Vermüllte Welt
Jonathan Franzens Roman "Schweres Beben"
Von Alexandra Pontzen
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseSeit 2001, als Jonathan Franzens "Korrekturen", sein dritter, in den Vereinigten Staaten außergewöhnlich erfolgreicher Roman, in Deutschland veröffentlicht wurde, ist der amerikanische Romancier ein auch hierzulande bekannter und geschätzter Autor. Die bereits nach einem Jahr bei Rowohlt erschienene deutsche Übersetzung fand eine meist freundliche, mitunter sogar begeisterte Aufnahme. Die Neugier auf andere Werke des Autors wurde geweckt und zügig befriedigt. Noch 2002 erschienen ebenfalls bei Rowohlt die Essays "Anleitung zum Einsamsein", und 2003 brachte derselbe Verlag die Übersetzung von Franzens Erstling heraus, dem 1988 publizierten Roman "Die 27ste Stadt".
Nun wird "Schweres Beben", die Übersetzung seines zweiten, im Jahr 1992 veröffentlichten Romans "Strong Motion", nachgeschoben und soll an den Erfolg von "Korrekturen" anschließen. Die Hoffnung ist nicht unberechtigt: Wer "Korrekturen" gern gelesen hat, dürfte "Schweres Beben" nicht reizlos finden. Es enthält bereits einige Charaktere und Konstellationen, die in "Korrekturen" aufgegriffen und variiert werden. Beide Romane haben auch den Gegenwartsbezug und die überwältigende Stofffülle gemeinsam; diese wird jedoch in "Korrekturen" überzeugender gemeistert als im Vorläufer. Hier liest man auf fast 700 Seiten nicht nur einen Roman, vielmehr hat man den Eindruck, zwischen mehreren Romanen zu zappen, einem Kriminal-, einem Familien-, einem Liebes-, einem Entwicklungs- und einem Campusroman; sie sind teils zwanglos, teils recht notdürftig miteinander verknüpft.
Der Krimi beginnt damit, dass die Seismologin Renée Seitchek eine schockierende Entdeckung macht: Die Erdbeben, die seit einiger Zeit die nördliche Umgebung von Boston heimsuchen, sind größtenteils darauf zurückzuführen, dass ein großes Chemieunternehmen aus hemmungsloser Profitgier giftige Abwässer in ein mehrere tausend Meter tiefes Bohrloch entsorgt. Der mächtige Einfluss des Managements macht den Nachweis des Verbrechens fast unmöglich. Die nolens volens zur Amateurdetektivin avancierte Wissenschaftlerin erlebt Szenen, die an einen Hitchcock-Film erinnern. Schließlich wird sie Opfer eines Anschlags, den sie nur mit erheblichen Verletzungen überlebt. Die Aufklärung des Mordversuchs wird dadurch erschwert, dass der Verdacht vorerst auf eine fundamentalistische Sekte fällt, zu deren Angriffsziel Renée geworden ist, weil sie sich öffentlich zum Recht der Frau auf Schwangerschaftsunterbrechung bekannt und selbst abgetrieben hat. Am Ende jedoch werden die Schuldigen mit apokalyptischer Vehemenz entlarvt: Ein Erdbeben zerstört das Chemiewerk und verursacht dabei eine Umweltkatastrophe mit zahlreichen Toten. Das Management allerdings setzt sich in eine Bananenrepublik ab, wo es unbehelligt die Annehmlichkeiten des Lebens genießt.
Der Familienroman zeigt eine Familie aus dem Mittleren Westen, die auseinander driftet. Mutter und Tochter sind gesellschaftlich angepasste Egoistinnen, die ihre materiellen Interessen wahrzunehmen wissen. Vater und Sohn zeichnen sich durch Nonkonformismus und Gleichgültigkeit gegenüber finanziellen Belangen aus. Sie sind der sympathische Teil einer Familie, die kaum von dem sonst obligatorischen Vater-Sohn-Konflikt bedroht ist, wohl aber von einem Konflikt zwischen Sohn und Mutter. Diese erbt einen Teil der Aktien des kriminellen Chemieunternehmens, und so wird die Brücke zwischen Familienroman und Kriminalroman geschlagen. Der Sohn Louis liebt Renée, was zum Liebesroman hinüberleitet.
