Phoenix aus der Asche

Zur erweiterten Neuauflage von Rolf Dieter Brinkmanns "Westwärts 1 & 2. Gedichte"

Von Thilo RissingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thilo Rissing

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als in den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts die Bücher von Rolf Dieter Brinkmann erschienen, wurde der noch junge Autor von der Literaturkritik und seinen Kollegen als "shooting star" der deutschen Nachkriegsliteratur gefeiert. Nach seinem frühen Unfalltod im Alter von 35 Jahren verebbte die Welle der Begeisterung jedoch. Umso erfreulicher, dass sich nun der Rowohlt Verlag ein Herz gefasst hat und Brinkmanns Hauptwerke neu auflegt. Insbesondere die Wiederveröffentlichung des Gedichtbands "Westwärts 1&2. Gedichte", der jetzt zum ersten Mal in vollem Umfang sowie mit zusätzlichen Gedichten und einem beeindruckenden Nachwort vorliegt, beweist das Schreibtalent Brinkmanns, der in seinen Gedichten persönliche Erfahrungen mit Ortsbeschreibungen, gesellschaftlichen Analysen, Sozialkritik und Milieustudien verbindet.

Am Anfang und Ende des Buchs befinden sich mehrere Seiten mit Schwarz-Weiß-Fotografien, die Brinkmann selbst schnappschussartig jeweils dort gemacht hat, wo er die Atmosphäre seines Aufenthaltsorts als festhaltenswert empfand. Diese Fotografien korrespondieren mit einigen der im Band enthaltenen "Augenblicksgedichte", die gleichfalls auf minuziöse Weise die Stimmung eines Orts einzufangen suchen. Auf den Aufnahmen befinden sich Bilder von Straßen, Kreuzungen, Bäumen, Plätzen und Häusern, die durch die Wahl des jeweiligen Bildausschnitts, durch Verschwommenheit und durch die verdichtete Zusammenstellung von zwölf Fotografien auf einer Doppelseite den Eindruck von Spontaneität und Direktheit vermitteln.

Schon die kurze Vorbemerkung Brinkmanns macht deutlich, dass es ihm in seinen Gedichten neben ästhetischen Anliegen auch um eine Auseinandersetzung mit den ökonomisch-sozialen Mechanismen der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft geht. Wiederaufbau und Fortschrittsdenken, Gewinnstreben und "protestantische Ethik" bilden in ihrem Zusammenwirken ein seiner Ansicht nach lyrikfeindliches Milieu, weil nur dem Wert zugesprochen wird, das auch ökonomisch produktiv zu sein verspricht. Wie schon Walter Benjamin, so erkennt auch Brinkmann in der Tendenz, dass es immer so weiter geht, die eigentliche Katastrophe, da mit der ungebrochenen Kontinuität dessen, was ist, Oberflächlichkeit, Sinnleere, Konsum und Zerstörung einhergehen. "Die Geschichtenerzähler machen weiter, die Autoindustrie macht weiter, die Arbeiter machen weiter, die Regierungen machen weiter, die Rock'n'Roll-Sänger machen weiter, die Preise machen weiter, das Papier macht weiter [...]. Es ist Samstagnachmittag, es ist Sonntag, es ist Montag, es ist Dienstagmorgen, es ist Mittwoch, es ist Donnerstag, es ist Freitagnachmittag, es ist Samstag und Sonntag."

Durch die funktionalen, immergleichen Abläufe bleibt alles unhinterfragt. Brinkmann versucht, mit seinen Gedichten gegen diese Glasglocke der abgestumpften Unreflektiertheit anzukämpfen, indem er durch Orts- und Stimmungsgedichte, durch provokant-rebellische Liedgedichte und dadaistisch geprägte Sprachrätsel die Sprache aus ihrer kommunikativ-gleichmachenden und durch die Massenmedien forcierten Verzweckung herauszulösen trachtet. In diesem Sinne führt Brinkmann in "Ein Gedicht" alle Themen, Inhalte und Gefühle an, die dem Vorverständnis eines Publikums entsprechen, das in der Lyrik ein Mittel zur "Verhübschung" des tristen Alltags sieht, unterläuft aber zugleich durch Verneinung diese Erwartungshaltung und bricht die negative Aufzählung schließlich nach 24 Strophen abrupt ab: "Hier steht ein Gedicht ohne Helden. In diesem Gedicht gibt es keine Bäume. Kein Zimmer zum Hineingehen und Schlafen ist hier in dem Gedicht. [...] Es ist nicht Montag, Samstag und Sonntag hier in dem Gedicht. Das Gedicht hier ist nicht die Verneinung von Montag oder Donnerstag. Das Gedicht hört hier einfach auf."

