Über Grenzen hinaus

Zwei Sammelbände diskutieren mögliche Verhältnisse der Philosophischen Anthropologie Helmuth Plessners zu den Gesellschafts- und Sozialwissenschaften

Von Jan MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bei aller Skepsis gegenüber gegenwärtiger "Wenden"-Euphorie mag die ungebrochene Aufmerksamkeit, die Helmuth Plessner in kulturwissenschaftlichen und philosophischen Diskussionen genießt, als Indiz eines disziplinären "anthropological turn" gelten. Zwei jüngere Sammelbände scheinen das zu belegen.

Der bereits 2002 von Joachim Fischer, Wolfgang Eßbach und Helmuth Lethen besorgte erste Band verspricht, mit besonderem Augenmerk auf die polemische Streitschrift über die "Grenzen der Gemeinschaft" von 1924, "eine Debatte" um Plessners philosophisch-anthropologische Grenzgänge zur Sozialwissenschaft mitzuteilen. Dabei wird etwa durch die Beigabe zeitgenössischer und gegenwärtiger Rezensionen wie bereits andernorts publizierter Beiträge die lange (obschon nicht ununterbrochene) Dauer und die disziplinäre Breite der Beschäftigung mit Plessner illustriert. Als Kehrseite solcher Panoramen gerät die "Debatte" allerdings zu einer vielstimmigen Ansammlung bestenfalls lose verknüpfter Einschätzungen, die nur durch die Klammer einer durchaus unterschiedlichen Beschäftigung mit dem Werk Plessners zusammengehalten werden.

Den Löwenanteil bestreiten Konfrontationen der Plessner'schen Überlegungen mit denen anderer Autoren. So hebt Cornelius Bickel im Vergleich Tönnies - Plessner beider Nähe in der typologischen Unterscheidung von "Gemeinschaft" und "Gesellschaft" hervor, attestiert allerdings Plessner ein zeitbedingt schärferes Sensorium für "charismatische" Figuren. Karl-Siegbert Rehberg schlägt vor, in Plessners Anthropologie einen systematischen Unterbau für die Zivilisationstheorie Norbert Elias' zu suchen und droht dabei in den problematischen Sog terminologischer Gleichklänge zu geraten. Zdzislaw Krasnodebski appliziert Plessners Vorschläge auf Husserl "als geradezu klassischem Beispiel des Strebens, Gesellschaft abzuschaffen und durch Gemeinschaft zu ersetzen". Wo indes eine Diskussion möglicher Folgen dieser Beobachtung für die Bewertung der subversiven Popularität der Phänomenologie in Ostmitteleuropa spannend gewesen wäre, irritiert Krasnodebski mit einer höchstens als Illustration rezenter Geschichtspolitik einschlägigen totalitarismustheoretischen Gleichsetzung von Nationalsozialismus und Kommunismus. Kai Haucke rekonstruiert treffend als einen Zweck der Kritik Plessners an der Disjunktion von reiner und angewandter Theorie das Bemühen, einen Beitrag zum "deutschen Selbstverständnis nach 1918" zu leisten und "als Deutscher die Deutschen auf die ihnen eigenen zivilisatorischen Potentiale hinzuweisen". Allerdings rückt Haucke Plessner mit der Akzentuierung einer revidierten Form "ästhetischer Erziehung" wenig überzeugend in die Nähe bloßer Gesinnungsphilosophie; dass dessen Bezüge auf den deutschen Idealismus handfesten systematischen Problemlagen geschuldet sind, zeigt etwa die von Haucke ausgeblendete frühe Arbeit zur "Krisis der transzendentalen Wahrheit am Anfang" von 1918. Bruno Accarino schließlich charakterisiert in seiner kenntnisreichen motivgeschichtlichen Rekonstruktion der "Spuren des (barocken) Hofstaats" in Plessners "Grenzen" dessen Auseinandersetzung mit spezifisch modernen sozialphilosophischen Fragen als wesentlich über die Auseinandersetzung mit Ausformulierungen derselben Fragen in vor- und frühmodernen Entwürfen vermittelt.