Die Liebe zwischen den beiden gestaltet sich schwierig. Renées Sexualität ist ein Gemisch aus widersprüchlichen Ingredienzien: ein bisschen Homosexualität, ein bisschen Masochismus, ein bisschen Feminismus und zudem der Wunsch nach einem Kind von dem geliebten Mann. Außerdem ist sie mehrere Jahre älter als Louis. Er kann sich nicht freimachen von dem Verlangen nach einer jüngeren, weiblicheren und körperlich attraktiveren Frau, die er einmal kennen gelernt hat und die unerwartet wieder auftaucht. Darauf bricht die zutiefst verletzte Renée mit ihm. Er muss erneut um sie werben, nachdem die andere Frau, das nur scheinbar geeignetere Lustobjekt, ihn zum Narren gehalten hat. Als Außenseiter und problematische Naturen gehören Renée und Louis zusammen, ohne dass diese Zusammengehörigkeit Harmonie verbürgt.
Der Entwicklungsroman führt vor, wie aus dem Einzelgänger Louis, dessen Charakter durch einen nicht genau zu bestimmenden, fast existenziellen Kummer geprägt zu sein scheint und der auf seine Mitmenschen und besonders auf seine Familie trotzig und aggressiv reagiert, ein milder und versöhnlicher Mensch wird, der sich in die Gesellschaft zu integrieren beginnt. Wie bei Chip in "Korrekturen", mit dem er unverkennbare Ähnlichkeit hat, wächst in ihm in fast wunderbarer Weise die Bereitschaft, sich und sein Leben zu korrigieren.
Der Campusroman spielt in einem geologischen Institut der Harvard-Universität, besonders in dem dortigen Computerraum, wo Nachwuchswissenschaftler nicht gerade einträchtig ihren Forschungen nachgehen. Neben Renée ist ein satirisch gezeichneter anglisierter Chinese aus Taipeh von größerem Interesse. Er ist nicht ohne Fähigkeiten, aber faul und charakterlich oberflächlich. Dass Renée ihn eine Zeit lang zum Liebhaber nimmt, mag in ihrer facettenreichen Sexualität begründet liegen, wirkt jedoch ungereimt. Überhaupt gibt es nur wenige konsequent gestaltete Charaktere. Die meisten sind widerspruchsvoll. Ihre Inkommensurabilität mag einerseits realistisch sein, da auch in der Lebenswirklichkeit die Psyche von Personen nicht ohne weiteres auf einen Begriff zu bringen ist; doch andererseits regt sich der Verdacht, dass die Widersprüchlichkeit nicht psychologischer Erfahrung geschuldet ist, sondern der Planlosigkeit des Erzählers.
In der zweiten Romanhälfte treten weitere Figuren in den Vordergrund: Unter ihnen ein Sektenprediger, der als literarische Gestalt deswegen überzeugt, weil Franzen nicht der Versuchung erliegt, ihn zur Karikatur zu verzerren, und ein Geschäftsmann, der in eine verarmte vornehme Bostoner Familie einheiratet und sich wegen erlittener Demütigung an ihr rächt. Am eigenwilligsten ist der Einschub, der von einem Waschbären erzählt, aus dessen Perspektive die vermüllte Welt erlebt wird.