In den Gedichten wird deutlich, dass dem Lyriker Brinkmann im Nachkriegsdeutschland des Wiederaufbaus und Wirtschaftswunders die Luft zum Atmen fehlte. Die ständigen Existenznöte, das andauernde Betteln um finanzielle Unterstützung schlug sich in der ätzenden Sozialkritik seiner Texte nieder. Insbesondere die Omnipräsenz von Profitmaximierung und Konsumsteigerung bilden seinen Hauptkritikpunkt, weil durch die Dominanz dieser materiellen Ausrichtung all das negiert wird, was sich diesem Diktat nicht unterwirft, wie Dichtung, Träume, Natur, Freundschaft und Liebe. Exemplarisch heißt es dazu in "Drei einfache Variationen über ein Thema", das mit dem Motto von Wallace Stevens "money is a kind of poetry" überschrieben ist: "Als ob der Morgen, eingefasst von staubigen Rändern, hinter jedem zuklappt: Straßen, die Abflussrinnen für Gesichter, die ich alle nicht kenne. Sie kosten nicht viel, in Gang gehalten zu werden durch Geld, obwohl sie verschieden sind wie Wechselgeld, das nicht zählt, genauso abgegriffen und traurig, zum Lachen, Kalendertage an den Wänden, eine Zärtlichkeit zu erwischen, die nicht die Zärtlichkeit zählt. Ich berühre einige von ihnen, und sie erschrecken. Überall ist Montag zu verkaufen, wie immer Montag ist." Und im selben Gedicht heißt es zum Schluss: "Ich sehe, die träumen ihn nicht mehr. Sie träumen den staatlichen Traum Geld, während eine richtige Sonne scheint und ein weißer Fensterrahmen auf der anderen Straßenseite aufleuchtet."

Brinkmann schreibt sich hier in eine kapitalismuskritische Lyrik-Tradition ein, die mit Charles Baudelaire ihren Anfang nahm. Von seiner Lebenswelt entfremdet, wird der Dichter zum "Ethnologen seiner eigenen Kultur" (Michel Foucault): Er beobachtet die Passanten, versucht die Gesetze ihres scheinbar irrationalen Verhaltens zu entschlüsseln. Die wahren Bedürfnisse nach Sinn, Zusammenleben und Gespräch werden durch oberflächliche Wunschprojektionen, durch Konsum, Mobilität und Fassade ersetzt. "Ich dachte, wie oft habe ich an Geld gedacht, verrückt, in Panik, kein Geld zu haben, der Schein, der flattert, im Kopf die Schatten der Dinge." Mit "Schein" spielt Brinkmann auf die doppelte Bedeutung von Geld und Projektion an, indem er die vom Markt hervorgebrachten Bedürfnisse als käuflich und zugleich als "Schatten" entlarvt. Für Lyrik, die auf ihrer Autonomie als Kunst besteht, ist in einer materiell ausgerichteten Gesellschaft wenig Platz, und so bemerkt Brinkmann im Nachwort: "Was hat das mit Gedichten zu tun? Nichts, und das spricht für Gedichte. Ist das das Motiv für den immer wiederkehrenden Hass auf Gedichte? Hier, wo jeder zu einem Sozialfall gemacht werden soll, wo jeder Dichter als Sozialfall behandelt wird, ausgeliefert einem allgemeinen Wohlwollen, einer Nützlichkeit, ausgeliefert dem vorgedruckten Verständnis, das in den Redaktionen der Massenmedien sitzt, Freizeithemd an, einige lumpige Versatzstücke von Verständnis im Kopf, ausgeliefert einer Angestelltenmentalität, ausgeliefert den Rätselherstellern, Kalenderfabrikanten, ausgeliefert den Zweitsystemen in den viehlologischen Abteilungen, ausgeliefert den öffentlichen Images, ausgeliefert den erstarrten Stilisierungen, ausgeliefert, wieso ruft die Unbrauchbarkeit von Gedichten soviel Ablehnung, Wut, Hass, Verfolgung hervor? In einem Gebiet, in dem das Sprechen von installierten Kontrollmaschinen, den Massenmedien, bezogen wird, in dem an jedem Tag die grausten, farblosesten Vorstellungen gesammelt und wiedergegeben werden, scheint nur 'logisch', dass diese Art Zerstörung des Sprechens, des Ausdrucks betrieben wird."

