Das Geheimnis liegt im Material
"Die Hölderlin Ameisen" zeigen, wie Lyrikerinnen und Lyriker ins Wort kommen
Von Mechthilde Vahsen
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseGeht das, den Entstehungsprozess von Gedichten sichtbar zu machen? Die inneren Vorgänge, die aus Material jedweder Form und Nichtform Lyrik entstehen lassen, zu beschreiben? Beschreiben ja, aber sie zu verstehen oder gar detailliert nachzuzeichnen, das bleibt ein Rätsel, auch wenn die Lektüre des Buchs "Die Hölderlin Ameisen", herausgegeben von dem Lyriker Manfred Enzensperger, eine Annäherung zulässt.
Die Anthologie, die Gedichte von 36 Autorinnen und Autoren mit Material und Kommentar präsentiert, will "den Leser auf eine intertextuelle Reise" schicken. Diese wird vor allem intermedial, zeigt sich doch in fast allen Darstellungen, dass das Zustandekommen eines Gedichts hauptsächlich durch Wahrnehmung eines bestimmten Moments und/oder durch Material wie einen fremden Text, ein Foto, eine Skulptur, eine Landschaft, eine Melodie oder Klänge ausgelöst wird. Es kann auch ein Tetra Pak mit Orangensaft sein, wie im Fall von Kathrin Schmidt, ein Zeitungsartikel, der Gerhard Rühm zu einem Gedicht aus seiner Serie "Zeitungsgedichte" animiert, ein Holzstich ist es bei Kerstin Hensel, Dieter M. Gräf verwendet einen fremden Text, den er umarbeitet, einarbeitet.
Im ersten Kapitel "Ornithologisches" finden sich weitere Beispiele, wie bestimmte Materialien auf die sprachliche Kreativität wirken, wie aus der Auseinandersetzung mit einem Bild ("Verzückung der hl. Theresa") unterschiedliche lyrische Gebilde entstehen. Ulrike Draesner setzt Töne, Melodien, sinnlich Erfahrenes in klingende Worte um, ihre Gedichte sollen laut gelesen werden. Die Texte von Friederike Mayröcker hingegen zeugen von der Spracharbeit, der Arbeit am Wort, die sich statt am Klang am Wortbild orientiert.
Mehrere Autorinnen und Autoren werden von Fotos und Bildern angeregt, zu denen sich Lieder oder Fremdgedichte gesellen können. Neben diesen intermedial entstandenen Gedichten werden im "Hinterland" solche Arbeiten präsentiert, die sich intensiv mit einer Landschaft, einem Ort beschäftigen - auch wenn es nur ein Stadtplan ist wie bei Matthias Göritz, der diesen Plan zum Anlass nimmt, über Bewegung zu assoziieren; Gedichte werden so zu "Übersetzungen aus der Welt in die Schrift". Beeindruckend das Gedicht von Jürgen Nendza, das, von einem Foto in einer Dokumentation ausgehend, die sich mit einem Todeszaun an der niederländischen Grenze beschäftigt, diesen vergangenen Ort und die dort erlittenen Tode ins Bild setzt.
Sei es Manhattan, ein verlassener Zoo, eine Wanderung durch bekanntes Gelände oder das Lied über den "schönen Westerwald", es geht um Fundstücke, die Assoziationen in Gang setzen, aus denen sich, oft erst Jahre später, Wortgebilde ergeben.
"Intonationen" versammelt Gedichte, die aus der Beschäftigung mit literarischen Texten entstanden sind, so bei Franz Josef Czernin (Rudolf Borchardt) oder Elke Erb (Oskar Pastior). Ulf Stolterfoht hingegen findet in einer Computerzeitschrift die Anregung für seine "noch zu schreibende para-dichtung". Den Abschluss dieser sehr interessanten Detailstudien der Autorinnen und Autoren zu ihren eigenen Gedichten bildet ein Essay von Oswald Egger.
Der Blick in die Werkstätten zeigt: Das Entstehen von Gedichten ist beschreibbar, sie können in einen entsprechenden Kontext gestellt werden, aber das eigentliche Geheimnis, wie sich jeweils ganz individuell Wort an Wort, Bild an Bild fügt, noch bevor es auf dem Blatt steht, entzieht sich der sprachlichen Reflexion. Trotzdem werden hier viele Fragen beantwortet, so dass der neugierige und interessierte Leser genug zum Staunen und Entdecken und Nachdenken findet.