Echte und produktive Streitgespräche entzünden sich in der "Debatte" des Bandes dort, wo der methodische Ort und die Funktion der Plessner'schen Sozialphilosophie systematisch in den Blick geraten. So diskutieren Karl Otto Hondrich und Andy Wallace Plessners Vorschläge vor dem Hintergrund der Kommunitarismusdebatte. Dass sie dabei zu durchaus unterschiedlichen Lesarten der Texte Plessners gelangen, sagt weniger über Plessner als über diese aktuellen Kontroversen aus: Wallace hält in seinem Nachwort zur amerikanischen Übersetzung der "Grenzen" Plessners Kritik der Gemeinschaftlichkeit deshalb für inkonsistent, weil in ihr die Berücksichtigung einer positiven "staatsbürgerlich-republikanischen Gemeinschaft" fehle. Dagegen bezweifelt Hondrich mit Plessner zu Recht die auch in kommunitaristischen Entwürfen gesuchte Möglichkeit eines "gemeinschaftsstiftenden Handelns", insofern die Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft wie das Bezwecken gemeinschaftlichen Handelns nur möglich sei im Medium der Gesellschaftlichkeit.

Der zweite Diskussionsstrang des Bands thematisiert die Beiträge der drei Herausgeber. Mit einem Wiederabdruck eines Kapitels seiner - in ihrer Wirkung auf die bundesrepublikanische Plessner-Rezeption kaum zu überschätzenden - Untersuchung zu den neusachlichen "Verhaltenslehren der Kälte" erneuert Helmuth Lethen seinen Vorschlag, Plessners philosophische Anthropologie zum Ausdruck eines zeittypischen Habitus zu historisieren. Sein Beitrag wird in der Sache von Claudia Schmölders' Darstellung des Plessner'schen Rückgriffs auf physiognomische Beschreibungsmittel und Dorothee Kimmichs literaturwissenschaftlicher Suche nach Ähnlichkeiten zwischen neusachlicher Poetik und der moralistischen Tradition flankiert. Freilich trägt eine solche mentalitäts- und geistesgeschichtlich wie auch immer plausible Kategorisierung für die Frage nach der Triftigkeit von Erklärungs- und Geltungsansprüchen wenig bei; eben im philosophisch-anthropologischen Grundlegungsanspruch der Wissenschaften sieht Wolfgang Eßbach daher eine Grenze der Historisierbarkeit der Philosophie Plessners. Ebenfalls gegen Lethen möchte Joachim Fischer Plessners Überlegungen ausgehend von der zentralen Denkfigur exzentrischer Positionalität umgekehrt als "Sozialtheorie der Grenze" rekonstruieren: Die anthropologisch begründete Unbestimmbarkeit des Humanums mache Gemeinschaftlichkeit nur als Defizienzform von - dann freilich wesentlich agonal strukturierter - Gesellschaftlichkeit denkbar.

Diesen Gedanken führte Plessner in "Macht und menschliche Natur" (1932) weiter. Ob die viel diskutierte Nähe zur politischen Theologie Carl Schmitts, in die er sich dabei begab, tatsächlich systematisch quer zur anthropologischen Reflexion der "exzentrischen Positionalität" steht, wie Axel Honneth mit ehrenrettender Absicht in seinem Rezensionsbeitrag argumentiert, oder ob sie nicht vielmehr umgekehrt eine durchaus konsequente Weiterführung der offenen Unbestimmtheit exzentrischer Positionalität ist, bleibt in den Beiträgen dieses Bands ungeklärt. Dies dürfte die Gretchenfrage an sozialwissenschaftliche Aneignungen und Anwendungen der Philosophie Plessners sein; sie provoziert auch die Revision von Geltungsansprüchen und - gründen des Projekts einer Philosophischen Anthropologie als philosophischer Grundlagendisziplin, wie es nicht nur Plessner im Sinn hatte.