Aus der Außenperspektive zeigt sich für Brinkmann "der miese Atem der gegenwärtigen Gesellschaft", in der seiner Ansicht nach alles getan wird, um die Menschen in eine Melange aus Bedürfnissen und oberflächlichen Geschmacksfragen zu verwickeln, für die "Leben als eine Frage der richtigen Modefarbe" erscheint. Der Künstler zerbricht an der "Ziviehlisation", deren Institutionen laut Brinkmann nur darauf aus sind, die Menschen sprachlich-kommunikativ gleichzuschalten, zu kontrollieren und dem "Allgemeingefühl" einzupassen. In ihrer Sterilität und grauen Monotonie verkommen dabei die Städte zu einem menschenfeindlichen Raum ("Die verschiedenen Gegenden sind zerträumt, ausgeträumt, mit vielen zerträumten Menschen darin."), der außerhalb der Ladenöffnungszeiten seine ganze abgestorbene "Kulissenhaftigkeit" offenbart: "Es ist Samstag, früh am Nachmittag im August, die Stadt ringsum ist abgestorben, das Gespenstische der Straßen und Bauten kommt nun deutlich zum Vorschein, da die Läden und Geschäfte geschlossen sind, die Hausfronten verstaubt, die Trottoirs von Hunden verkotet, schwarze große Ölflecken darauf, einige erschöpfte Bäume, farbloses Blattgrün, manche Äste schon blattlos, [...] einige Fenster sind die Straße entlang geöffnet, später erscheinen darin Gesichter, überaltert, blicklos und mumienhaft traurig. Jedesmal paralysiert die Umgebung zum Wochenende." Oder an anderer Stelle: "[...] trostloser Samstagabend in Westdeutschen Großstädten, die breiten Straßen, den Fußgängern vorbehalten, damit sie besser kaufen können, aber nicht zum Schlendern gemacht, Betonplatten, ein moderner Springbrunnen vor dem Kaufhaus oder eine moderne Plastik, etwas Volkstümliches [...], leer, bis auf die Polizeipatrouille im Volkswagen: - Polizeistunde, Volkswagen, Eisbein, Wochenende." Diese allein durch den Wunsch nach Konsum in Gang gehaltene Gesellschaft verkörpert für Brinkmann eine "Metaphysik des Plastik", die aufgrund ihrer Oberflächlichkeit die darunter liegende Sinnleere nur mühsam überdecken kann: "Lange, graue Warteräume sind die Tage, und die ausgeräuberten Träume setzen sich als elektrisch ausgeleuchtete Supermärkte fort!"

Dieser menschenfeindlichen Umgebung hält Brinkmann seine Gedichte entgegen. Oft sind es die kleinen, unscheinbar-alltäglichen Dinge, die in seinen Gedichten eine Gegenwelt beschreiben: "Ein Glas frisches Wasser", "Schattenmorellen", die in der Sonne liegende Katze oder Rocksongs. Aus dem Aufgreifen solcher scheinbar nebensächlicher Aspekte entwickelt Brinkmann seine Gedichte: "Und neue Gedichte: aus Brieffetzen, Bruchstücken von Unterhaltungen, die ich hörte oder daran ich selber beteiligt gewesen, Lücken in den Gedichten, Sprünge, Gedichte ohne den Vorsatz, ein Gedicht zu schreiben, Gedichte 'ohne Motive', Augenblicksgedichte, ich setze mich hin, gehe von einem Eindruck aus, frage mich dann, wie weiter, lehne mich zurück, nächster Satz, verlorenes Erinnerungsbild, das vorbeizieht auf meinem Bewusstseinsbildschirm, plötzlich Mondlicht, vom Fenster aus gesehen, in einem Baugerüst, das alte etwas sentimentale Bild, warum nicht, wer verbietet das, Gegenwart, die ich jäh, mit einem Stoß spüre, wie weiter, hier in dem Gedicht, das ich gerade schreibe, nein, keine Erklärungen abgeben, plötzliche Erleuchtungen, was immer das ist [...]."

Gegen die geschäftige Hektik seiner Umgebung pflegt Brinkmann das Innehalten, das Offensein für plötzliche Einfälle und Assoziationen. Seine Beobachtungsgabe lässt ihn vieles entdecken, was er in seinen "Augenblicksgedichten" einzufangen sucht. Oft sind das Dinge, die von anderen als hässlich gemieden werden, z. B. das Gras zwischen den Steinplatten der Gehwege, die verwilderten, unbebauten Trümmergrundstücke, der in der Hitze des Sommers klebrige Teer, die verharschte Wiese im winterlichen Frost. So verwundert es nicht, dass ihm ein im Herbst herabfallendes Blatt mehr lyrische Anregung bietet als die Schaufensterauslagen und Reklamewände der Geschäftsstraßen. "Ich springe über den Schatten: die Betrachtung des einzelnen Blatts, das langsam, mit viel Zeit, abgerissen vom Ast, von einem Baum da herunterfällt, schwebend, dauert lange, hält an, in der Luft, ein fast schwereloses Flirren, exakt, in einem anderen Zeitraum, mit einem anderen Zeitmaß, wenn da überhaupt ein Zeitmaß ist, gegenwärtig und den anderen Zeitraum sichtbar machend im empfindlichen Bewusstsein, feines Dunkel der Helligkeit, feines Hell der Dunkelheit und anders, präzise, jetzt, deutlicher hier als die rote Neonlichtuhr von Boschlicht über dem Eingang des Kaufhauses, deutlicher als der Temperaturanzeiger von CocaCola auf der anderen Straßenseite, deutlicher als das dunkle Reisebüro darunter, wo die Prospekte fremder, anderer Orte liegen, Reklamen, An und Abflugzeiten, Preise, Apartments, Flugsand, Straßen, Gras, in diesem Augenblick, während man schaut, hier, in der Gegenwart, darin, lebendig, jetzt."

Die Gedichte und das Nachwort in "Westwärts 1&2" verdeutlichen insgesamt, über was für ein Talent Rolf Dieter Brinkmann verfügte. Immer wieder gelingt es ihm, Situationen, Plätze, Gefühle und Stimmungen mit wenigen Worten spürbar und nachvollziehbar zu machen. Viele seiner Gedichte sind dabei mit Wut im Bauch geschrieben: Wut über mangelnde Anerkennung seitens der Gesellschaft, aber auch aus der Erkenntnis heraus, dass mit dem Nachkriegsdeutschland, dem er sich entfremdet fühlte, vieles im Argen lag. Deshalb zum Schluss hier seine Utopie einer anderen westdeutschen Wirklichkeit: "Ich stelle mir eine Stadt vor ohne Reklamewände, ich stelle mir eine Stadt vor, in der nur einmal die Woche eine Zeitung erscheint, soviel Neuigkeiten gibt's ja gar nicht. Ich stelle mir eine Stadt vor ohne Illustrierten, ich stelle mir eine Stadt vor, in der die täglichen Nachrichten im Radio und im TV ausfallen [...]. Ich stelle mir eine Stadt vor, ohne die miesen Namen in Neonschriften an den Hauswänden, ich stelle mir eine Stadt vor, ohne dass die Seitenstraßen mit Wagen vollgestellt sind. Ich stelle mir eine Stadt vor ohne Verkehr (etwa so wie an den Sonntagen in dem Winter, als die sogenannte Energiekrise, die schäbige Erfindung zur Verteuerung von Waren, 'durchgeführt' wurde, ich hörte wieder die Schritte von Menschen auf der Straße und das Sprechen auf der Straße). [...] Ich stelle mir eine Stadt mit schattigen Bäumen und stillen Boulevards vor. Ich stelle mir eine Stadt mit Dichterlesungen vor, Wandzeitungen mit Gedichten, Gedichte, die an Haltestellen morgens verteilt werden statt der Schmierzeitungen, sie hätten eine andere Wirkung [...]. Ich stelle mir eine Stadt vor ohne den Fraß, der an allen Ecken verhökert wird."

(vgl. literaturkritik.de 06/1999)


Titelbild

Rolf Dieter Brinkmann: Westwärts 1 & 2. Gedichte.Mit Fotos und Anmerkungen des Autors. Erweiterte Neuausgabe.
Herausgegeben von Maleen Brinkmann und Delf Schmidt.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2005.
335 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-10: 3498005286

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