Alltägliche Kriege

"Das normale Leben" in Erzählungen Dieter Wellershoffs

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Da ist ein Ehepaar im gemeinsamen Kampf, bis in die Metaphorik hinein: Sie etwa versucht weiterzuschlafen, "um für den Tag gerüstet zu sein", er ist ein "geschickter Taktiker", der aber sogar im Morgenschlaf noch den Eindruck macht, "als kämpfte er mit etwas". Dabei gilt es doch nur, ein gesellschaftliches Ereignis zu bestehen, das Sommerfest eines Golfclubs, das Dieter Wellershoff in seinem neuen Erzählband als Choreografie von Selbstdarstellung und Begehren beschreibt. Am Ende des Tages haben sich die Fronten verkehrt, ist der Mann vorhersehbar fremdgegangen und weiß noch nicht, dass seine Frau es weiß. "Man muß aus der Deckung heraus operieren", hat sie von ihm gelernt, und diese Taktik wird sie in den folgenden Kämpfen anwenden.

Ein Mann, 74 Jahre alt und noch gefragter Redner, hat soeben einen Beinahe-Infarkt und eine Vortragsreise überstanden und zieht sich in sein Ferien-Apartment zurück. Normalität indessen will sich nicht einstellen, und statt der neuen Frau, die er nach einem erfolgreichen Auftritt kennen gelernt hat, ruft er eine frühere Freundin zu sich, die ihn einst für einen jüngeren Mann verlassen hat und seit wenigen Tagen verwitwet ist. Tatsächlich kommt sie, doch seine Wünsche nach erfüllter Sexualität zerschellen daran, dass sie einen Dritten heiraten wird. Eine letzte Nacht mit ihr markiert den Übergang in einen neuen Lebensabschnitt: "Er war ein alter Mann, der auf Abruf lebte, versehen mit der Weisung, noch einmal und solange es ging in sein normales Leben zurückzukehren. Wie auch immer es lief: Er hatte Grund, das zu feiern."

Der Schlusssatz der Erzählung, die dem Band seinen Titel gibt, wirkt angesichts von Niederlage und Todesnähe überraschend, doch eröffnet das Erlebte eine Perspektive auf das Dasein als Vorbereitung auf ein Ende, das die Sinnlichkeit des je Gegenwärtigen noch aufwertet. Insofern sind weniger die offensichtlich zahlreichen vergangenen Eroberungen der Hauptfigur Anlass zum Triumph, sondern schenkt die Aufgabe, aus der unbekannten Spanne, die noch bleibt, das Beste zu machen, jene Haltung, die sie zu erfüllen erst möglich macht. Die scheinbar autoritäre "Weisung" ist deshalb Befreiung, und der Kampf darum macht das normale Leben bedeutsam. Wenn das indessen zu viel Heroismus ist, so bricht ihn Wellershoff, indem er ihn mit den Notizen eines Scheiternden konfrontiert, die der alte Mann liest - der Hinterlassenschaft eines jungen Selbstmörders, der keinen Zugang zum Leben fand, dem aber ein Ende gelang, das seinem Dasein entspricht.

Um die beiden umfangreichen Erzählungen herum hat Wellershoff kürzere Texte gruppiert, auch sie jüngeren Datums. In ihnen erlaubt er seinen Protagonisten und Protagonistinnen ein Ausweichen. Schon im Titel ist das in "Das Verschwinden" markiert, wo eine mäßig erfolgreiche und mit Übersetzungen ihr Leben verdienende Lyrikerin zunächst von der scheinbaren Sympathie eines erfolgreichen Feuilletonisten getäuscht, dann aber von der lesbischen Zuneigung seiner Frau bedrängt wird und auf einer ziellosen Fahrt gen Süden flieht. In "Graffito" - der einzigen Erzählung, die auf einen älteren Text zurückgeht - bindet sich eine Kunststudentin an einen älteren, verheirateten Kunsthändler und weist einen jüngeren Studenten zurück, der sie wirklich liebt, mit dem gesehen zu werden allerdings gegenüber der "Clique", die allein zählt, peinlich wäre. "Der Rückzug" schildert einen Lebensweg mit vielen Niederlagen und seltener Erfüllung, doch einen Rückzug des Protagonisten auf sein Altersdasein in Würde.

Zentralthema ist durchgehend das Geschlechterverhältnis; von Liebe möchte man nur manchmal reden. "In der Oper" findet sich ein Ehepaar wieder; er hat ihr die Karten zum Geburtstag geschenkt und will sie aus der Lethargie aufrütteln, in der sie seit Monaten verharrt. Freilich kennt er nicht den Grund: dass ihr Liebhaber sie verlassen hat. Zudem hat er, verführt von günstigen Kritiken, mit Schostakowitschs "Lady Macbeth von Mzensk" ausgerechnet ein Werk gewählt, in dem es um Ehebruch und Gattenmord geht. Die Kunst befreit hier nicht, sondern potenziert das Bedrückende. Das wird gerade in jenen Passagen deutlich, die aus der Perspektive der Frau geschrieben sind; eine Perspektive, die Wellershoff in auffallend vielen der zehn Erzählungen wählt.