Dass diese Frage das konzeptionelle Zentrum des zweiten, systematisch reichhaltigeren Bandes "Zur Renaissance Helmuth Plessners zwischen Anthropologie und Gesellschaftstheorie" steht, zeigt bereits die einleitende Debatte zwischen Michael Weingarten und Volker Schürmann. Nehme man die offene Unbestimmtheit des Menschen, der zum Menschen erst zu werden habe, ernst, meint Weingarten, dann betreffe diese Unbestimmtheit in geltungstheoretisch problematischer Weise auch die rückversichernde Bezugnahme anthropologischen Philosophierens auf geistesgeschichtliche Traditionsbestände. Letztlich sei eine philosophische Anthropologie, die wie diejenige Plessners den Akzent auf Unbestimmtheit und Unentscheidbarkeit lege, genötigt, in ihrer eigenen Begründung formale Widersprüche zuzulassen. Dass somit Geltung nur im Rückgriff auf grimmige voluntaristische oder dezisionistische Konzepte beanspruchbar ist, sieht Volker Schürmann dagegen umgekehrt als reflexive Stärke des Plessner'schen Vorschlags. Indem er die Überlegungen aus "Macht und menschliche Natur" als komplementäres Argument zur Figur exzentrischer Positionalität liest, plädiert er für eine Haltung "parteilicher Skepsis": Mit der Unbestimmbarkeit des menschlichen Wesens müsse zugleich das Bewusstsein dieser Unmöglichkeit wie das Bewusstsein dafür einhergehen, dass exzentrische Positionalität nur in reflektierten, aber nicht letztbegründbaren Positionierungen bestehen könne - deren prominenteste und relativ bestbegründetste dann freilich die Haltung eines "Philosophischen Anthropologen" im Sinne Plessners sein dürfte.

Der Ausdeutung Schürmanns folgen Gerhard Gamm mit seinem Vorschlag, die reflexiv-anthropologische "Verbindlichkeit des Unergründlichen" zur normativen Grundlage technologiekritischer Erwägungen zu nehmen. Noch weiter geht Joachim Fischer. Gleichsam in Transposition des Themas seines Beitrages zum zuvor besprochenen Band sieht er vermittelt über die Rekonstruktion der Figur des "grenzrealisierenden Dings" die Möglichkeit, Plessners Rede von Positionalität in einer für das ganze Theorieprojekt charakteristischen "Biophilosophie" zu fundieren. Diese Biophilosophie könne sodann als Kerndisziplin selbst eine Vermittlung der Erklärungs- und Geltungsansprüche aus den "zwei Kulturen" der Geistes- und Naturwissenschaften leisten.

Solche Vermittlung bezwecken auch die sozial- und gesellschaftswissenschaftlichen Beiträge des Bandes. So plädiert Alexandra Manzei offensiv für die Integration anthropologischer Sprachstücke in soziologische Vokabulare, die selbst allemal auf anthropologischen Voraussetzungen beruhten. Demgegenüber böten Plessners Überlegungen die Möglichkeit, solche Prämissen etwa mit Blick auf die gegenwärtige Intensivmedizin zu explizieren und der konstitutiven Offenheit des Humanums gemäß zu kritisieren. Ulle Jäger macht überdies die Möglichkeit sichtbar, unter Rückgriff auf Plessners Beschreibung der Verschränkung von "Körper" und "Leib" eine Leerstelle in der Habitusanalyse Pierre Bourdieus zu füllen: Damit stünde "ein Modell zur Verfügung, das quer zur Trennung von Natur und Kultur liegt und mit der Einbeziehung der Leibesebene eine sozialwissenschaftliche Thematisierung menschlicher Erfahrung erlaubt".

Heike Kämpf und Andreas Hetzel widmen sich der Einsicht in die Performativität allen Wissenschafttreibens und (a forteriori des Plessner'schen) Philosophierens. Kämpf liest Plessners Anthropologie als motiviert durch eine Kritik der Anthropologie als "Feststellungswissenschaft", bei der die Reflexion auf ihre Perfomativität der Theoriebildung als kritisches Regulativ diene. Darin liegt, wie Hetzel ausführt, die irreduzibel politische Dimension solcher Theorieproduktion. In seiner Ausdeutung von Plessners Postulat einer Unentscheidbarkeit des Primats von Politik, Anthropologie oder Philosophie ergibt sich auch ihm die Möglichkeiten einer zwischen (philosophischem) Universalismus und (politischem) Partikularismus oszillierenden theoretischen und praktischen Haltung, die in der die Extreme vermittelnden offenen Unbestimmtheit des Humanums begründbar sei.

