Mit Nylonstrumpf und Zitronenblättern

J. M. Coetzees Roman "Zeitlupe"

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Hin- und hergerissen legt man nach der Lektüre den neuen Roman des Nobelpreisträgers J. M. Coetzee zur Seite. Hätte sich der 65-jährige südafrikanische Autor und Literaturdozent, der seit einigen Jahren in Adelaide (Australien) lebt, auf die ersten 150 Seiten beschränkt, wäre dies ein großer literarischer Wurf gewesen. All seine künstlerischen Trümpfe, die er zu Beginn meisterlich ausreizt und die an seine großen Romane "Warten auf die Barbaren" und "Schande" erinnern, verblassen in der zweiten Hälfte, die nichts als ein opulenter essayistischer Bluff ist.

Das Leben des Protagonisten Paul Rayment, ein Fotograf im Vorruhestand, ändert sich binnen Bruchteilen einer Sekunde. Er ist mit dem Fahrrad unterwegs, als er vom Auto eines jugendlichen Rasers erfasst und durch die Luft gewirbelt wird. In der Klinik konfrontiert man ihn mit der schockierenden Botschaft, dass ihm ein Bein amputiert werden muss. Das ist schon schlimm genug, aber für Rayment gerät die Welt endgültig aus den Fugen, als er hört: "Bei einem Jüngeren hätten sie vielleicht eine Rekonstruktion in Erwägung gezogen." Eine Begegnung mit dem jugendlichen Unfallverursacher, der ihn im Krankenhaus besucht, lässt er mit erstaunlichem Gleichmut verstreichen. Der Unfall läuft vor seinem Auge noch einmal ab, sein ganzes Leben wird aber künftig in "Zeitlupe" stattfinden, der Mobilität beraubt und auf fremde Hilfe angewiesen.

Coetzees Hauptfigur ist ein alleinstehender, kauziger Einzelgänger. Er muss mit seinen körperlichen und seelischen Qualen allein fertig werden. Eine Prothese lehnt er hartnäckig ab, weil ihm dabei immer surrealistische Bilder von Dalí durch den Kopf gehen. Mühsam lernt er, sich auf Krücken zu bewegen, nennt seinen Beinstumpf in einem Anfall von Zynismus "Jambon" (dt.: Schinken), aber seine Seele kann er nicht öffnen.

Der alte, behinderte Mann, der sich nicht helfen lassen will - Coetzee hat hier ein scharf konturiertes Bild eines Einzelgängers gezeichnet, der - "an sich selbst krankend" - immer verbitterter wird. Eine abrupte Wende tritt ein, als ihm (nach mehreren ihm nicht genehmen Frauen) Marijana Jokic als neue Pflegerin zugeteilt wird. Die verheiratete Frau und Mutter von drei Kindern ist ihm sofort sympathisch. Sie nimmt ihn und seine Behinderung ernst und redet auch offen mit ihm darüber. "Sie ist die erste Frau seit seinem Unfall, die sein sexuelles Interesse erregt", heißt es über Rayments Innenleben. Er bietet ihr finanzielle Hilfe für die Ausbildung ihres ältesten Sohnes an und offenbart seine Gefühle. Der geschiedene, kinderlose Protagonist will sich offenkundig in eine halbwegs intakte Familie "einkaufen".

Daraufhin zieht sich Marijana zurück, Rayment ist wieder alleine, seine Gefühlskurve geht wieder steil abwärts. Unvermittelt taucht dann in seiner Wohnung die Schriftstellerin Elizabeth Costello auf, die über seinen Unfall und sein gesamtes Vorleben erstaunlich gut informiert ist.

Sie will aber nicht etwa für einen neuen Roman recherchieren, sondern sie nimmt mehr und mehr die Handlungsfäden in die Hand. Sie arrangiert für Rayment ein Rendezvous mit einer blinden Frau namens Marianna. Die Augen des Protagonisten werden mit Zitronenblättern und einem Nylonstrumpf verklebt, weil er sein Gegenüber nicht sehen darf. Die blinde Marianna als Ersatz für die angebetete Marijana? Die Ähnlichkeit der Namen scheint nicht zufällig gewählt zu sein.

Spätestens an dieser Stelle regt sich bei der Lektüre erstes Unbehagen, denn Coetzees ausführlich beschriebene Verkleidungszeremonie gerät zu einer billigen Slapstick-Nummer. Danach gibt es kein Halten mehr. Elizabeth Costello mutiert zu einem bevormundenden Über-Ich des Protagonisten. Sie analysiert sein Leben, sie erklärt ihre Bücher und philosophiert über Gott und die Welt: "Fragen Sie mich nicht, wie ich das schaffe, es ist keine Magie, ich tue es einfach."

Magie ist es wahrlich nicht, was sich im zweiten Teil des Buches offenbart. Hier wird eine ernste, problemorientierte Romanhandlung (Behinderung, Alter, Singledasein) durch verbale Lufttrommelei zerredet. Weniger wäre deutlich mehr gewesen.

Titelbild

John Maxwell Coetzee: Zeitlupe. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Reinhild Böhnke.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
301 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-10: 3100108337

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