Trotz seiner divergierenden Vielfalt hat der Roman ein durchgehendes Thema, die Umweltzerstörung. Ein historischer Exkurs geht zurück bis in die Zeit der Besitznahme Neuenglands durch die Weißen und auf die damit beginnende Zerstörung eines Paradieses. Vereinfacht: Im 17. Jahrhundert nahm seinen Anfang, was mit den kriminellen Machenschaften eines Chemieunternehmens um 1990 endet. Auch im unsensationellen Alltag wird der Blick immer wieder darauf gelenkt, wie sehr die Abfälle der Industriegesellschaft die Welt verschandeln. Aufzählungen von weggeworfenen hässlichen Gegenständen durchziehen den Text, je drastischer, desto wirkungsvoller: "Am Wegrand lag eine hellblaue Kloschüssel, komplett mit Spültank, aber alles andere als gespült." Blutverschmierte Tampons werden nicht übersehen und inspirieren zudem einen unappetitlichen Vergleich: "ein Stück eines Hamburgerbrötchens, das mit Ketchup voll gesogen war, wie ein Tampon". Es ist ein Leitmotiv, dass Louis und Renée Übelkeit empfinden und sich mehrfach übergeben müssen: die sinnbildlich zu interpretierende Reaktion sensibler Menschen auf die äußere und moralische Ekelhaftigkeit der sie umgebenden Welt. Freilich ist Franzen ein Manierist, der mit außergewöhnlichen Metaphern auch dann gern verblüfft, wenn sie keinen direkten Bezug zum Gehalt haben. Louis und Renée küssen sich zum ersten Mal: "Sie ließ ihn geradewegs ins warme Vestibül ihres Mundes marschieren. Es mochte ein Weg von einer Minute gewesen sein, um von der schmelzbewehrten Rille zwischen ihren Schneidezähnen zu einer der nachgiebigen Sackgassen zu gelangen, in denen ihre Lippen endeten; eine Reise von einer Stunde bis in die Tiefen ihrer Kehle." Hier wie anderswo stellt sich die Frage, ob die Elaboriertheit Anerkennung verdient oder ob das Bemühen um Originalität Gefahr läuft, Stilblüten zu zeitigen.
Ästhetisches Unbehagen bereitet das Ende des Romans. Fast alle Protagonisten läutern sich und schließen Frieden miteinander und mit der Welt. Das Happy End ist so unzulänglich motiviert, dass man glauben möchte, dem Erzähler sei es damit nicht sonderlich ernst und er spiele ironisch mit den überlieferten Mitteln, einen Roman abzuschließen. Eines dieser Mittel ist die Hochzeit, laut Peter von Matt in der Literatur die Chiffre für die Versöhnung des individuellen Triebs mit der allgemeinen Ordnung. Am Ende von "Großes Beben" stehen drei Hochzeiten: Louis' Schwester heiratet den moralisch intakt gebliebenen Sohn eines Managers des Chemiebetriebs, der chinesischstämmige Seismologe eine Landsmännin und ein kaum in Erscheinung getretener Rundfunkbetreiber eine Dame, die erst kurz vor Schluss eingeführt wird. Besonders die letzten beiden Hochzeiten haben so wenig mit dem vorausgegangenen Geschehen zu tun, dass sie kaum anders denn als ironisches Zitat üblicher Romanschlüsse verstanden werden können. Dagegen scheint dem Erzähler das Paar, das im Mittelpunkt steht, also Renée und Louis, zu wichtig, als dass er es durch eine überstürzte Hochzeit der Unglaubwürdigkeit ausliefern möchte. Es muss sich mit der Hoffnung auf eine vielleicht harmonische Zukunft begnügen.
Die Schwierigkeit, zu einem runden Ende zu kommen, ist ein Einzelbeispiel für die im ganzen Roman spürbaren Schwierigkeiten, einen überbordenden Stoff zu bändigen. Mancher Einfall und manches Detail wären verzichtbar. Doch solche Kritik ist zwiespältig; denn nicht zuletzt imponiert der Roman durch seine üppig wuchernde Fülle. Die Üppigkeit mag ein Zeichen für Mangel an Formwillen sein, sie bezeugt aber auch einen beneidenswerten Reichtum. Angesichts der in der deutschen Literatur herrschenden Vorliebe für sorgsam gebosselte Texte, in die wenig Wirklichkeit Eingang findet, sollten als Gegengewicht die Übersetzungen von Franzens Romane willkommen sein.
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