Einzig Gesa Lindemann verfolgt mit der These, Plessners Explikation der Positionalität sei als Theorie personaler Vergesellschaftung zu rekonstruieren, eine gegenläufige Argumentation. Plessners "reflexive Anthropologie" sei gerade nicht zur Grundlegung soziologischer Modelle in Wesensbestimmungen des Menschen geeignet, sondern umgekehrt: Ausgehend von der positionalen Verhältnisbestimmung zwischen Personen und anderen Lebewesen ergebe sich die Möglichkeit, Verhältnisse auch nicht-menschlicher Lebewesen zu bestimmen, sodass reflexiver Anthropologie die Aufgabe zukomme, "Konzepte zu entwickeln, wie der Prozess der Selbstbegrenzung personaler Vergesellschaftung verstanden und empirisch untersucht werden kann".

Ein Ertrag dieser starken Argumentation dürfte sein, dass sie die Plausibilität der Eingangsfrage Weingartens nach der Möglichkeit einer philosophischen Anthropologie als philosophischer Grundlagendisziplin und nach alternativen Behandlungen der Frage nach "dem Menschen" erneuert. Einen Vorschlag dazu unterbreitet Mathias Gutmann in luzider Rekonstruktion der sprachlogischen Diskussion zwischen Plessner und seinem Philosophenfreund Josef König. Mit Königs funktionaler Unterscheidung determinierenden und modifizierenden Prädikatgebrauchs lasse sich bei Plessner eine Verkürzung der logischen Grammatik der Rede von "Leben" und "lebendig" ausmachen: Wiewohl beide Prädikate den Anschein determinierenden Gebrauchs machten, so als sei "Lebendig-sein" eine Eigenschaft eines Dings, verweise die Rede von "lebendig" vielmehr auf eine modifizierende Redeweise, insofern dasjenige, von dem das Prädikat ausgesagt wird, eben Nichts sei als dasjenige, von dem ausgesagt wird, es sei wesentlich "lebendig" oder "ein Lebendes". Damit würde die anthropologische Reflexion, so Gutmann, zur Artikulation von und Selbstverständigung über gemeinschaftliche Selbstverhältnisse im Medium einer besonderen - nicht-determinierenden - Redeform. Die Konsequenzen diskutieren Gutmann und Weingarten in einem gemeinsamen Beitrag zum "Typusproblem in der Biologie": Indem Plessner diesen logischen Unterschied verschleife, gefährde er wie andere Protagonisten anthropologischen Philosophierens sein Fundament in den Biowissenschaften. Wie die Rede von "Leben" verkürze Plessner auch andere philosophische Allgemeinbegriffe auf solche der Biologie seiner Zeit. Die biologische Rede von "Art" und "Exemplar" werde so unter der Hand zur Grundlage der bloß determinierend verstandenen zentralen philosophisch-anthropologischen Rede von Typen wie "dem Menschen", "dem Tier" etc. Damit gerate Plessners Konzept überall dort in Konflikte zur gegenwärtigen Biowissenschaft, wo diese - wie etwa in der Evolutionstheorie - Type-token-Modelle aufgegeben habe.

Die Unterschiede zwischen beiden besprochenen Bänden zeigen, in welche disziplinären Bahnen sich zunächst die Diskussion der Überlegungen und Denkmotive Plessners diversifizierte und zu welchen grundlegenden systematischen Fragen sie sich seither differenzierte. Liegt der Wert des ersten Bands - wenn auch nicht derjenige der Mehrzahl seiner beachtenswerten Beiträge - in der schlichten Kundgabe, dass es eine "Debatte" in Gestalt vieler und unterschiedlicher Äußerungen gibt, so belegt der zweite Band mit der präzisen Formulierung ihrer zentralen systematischen Fragen und den grundsätzlichen Differenzen der Antwortvorschläge zugleich die aktuelle Reichweite wie die Notwendigkeit dieser "Debatte" als produktivem Streitgespräch.

Titelbild

Plessners "Grenzen der Gemeinschaft". Eine Debatte.
Herausgegeben von Wolfgang Essbach, Joachim Fischer und Helmut Lethen.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
371 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-10: 3518291416

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Zwischen Anthropologie und Gesellschaftstheorie. Zur Renaissance Helmuth Plessners im Kontext der modernen Lebenswissenschaften.
Herausgegeben von Gerhard Gamm, Mathias Gutmann und Alexandra Manzei.
Transcript Verlag, Bielefeld 2005.
261 Seiten, 25,80 EUR.
ISBN-10: 3899423194

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch