Erinnerung und Schuld

Paul Ricœurs Rückruf in die Geschichte

Von Christian LotzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Lotz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts wurde mehrfach das Ende der Geschichtsphilosophie verkündet, und dem folgten Versuche, die menschlichen erfahrungen von Geschichte selbst als Kategorie menschlicher Erfahrung als etwas Vergangenes zu betrachten. Postmoderne Visionen riefen in einem ersten Schritt die "Posthistoire" und schließlich das "Ende der Geschichte" aus. In den neuesten, von Andris Breitling und Henrik Richard Lesaar übersetzten Beiträgen des französischen Philosophen Paul Ricœur kann man lernen, daß Geschichte so lebendig ist wie immer. Wer sie für tot erklärt, so läßt sich die Botschaft von Ricœur zusammenfassen, hat sich selbst nicht verstanden. Geschichte gehört zur menschlichen Existenz, und ohne sie fehlt dem Menschen die lebendige Form der Selbstthematisierung. Geschichte hat in sich eine reflexive Struktur. Dieser Selbstbezug ist nur deshalb möglich, weil der Ort der Geschichte nach Ricœur in der "Erinnerung" zu suchen ist. Im Anschluß an Edmund Husserl, Martin Heidegger und Sigmund Freud bestimmt Ricœur die Frage nach der lebendigen Geschichte zunächst als eine Frage nach der Erinnerung. In einem zweiten Schritt bindet er diese an moralische Kategorien zurück: Schuld und Verzeihen stellt Ricœur nun als Zentralkategorien seiner Überlegungen zur Geschichtsphilosophie heraus. Man kann seine Gedanken anhand der beiden kurzen, aber prägnanten Beiträge studieren, die den gemeinsamen Haupttitel "Das Rätsel der Vergangenheit" tragen. Sie sind Ausarbeitungen von Vorträgen Ricœurs aus den Jahren 1996 und 1997. Ein weiterer kurzer Essay im Kontext dieser Thematik findet sich unter dem Titel "Vielfältige Fremdheit" in einem kleinen Sammelband zum Thema "Fremdheit" innerhalb der Schriftenreihe des Humboldt-Studienzentrums. 1998 war Ricœur Gastprofessor am Studienzentrum für Philosophie und Geisteswissenschaften in Ulm.

Erinnerung kann nach Ricœur zweifach bestimmt sein. Die erste Möglichkeit, sie repräsentations- und zeichentheoretisch zu definieren, bleibt an der Oberfläche. Hier geht es um die Frage, wie etwas durch anderes vergegenwärtigt werden, wie sich eine Spur, ein Abdruck oder eine Ähnlichkeit zwischen Gegenwart und Vergangenheit einschieben kann. Diese Theorie der Erinnerung ist zeichentheoretisch orientiert und verfängt sich nach Ricœur in der "Aporie des Ikons", die darin besteht, daß das tertium comparationis dafür fehlt, eine falsche von einer richtigen Erinnerung zu unterscheiden, eine Ähnlichkeit zwischen dem gegenwärtigen Bild und dem vergangenen Abbild herzustellen oder einen Verweis zwischen Spur (Erinnerung) und Original (Erinnertes) zu finden. Die zweite Weise der Bestimmung von Erinnerung ist eine moralische: "man muß", fordert Ricœur, "die Spur vom Zeugnis her denken, nicht umgekehrt". Das Rätsel eines Ähnlichkeitsverhältnisses zwischen etwas, das ist, und etwas, das gewesen und somit nicht mehr ist, stellt sich aus einer nicht (zeichen-)theoretisch orientierten Perspektive als ein Verhältnis des "Vertrauens" und der "Wahrhaftigkeit" dar. Dieses - am Zeugnis orientierte - Geschichtsverständnis wird vom Autor in seinen Grundstrukturen dargelegt. Der Zeuge kommt ins Spiel, weil Geschichte "erzählt" werden muß von einem, der an ihr teilgenommen hat. So transformiert sich das Abbildverhältnis zwischen Gegenwart und Vergangenheit in ein "Treueverhältnis". Ein Abbild kann den Ausführungen zufolge nur deshalb Abbild werden, weil derjenige, der Geschichte schreibt und erzählt, dem Zeugnis treu sein will. Erinnerung hat mit "Verläßlichkeit", "Glaubwürdigkeit", aber auch mit dem damit möglicherweise verbundenen "Verdacht" zu tun. Die theoretischen Begriffe wandeln sich in moralische. Ricœur meint schließlich, daß die "Frage nach der Wahrheit [...] tatsächlich zur Frage nach der Wahrhaftigkeit geworden" ist. Diese Frage projiziert Ricœur auf diejenige Last, die Geschichte uns aufbürdet: die Schuld.

Der Verschiebung, die Ricœur an einem theoretischen Verständnis von Erinnerung vornimmt, entspringt schließlich auch das Verhältnis von belastender Schuld und befreiendem Verzeihen: "Die Schuld ist die Last, welche die Vergangenheit der Zukunft aufbürdet. Das Verzeihen möchte diese Last leichter machen. Zunächst aber lastet diese Last. Und zwar belastet sie die Zukunft. Die Schuld verpflichtet. Wenn es eine Pflicht, sich zu erinnern, gibt, dann umwillen der Schuld, die das Gedächtnis, indem sie es zur Zukunft hin umwendet, im wahrsten Sinne des Wortes in die Zukunft setzt, ins Futur: Du wirst Dich erinnern!". Mit solchen Überlegungen reihen sich die Reflexionen des französischen Hermeneutikers nicht nur in aktuelle Debatten der Kulturwissenschaften um Erinnerungspolitik und Erinnerungskultur ein, sondern stechen aufgrund ihrer philosophischen Prägnanz heraus.

Das Verzeihen versucht Ricœur einerseits von einem "leichten Verzeihen" und andererseits von der Gnade loszulösen und an den in der neueren Diskussion zentralen Begriff der Gabe heranzurücken. Das Verzeihen kann nicht von der Schuld befreien, obwohl es ein Versuch des "aktiven Vergessens" ist. In der Verzeihung geht es, den Thesen Ricœurs zufolge, nicht um die Auslöschung von Schuld. Die Gabe des Verzeihens, die nicht der Logik eines Tauschverhältnisses gehorcht, eröffnet die Möglichkeit eines "schweren Verzeihens", durch das das Nichtwiedergutzumachende nicht ausgelöscht, aber durch Umwendung in die Zukunft überholt wird, nämlich dann, wenn "die 'Vergangenheit, die nicht vergehen will' - aufhört, die Gegenwart zu verfolgen".

Ricœur fordert "ein neues Verhältnis zur Schuld, zum Verlust". Auch die Trauerarbeit, die dem Verlustgeschehen der Geschichtlichkeit entspringt, kann keine Schuld nehmen. Trotzdem geht es nach Ricœur im Anschluß an Freud in der Erinnerung um eine "Therapeutik des verletzten Gedächtnisses", die nicht nur aufgrund libidinöser Verluste, sondern auch aufgrund politischer Versuche der gewaltsamen Auslöschung von Erinnerung und Gedächtnis erforderlich wird. Aus ihr entspringt demzufolge auch die Möglichkeit einer kritischen Historie und einer "Kultur eines gerechten Gedächtnisses", welche die durch Verlust und Gewalt erfahrene Zeitlichkeit, die in der Differenz von Gegenwart und Vergangenheit liegt, ausgleichen kann. Mittels einer offenen Geschichtsschreibung, so das Fazit, werde es Nationen möglich, verdrängte Versprechen und Schuld aufzuarbeiten. Ob Ricœur mit diesen Bestimmungen den Bogen nicht überspannt und Geschichtsschreibung überlastet, bleibt eine der offenen Fragen seiner Überlegungen.

Ricœur stellt das Thema Geschichte in seinen inhaltlich dichten und stilistisch eleganten Essays als das zentrale Thema der Auseinandersetzung unserer selbst mit uns selbst dar. Diese Auseinandersetzung konstituiert, wie es in einer früheren Publikation heißt, nicht die abstrakte idem-Identität (Ich) von Individuen, sondern konstituiert eine ipse-Identität (Selbst) und gehört in eine "Hermeneutik des Selbst", wie er sie in seinem Werk "Das Selbst als ein Anderer" entworfen hat.

Im Zusammenhang damit steht auch Ricœurs Aufsatz "Vielfältige Fremdheit". Auch hier geht es um die zentralen Themen der Trauerarbeit und der Erinnerung im Zusammenhang mit der Erfahrung des Fremden. Im Ausgang vom Erleiden, das die passive Seite des Selbst bildet, schreibt sich das Gedächtnis und die Erinnerung in diejenige Differenz von Gegenwart und Vergangenheit ein, die uns uns selbst fremd werden läßt. Verglichen mit der sonstigen Qualität des von Burkhard Liebsch hervorragend eingeleiteten Band über das Erinnern und die Geschichte enttäuscht Ricœurs Beitrag. Er findet zu keinen Antworten und läßt keinen roten Faden erkennen.

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Renate Breuninger (Hg.): Andersheit - Fremdheit - Toleranz. Mit Beiträgen von Paul Ricœur, Bernhard Waldenfels und Peter Welsen. Bausteine zur Philosophie.
Humboldt Studienzentrum, Ulm 1999.
76 Seiten, 7,60 EUR.
ISBN-10: 3928579134

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Titelbild

Paul Ricoeur: Das Rätsel der Vergangenheit. Übersetzt von Andris Breitling und Henrik Richard Lesaar.
Wallstein Verlag, Göttingen 1999.
160 Seiten, 14,30 EUR.
ISBN-10: 3892443335

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