Es gibt so viel Gutes

Deutsche Literatur der letzten zehn Jahre aus der Sicht des Kritikers Hubert Winkels

Von Mario Alexander WeberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mario Alexander Weber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Was war, wer bleibt, wer kommt?", liest man auf dem erfreulich altmodisch gestalteten Buchumschlag von Hubert Winkels Bestandsaufnahme "Gute Zeichen. Deutsche Literatur 1995 - 2005". Die Antworten, die Hubert Winkels, Literaturkritiker für die "Zeit" und Literaturredakteur für den Deutschlandfunk, gibt, sind Vorschläge, Anregungen, teils subjektive Überlegungen und keine - so viel vorweg - oberlehrerhaft und von oben verordnete Kanonauferlegungen. Und: Das Buch nennt sich "Gute Zeichen". Hubert Winkels erläutert in seinen Nachbemerkungen: "In der Titelformulierung steckt also auch eine Behauptung." In diesen Tagen allgemeiner Jammerei tut es gut, ein Buch zu lesen, das sich der Mode des Schlecht-Machens verweigert, ohne zugleich auf die guten alten Zeiten zu verweisen. Hey, schaut her und lest! Die letzten zehn Jahre haben lesenswerte, lohnenswerte Bücher deutschsprachiger Autoren hervorgebracht. Gemeint sind hier nicht die Spätwerke der Altvorderen Grass, Enzensberger oder Walser, kein "Echolot", keine Neuentdeckung vergessener Autoren wie Gerd Ledig oder Alexander von Humboldt, auch keine Judith Hermann, kein Büchner-Preisträger wie Arnold Stadler, nicht die Welterfolge wie Bernhard Schlinks "Der Vorleser" oder Hans-Ulrich Treichels "Der Verlorene", um ein paar Themen der letzten zehn Jahre zu erwähnen. Höchstens am Rande findet man etwas davon in Hubert Winkels Kompendium. Stattdessen listet das Cover 33 andere Namen auf, von Andreas Neumeister über Liane Dirks bis hin zu Feridun Zaimoglu. Die meisten der Autoren sind zwischen 1945 und 1965 geboren. "Es gibt also einen Generationenschwerpunkt." Das Buch ist im besten Sinne zeitgeistig. Doch der Reihe nach.

Winkels beginnt mit einem eher wirren, verschrobenen "Das waren die Achtziger Jahre"-Essay, in dem der spätere Kritiker über seine eigenen Erfahrungen als Schriftsteller berichtet. Nachdem die Achtziger ad acta gelegt worden sind, folgt unter dem Titel "Wohin strebt die Literaturkritik?" eine souveräne Standortbestimmung und Definition des eigenen literaturkritschen Schaffens. Unter dem Aufhänger "Gelobte Literatur" portraitiert Winkels das literarische Werk von Ralf Rothmann, Patrick Roth, Liane Dirks und Wolfgang Hilbig, um sich danach ausführlich mit der "Herausforderung des Pop" für die deutschsprachige Literatur Ende der Neunziger auseinander zu setzen. 32 Buchbesprechungen, chronologisch geordnet, aus den Jahren 1994 - 2004 (der Buchtitel muss natürlich um aktuellste Aktualität heischen und verschiebt deswegen die Betrachtung jeweils um ein Jahr nach vorne) gehen dann ins Detail. Die letzten fünfzig Seiten verhandeln den "Betrieb", also die Medien, und alles, was trotzdem unter den Tisch fällt ("Was übersieht der Literaturbetrieb?") - und natürlich die Bastion Klagenfurt.

Trotz des Titels "Gute Zeichen" handelt es sich um keine Sammlung lauter Lobreden. "Zu simpel, zu langsam" bilanziert Winkels über Georg M. Oswalds Roman "Alles was zählt". Und hängt ein "zu schade!" an das Fazit noch dran, denn das literarische Misslingen dieses Romans sei "um so bedauerlicher, als die Literatur sich zur Zeit heftig der ideologischen, psychischen und sozialen Verwerfungen annimmt, die eine turbokapitalistisch beschleunigte Lebensform auch im Inneren der Wohlstandsgesellschaft selbst anrichtet."

Viele, nicht nur deutschsprachige Bücher seien "Reaktionen auf nicht mehr funktionierende Moral- und Sinnbezüge in der Gesellschaft", erläutert Hubert Winkels in einem Interview mit der "netzeitung" auf die Frage, was denn typisch sei für die Literatur der letzten zehn Jahre.

Dazu kommt ein Medienunbehagen, eine Auseinandersetzung, die sich auch auf das Schreiben selbst auswirkt:

"Der anonyme Apparat ist alles, alles ist der anonyme Apparat", konstatiert Winkels in der Analyse von Norbert Niemanns Debütroman "Wie man's nimmt", in dem die Hauptfigur Peter Schönlein ihr "materiell gut abgesichertes und lifestylemäßig durchgeformtes Familienleben" ruiniert. "Die Generation, die mit Pop groß und mit Diskurs- und Medientheorien schlau geworden ist, hat es schwer mit dem schönen alten Instrument des Romans." Nicht "süffig" sei Niemanns Roman. Vielleicht produziert der Widerspruch zwischen 'Eigentlich geht es mir doch gut' und dem unterschwelligen, via Medien verbreiteten 'Es könnte mir noch besser gehen' Romane, die in ihrer Machart exakt dies vermitteln. Und weiter gedacht: Vor lauter Metaebenen und Beobachtungen x-ten Grades ist es doch erstaunlich, dass trotzdem weiterhin Romane - dieses alte Medium - erscheinen. Es ist die Sinnfrage, die auch und gerade im neuen Jahrtausend umtreibt. Die drei großen W-Fragen - Woher? Wozu? Wohin? - finden sich in der deutschsprachigen Literatur wieder.

Hubert Winkels Sammelband macht neugierig auf Autoren und Bücher, die man verpasst hat. Die deutsche Literatur atmet, lebt, hat Antworten, stellt Fragen, schreibt die Geschichte weiter. Eben "gute Zeichen".

Titelbild

Hubert Winkels: Gute Zeichen. Deutsche Literatur 1995-2005.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005.
398 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-10: 3462034669

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