Linguist aus Leidenschaft

Roman Jakobsons futuristische Jahre

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auf die Frage: "Sie sprechen und schreiben in so vielen Sprachen. Sie haben in so vielen Ländern gearbeitet, gelehrt und gelebt. Wer sind Sie eigentlich?" hat Roman Jakobson einmal entgegnet: "Ein russischer Philolog. Punkt."

Wie prägend die Jugendjahre in Russland für Jakobsons Werdegang zu einem der bedeutendsten Sprachwissenschaftler des Jahrhunderts waren, zeigen seine jetzt erstmals auf Deutsch erschienenen Erinnerungen. Schwärmerisch beschreibt Jakobson (1896 - 1982) seine und Russlands "futuristischen Jahre": "Klar zeichnete sich eine einheitliche Front von Wissenschaft, Kunst, Literatur und Leben ab, reich an neuen, noch unbekannten Kostbarkeiten der Zukunft." Zwischen 1910 und 1920 vollzog sich auch unter den Intellektuellen in Moskau und Petersburg eine umfassende Erneuerung auf allen Gebieten. Neue wissenschaftliche Entdeckungen wie die Relativitätstheorie revolutionierten das Weltbild. Die Malerei befreite Farbe und Form aus dem Korsett des Realismus. Die Poesie entließ Wort und Sprachlaut aus den Fesseln der Bedeutung; die Manifeste der Futuristen und Formalisten dominierten die Debatten.

Mitten in diesem chaotisch-fruchtbaren Gärungsprozess meldet sich erstmals ein damals 15-jähriger Jüngling zu Wort, der, als er sich auf allen Gebieten umgesehen hat, beschließt, Linguist zu werden. Als Jakobson mit 18 erster Vorsitzender des 1915 gegründeten "Moskauer Linguistischen Kreises" wird, lässt sich bereits erahnen, dass auch er zu den wissenschaftlichen Erneuerern gehören wird. Mit seinen Theorien über Phonologie und Binarismus, über Semiotik und Kunst revolutioniert er die Sprachwissenschaft, indem er ihr neue Instrumente zur Verfügung stellt. Und ihr neue Gebiete erschließt: Jakobson bewegt sich auf so unterschiedlichen Terrains wie Folklore, Relativitätstheorie, Malerei, Neurologie, Poesie und Kybernetik. Stets ist er auf der Suche nach den Gesetzen, die die sprachliche Tätigkeit bestimmen: "Nichts Sprachliches ist mir fremd" lautet seine Devise.

Gegen Ende seines Lebens, nachdem er eine Odyssee über Prag, Paris und Amerika hinter sich gebracht hat, erzählt er dem schwedischen Slawisten Bengt Jangfeldt seine Jugenderinnerungen. In ihnen offenbart sich ein erstaunliches Erinnerungsvermögen: Jakobson "konnte sein Gedächtnis auf ein bestimmtes Jahr oder gewisse Vorkommnisse einstellen, so wie man einen Radiosender einstellt". Begegnungen und Freundschaften mit Dichtern wie Chlabnikov, Krucenych, Majakovskij und Pasternak, den Malern Malevic, Larionov und anderen werden anekdotenreich vergegenwärtigt. Jakobsons Erinnerungen lassen ein bislang wenig bekanntes Milieubild wiederauferstehen und ebenso die Liebesgeschichte zwischen Osip Brik, Lilja Brik und Vladimir Majakovskij.

Titelbild

Bengt Jangfeldt: Roman Jakobson. Meine futuristischen Jahre. Aus dem Russischen von Brigitte van Kann.
Friedenauer Presse, Berlin 1999.
128 Seiten, 22,50 EUR.
ISBN-10: 3932109147

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