Die Welt hat einen tiefen Sprung

Systemkritik für Anfänger: Leander Haußmanns Bildungsklamotte "NVA"

Von Stefan MeschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Mesch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

2001 legte Sven Regener, Sänger der Band "Element of Crime", einen launigen kleinen Roman vor: "Herr Lehmann". Die Geschichte eines Kneipenphilosophen, der einen Tick zu intelligent ist für das Leben, das er führen will - und deshalb seine Umwelt ständig in absurde Grundsatzdiskussionen verwickelt. Unfreiwillig, versteht sich. Der Roman spielte in Westberlin, Ende der 80er Jahre, aber Regener gelang es, die Weltgeschichte immer nur am Rande aufblitzen zu lassen. Seine Titelfigur machte einen großen Bogen um alles, was Ärger bedeutet. Und landete trotzdem ständig mittendrin. Auch ihr Autor hielt den Ball flach, beschränkte sich auf kurze Szenen, verzichtete auf überambitionierte Spielereien. Doch genau dadurch brachte er den Irrsinn des Lebens in einer geteilten Stadt auf den Punkt. Zwei Jahre vorher, 1999, hatte Leander Haußmann gezeigt, wie man es besser nicht macht: Sein Kinofilm "Sonnenallee" buhlte penetrant um das Prädikat "kultig" und war doch nur peinlich didaktisch, bemüht und spießig. Als Zeugnis der DDR-Jugendkultur taugte das fade Filmchen nichts.

2003 wurde "Herr Lehmann" verfilmt. Das Ergebnis: ein launiger kleiner Streifen, der wie die Vorlage durch geschicktes Understatement punkten konnte. Im Regiestuhl: Leander Haußmann. Anschließend gingen Regener und Haußmann wieder getrennte Wege. Beide führten sie an die Schreibmaschine. Regener ging in "Neue Vahr Süd" um weitere zehn Jahre zurück, schilderte die Sturm-und-Drang-Phase seines Frank Lehmann. Dieser verheddert sich auch im Nachfolger/Prequel hoffnungslos im System, dieses Mal als Wehrdienstleistender. Haußmann bearbeitete dasselbe Thema, allerdings die Ost-Variante. Jetzt kommt seine Antikriegs-Groteske "NVA" gleichzeitig in Buchläden und Kinos. Und wirft mehrere Fragen auf: Braucht man ein Jahr nach "Neue Vahr Süd" schon wieder neues Militärgekaspere? Ist "NVA" ein Buch zum Film oder ein genuiner (Erstlings-)Roman? Und darf es wie Regeners Romane fortan munter im Freundeskreis kursieren, oder sollte es besser zu "Sonnenallee", in die eingestaubte Ostalgie-Grabbelkiste?

"NVA" erzählt die Geschichte des jungen, empfindsamen Henrik Heidler, der zur Einberufung mehrere Kilo Weltliteratur mitbringt: Proust, Joyce, Musil. Und von Krüger, der auf einem getunten Mofa in die Szene schlittert, sich die wildrebellische Mähne aus dem Gesicht wischt und - dannwollnmermal - für 18 Monate mit Henrik die Stube teilen wird. Weitere Kameraden: ein naiver Christ, ein fieser Opportunist und das übergewichtige Landei Mischke, auf den daheim eine kugelrunde Metzgereifachverkäuferin wartet: Mandy Mopp, liebevoll "Moppelchen" genannt. Na, das wird was werden! Die Gegenseite ist nicht minder seltsam: der gefühlskalte Oberst Kalt, in dessen schnucklige Tochter sich Henrik auf den ersten Blick verliebt, der fiese Spitzel Aurich ("Was denkste denn so? Wir sind hier privat.") und Hauptfeldwebel Futterknecht, der bei der Armee ist, weil ihm als Kind warm ums Herz wurde, wenn er die in Reih und Glied auf dem Backblech aufgereihten Lebkuchenmännchen seiner Mutter sah. Skurril, skurril! Und dann benutzt der Schlaumeier auch noch Worte wie "Syphilisarbeit", und plant, "auch mal eine Biologie" über sich zu "verpassen", hihi!