Das Begehren vereinzelt in seinen Texten Männer wie Frauen, zwingt sie, alle Kräfte anzuspannen. Die sexuelle Eroberung ist erreichbarer als ein Moment der Vertrautheit; und gerade, wo es ausnahmsweise gelingt, selbst begehrt zu werden, gilt es doch, in der Beobachtung des Anderen keinen Moment nachlässig zu werden. Der Kampf kann auch im Inneren einer Person geführt werden, so in "Episode", in der es um einen Mann geht, der schwankt: Soll er auf die Fremde warten, die ihm die Aufsicht über ihren Koffer anvertraut hat, und den Zug zu einem Philosophenkongress verpassen, auf den er doch nur als Watschenmann für die Stars des Fachs eingeladen ist? Die glückliche Lösung bietet das größtmögliche Unglück. Gerade noch rechtzeitig kommt die Frau, und alles wird so leer weitergehen wie bisher.

Es erscheint das Bild einer Gesellschaft ohne Grundlage. Wellershoffs Erzählungen haben nichts mit der reaktionären Lösung zu tun, Metaphysik und Sitte zurückzuwünschen - doch die Aufgabe, sich ohne jede Illusion mit sich selbst und mit den anderen einzurichten, scheint fast unerfüllbar. Die Gesellschaft, die Wellershoff schildert, ist genauer als Oberschicht zu kennzeichnen, ergänzt durch Vertreter von Wissenschaft und Kunst, die wirtschaftlich in prekären Verhältnissen leben, doch durch Bildung und Tageslauf sich den Reicheren anschließen. Jener Alte, dem "Der Rückzug" gelingt, ist immerhin noch gescheiterter Kunststudent und Buchhändler; in beschränkteren Verhältnissen lebt nur die Frau in "Wann kommt Walter?", die ihrer immer weiter in Demenz versinkenden Schwiegermutter jene Frage doch nicht beantworten kann, denn sie ahnt, dass ihr Mann nie wieder in die bedrückende Enge der kleinen Familie zurückkehren wird. Hier gebiert die Ohnmacht gerade die Allmachtsvorstellung, Walter als im Draußen Gescheiterten aufzunehmen und auf ewig fürsorglich zu erdrücken.

Eine solche Stillosigkeit ist in der kälteren Welt etwa des "Sommerfests" nicht denkbar. Hier besonders, aber auch in anderen Texten beschreibt Wellershoff die Arrangements einer besseren Gesellschaft. Im Detail ist der Realismus dabei etwas zu weit getrieben; nicht jede Einzelheit müsste man wissen, um das Geschehen sozial wie psychologisch zu verorten. So wohl kalkuliert und spannungsvoll der Aufbau aller Erzählungen ist - manchmal unterläuft Wellershoff ein Zuviel, wo ein karger Hinweis schon bekannte Vorstellungen hinreichend evoziert und dem eigentlichen Konflikt umso mehr Raum gelassen hätte.

Die besten Erzählungen sind darum die beiden kürzesten, die idealtypisch die Pole Distanz und Begehren markieren. "Das weiße Handtuch" beruht auf einer Viererkonstellation. Ein Ich belauscht ein Gespräch am Nebentisch; ein Paar streitet über den Kampf mit einem überlegenen Konkurrenten, in den der Mann verwickelt ist. Die Frau kann unmöglich den Mann zum Zurückweichen bewegen, ohne ihn zum Schwächeren zu erklären - was für ihn eine weitere Front bedeutet, an der er sich glaubt verteidigen zu müssen. Gekämpft wird mit Sprache und Sprachlosigkeit, bezeugt vom Ich, das erst allmählich das Gehörte mit optischen Eindrücken anreichern kann. Neugierde hält sich die Waage mit Distanz, derweil das Ich genussvoll isst und trinkt - ein Einverleiben, das Beglaubigung der Stärke auch für den Protagonisten der Titelerzählung ist.

Sind hier Kampfverstrickung, Zeugenschaft und sieghaftes Genießen prototypisch verschränkt, so überzeugt "Im Vorbeigehen" durch eine paradoxe Zeitstruktur. Gerade die kürzeste Erzählung dehnt einen Vorgang von wenigen Sekunden in eine Lebensgeschichte. Einem Mann kommt zufällig die frühere Geliebte entgegen. Die gemeinsame Vergangenheit, eine imaginierte Zukunft, eine leere oder erfüllte Gegenwart überschneiden sich und münden, als man wortlos aneinander vorbeigegangen ist, ins Nichts: "Ja, er war gewichtlos geworden. Gewichtlos, körperlos, unangreifbar. Die Gefahr oder die Chance oder was immer es gewesen sein mochte, war vorbei."

Unangreifbar: das möchten Kämpfende sein. Das erst ließe den Kampf sinnlos werden - und damit das Leben.

Titelbild

Dieter Wellershoff: Das normale Leben. Erzählungen.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005.
314 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-10: 3462036084

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