Radisch, im Hauptberuf für die Hamburger Wochenzeitung "Die Zeit" tätig und nebenbei auch gern vom TV-Feuilleton "Kulturzeit" für so genannte "Literaturgespräche" verpflichtet, schreibt über "Antoine Bloyé" Sätze wie "Wenn wir annehmen, dass das Leben ein Rätsel ist, das uns wer auch immer aufgegeben hat, ist die Lösung ganz einfach: Die Lösung ist der Mensch." Dieser Roman sei, weiß die Feuilletonistin zu berichten, "in einer Zeit geschrieben, in der man an das Glück aus dem gesellschaftlichen Reagenzglas noch glaubte". So wabern Nichtigkeiten und Banalitäten des pseudo-intellektuellen Jargons durch den feuilletonistischen Text, der sich wie eine nekrotische Kruste über das Objekt der Kritik legt und es zu ersticken droht.

Entgegen der bramarbasierenden Faselei, Nizans Roman erinnere "an die großen, unbeantwortbaren Fragen des modernen Lebens", ist "Antoine Bloyé" in das Projekt der "revolutionären Literatur" als Antipode zur "populistischen" wie "proletarischen" Literatur der dreißiger Jahre eingebunden. "Die revolutionäre Literatur wird all ihre Gegenstände, darunter auch das Proletariat, mit den Waffen der Philosophie und der revolutionären, marxistischen Kritik behandeln", postulierte Nizan 1932. In seinem Roman unterzieht er seinen Gegenstand - den aus proletarischen Verhältnissen ins Kleinbürgertum aufsteigenden Eisenbahner - einer radikalen Kritik. Der Preis des Aufstiegs ist der des Verrats, der Anpassung, der Entfremdung und der Verflüchtigung des Lebens in den falschen Regionen der Existenz, die unter den Gesetzen der kapitalistischen Herrschaft vollzogen wird. Antoine Bloyé ist dem Vater Nizans nachempfunden, zugleich aber Archetyp eines sozialen Agenten, dessen scheinbare Chancen in der Durchlässigkeit der gesellschaftlichen Schichten in eine existenzielle Leere führen, an deren Ende ein verflüchtigtes Leben steht.

Am Anfang steht der Tod. Über das Totenbett öffnet Nizan den Blick auf den Protagonisten. Im Jahre 1926 endet die Geschichte eines Lebens, das 1864 begann, in die Entwicklungen der Eisenbahnindustrie und Verwicklungen politischer und gesellschaftlicher Stränge eingebunden war, ohne einen eigenen Entwurf präsentieren zu können. Immer schon unterwirft sich Antoine der Gewalt: Zu Hause lässt er sich vom Vater mit dem Lederriemen verprügeln, und in der Schule versteht er es, den dressierten Affen zu spielen. Ohne sich aufzulehnen, wird er zum Material in der Planung der Herrschenden, und der soziale Aufstieg erweist sich als besondere Form der Verstümmelung: "Nicht alle Deklassierungen vollziehen sich nach unten." Antoine selbst empfindet seinen Aufstieg in der Hierarchie als Verrat, überantwortet sich aber zugleich mit Haut und Haaren dem industriellen Getriebe, in dem er nach den Bedürfnissen des anonymen Komplexes durch die Maschinenstränge des Landes wie ein beliebig fungibles Ding mit kärglich wachsendem sozialen Prestige verschoben wird. "Dieser Mensch ist nur noch eine Filiale seiner Firma [...]", schreibt Sartre im Fall Bloyé. Das vom Arbeiter zum Ingenieur aufgestiegene "Monstrum" verliert sich im "workaholism", ohne doch von seiner Existenz ausgefüllt zu sein. Wie der Pilger am Ende von Charlie Chaplins "The Pilgrim" läuft er mit je einem Bein auf den Seiten der Grenze zwischen Proletariat und Bürgertum entlang, ohne weder zur einen noch zur anderen zu gehören. Nach der Niederschlagung eines Streiks, an der er beteiligt war, wird ihm die eigene Zerrissenheit bewusst. "Er hasste jetzt die Arbeiter", heißt es im Roman, "weil er sie heimlich beneidete, weil er in seinem geheimsten Innern wußte, daß in ihrer Niederlage mehr Wahrheit steckte als in seinem bürgerlichen Sieg."

Bezeichnend für Nizans Technik ist die Verwebung von Erzählung und Kommentar. Der Autor versteckt sich nicht hinter seinen Figuren, missbraucht niemanden als sein wehrloses Mundstück, sondern betritt die Szenerie und kommentiert Vorgänge aus der Perspektive des kritischen Intellektuellen. "Die Kommentare gleichen Scharnieren", bemerkte Lothar Baier vor dreißig Jahren, "die den Raum und die Zeit des Romans mit dem wirklichen Raum und der geschichtlichen Zeit verbinden, in die Nizans Roman eingreifen will." Zuweilen wirken manche Kommentare heute doch etwas befremdlich und der männlichen Wahrnehmung jener Zeit verhaftet. So beschreibt Nizan kleinbürgerliche Hausfrauen wie Bloyés Gattin Anne als "in den einsamen Häusern der Provinz" hockende Spinnen, die ihre Männer mit Gespinsten umwickeln, "die man nur mit heroischer Anstrengung zerreißen kann". Dagegen zeichnet er Prostituierte als "die spontanen Komplizinnen der Freiheit der Männer", als böten diese eine antibürgerliche, anarchische Alternative zur kleinbürgerlichen Interessengemeinschaft und unterlägen nicht selbst der Herrschaft des Marktes und der damit verbundenen nackten Gewalt der Warenbeziehungen.

Bloyé ist ein auf sich und sein unmittelbares Umfeld fixierter Kleinbürger, der für politische Ideen nichts übrig hat und lediglich in Frieden seiner Arbeit nachgehen will. Im Ersten Weltkrieg verliert er jedoch seinen Lebensinhalt, als er für Fabrikationsfehler von Granaten verantwortlich gemacht und auf einen unwichtigen Posten versetzt wird. Damit beginnt sein Abstieg. "Ich bin überzählig", gesteht sich Bloyé ein, "ich diene zu nichts, ich existiere schon nicht mehr [...] ich habe mein Leben verfehlt, ich bin am Ende...". Allein auf Produktivität und unablässige Tätigkeit geeicht, erodiert die menschliche Arbeitsmaschine im Stillstand und zerfällt. Nach mehr als sechzig Jahren ist es zu spät, die Vergangenheit kritisch zu betrachten und noch die verbleibende Lebenszeit neu zu definieren. Schließlich ist es "reichlich spät, um seit langem verlorene Geheimnisse zu finden".

An seiner Eindringlichkeit hat Nizans eindrucksvoller Roman seit 1933 nichts verloren. In einer Gesellschaft, die sich in erster Linie über Arbeit definiert, während andere Schichten der Existenz zu vernachlässigen sind, um den Wirtschaftsstandort oder die Vermittelbarkeit nicht zu gefährden, bleibt er noch immer aktuell. Es ist zu wünschen, ein engagierter Verlag, der sich nicht allein als Wirtschaftsunternehmen mit den "Profit Centers" Belletristik und Sachbuch versteht, fände sich bereit, das Werk Paul Nizans auch in Deutschland in einer adäquaten Edition herauszubringen. Aber wahrscheinlich bleibt dies nur ein unerfülltes Verlangen wie so vieles andere auch.

Titelbild

Paul Nizan: Das Leben des Antoine B.
Übersetzt aus dem Französischen von Gerda Scheffel.
DuMont Buchverlag, Köln 2005.
259 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3832179267

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