"Man verstand Henrik nicht. Wer war dieser Soldat Heidler? War er für uns? War er gegen uns? Wer war der lesende, verschlossene Genosse? Wie ist seine Haltung? Seine Haltung zu unserem Staat?" Sätze wie diese sind weniger Literatur als Nachschub für Deutschlehrer an Gesamtschulen. "NVA" wählt deutliche Worte. Zu deutliche Worte: Haußmann hetzt flache Klischeefiguren aufeinander und gibt sich alle erdenkliche Mühe, jede von ihnen mit vier, fünf einfachen Sätzen zu charakterisieren. Das schreit nach Jugendbuch, nach Schullektüre, nach Deutschklausur: "Mann, war ich blöd, warum hab ich dieses Spiel überhaupt mitgemacht, ich Idiot, wahrscheinlich weil ich jedes Spiel mitmache, schon mein ganzes Leben lang, ich bin nicht mutig, im Gegensatz zu Krüger...", grübelt sich Henrik in den Schlaf, und der Leser versteht ihn. Er versteht alles, augenblicklich. "NVA" ist ein Bildungsroman. So simpel gestrickt, dass es wehtut.

Hinzu kommt der Humor. Mischke grübelt, wie sein Moppelchen schwanger werden konnte, wenn er sie seit neun Monaten nicht mehr gesehen hat. Krüger bekommt Liebesbriefe aus Hintertupfingen, von einer "Nancy Frettwurst". Und ein durchgeknallter Waffenwart bringt ständig Attrappen und scharfe Munition durcheinander. Keine Frage: Mit gut geführten Schauspielern taugt das durchaus für anderthalb Stunden Schenkelklopferkino. Nicht eben neu, kein Stück originell, aber nun gut: Als Film könnte "NVA" durchaus sein Publikum finden. Doch wozu der Roman? Liest er sich doch über weite Strecken wie ein uninspiriert um Szeneriebeschreibungen erweitertes Drehbuch: "Inzwischen gab das Bäumchen, an das er sich mit seinem ganzen Gewicht gelehnt hatte, nach. Die Wurzel riss aus dem Boden, und Henrik konnte gerade noch den Wipfel greifen. Nun hing er über einem 20 Meter tiefen Abgrund. Unter ihm schlängelte sich ein Fluss." Autsch! Haußmanns Romandebüt ist auf allen Ebenen unterkomplex: sprachlich, psychologisch, politisch. Und immer, wenn Tagträume oder ins Groteske ausufernde Zwischenfälle ("Kamerafahrten" in den Weltraum, Vollrausch, Nahtoderfahrungen usw.) die Schullektüren-Tristesse aufhellen könnten, sind sie so unpräzise und fade beschrieben, dass man sich ärgert, nicht lieber den Film gesehen zu haben.

"Neue Vahr Süd" und "NVA" sind gesellschaftskritische, aber amüsant und einfach gehaltene Appelle gegen den Wehrdienst. Regeners Buch ist grotesk dick, verzichtet aber darauf, seine Figuren zu Archetypen zu stilisieren - die Systemkritik so deutlich auszusprechen, dass es auch der Dümmste kapiert. "NVA" will viel, viel mehr, und das auf deutlich weniger Platz. Doch vor allem lugt Haußmann wieder von vorne bis hinten in Richtung "Kult". Dabei sollte er es doch inzwischen gelernt haben: Weniger ist mehr. Und will man den "tiefen Sprung" in der Welt anprangern, muss diese Welt erst einmal überzeugend geschildert werden. Auf einer Leinwand scheint das Leander Haußmann deutlich einfacher zu fallen als zwischen Buchdeckeln. Also eben doch: Ab in die Grabbelkiste, Genosse Heidler!

Titelbild

Leander Haußmann: NVA. Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005.
224 Seiten, 7,90 EUR.
ISBN-10: 3462036246

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