Figuren verlieren die Konturen
Zsuzsa Bánks Erzählungen "Heißester Sommer"
Von Peter Mohr
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseBeim Betrachten unscharfer Fotos erklärt eine junge Frau, dass dies kein Wunder sei, denn ihr Gegenüber hätte "die Konturen verloren". Verschwommene Figuren sind das zentrale Thema in den elf Erzählungen von Zsuzsa Bánk, die vor drei Jahren für ihr Romandebüt "Der Schwimmer" den Aspekte-Literaturpreis erhalten hatte.
Ein biografisches Trauma, eine Kindheitsobsession scheint der 40-jährigen Autorin die Feder zu führen: "Mich treiben Gedanken in die Verzweiflung, in eine dauerhafte Lebensmelancholie, eine Grundangst, und dann wieder in eine Grollhaltung." Als Kind wurde sie von der Mutter verlassen und fiel in ein tiefes emotionales Loch. Dieses schreckliche Gefühl hinterließ eine "seelische Wunde", die bis heute nicht vernarbt ist.
Um Abschiede, um selbstgewähltes oder unfreiwilliges Alleinsein und gewaltige Zäsuren geht es in allen Texten. Das liest sich so, als habe Zsuzsa Bánk ihren Roman um einige Kapitel fortgeschrieben. Auch der Tonfall ist beinahe identisch, leise und distanziert, im sanften Fluss eines literarischen Largos.
Die Figuren leben "mitten im nirgendwo", und dort herrscht von Oktober bis April "Eiszeit". Verstörende Panoramen stürzen auf den Leser ein, Beziehungen gehen abrupt zu Ende oder deren Finale wird herbeigesehnt. Eine junge Frau namens Becky hoffte, dass er "wegbleibt, als sei er nie da gewesen, und sie sagt es in einem Ton, in dem sie genausogut sagen könnte, nimm doch noch Tee." Wahrhaftige Gefühle sucht man in diesen elf Erzählungen vergeblich. Der Handlungskosmos ist kalt und leer, Partys werden zu verschwommenen Zeitlupensequenzen, und die Figuren erstarren in einer bleiernen Melancholie. Sie gehen fort, brechen (wie der koksende, übergewichtige Poet) gekränkt die Zelte ihrer Beziehung ab und verlieren sich ziellos im Nebel des gefühlslosen Alltags-Labyrinths. Die Aufbrüche erweisen sich zumeist als Irrwege, so auch in der Titelgeschichte "Heißester Sommer", in der eine Frau unvermittelt ihren Hof verlässt, um irgendwo in der Fremde ihr Glück zu finden.
Diese Erzählungen erfordern vom Leser ein gehöriges (Mit-) Leidenspotenzial. Die evozierte Atmosphäre schlägt aufs Gemüt wie ein nebliger Novembertag. Körperliches und seelisches Leid der Figuren fühlbar machen - das kann nur große Literatur leisten. Zsuzsa Bánks facettenreiche und schmerzhafte Abschiedsszenarien haben dies geschafft.
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