Dichten als aufrechter Schatten

Zur Auswahl aus Roberto Juarroz' Gedichtwerk

Von Ute EisingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ute Eisinger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Paul Celan sprach von "Fadensonnen" und dem Hinaufwollen zu den Sternen als Impetus zum Dichten, von der Reduktion des Dichterworts zum Schatten, der höher und feiner nach oben steige. Dylan Thomas beschrieb es als Ausloten der Tiefe, bis zum Meeresgrund. Josef Weinheber, der sein symphonisches Verständnis vom Horizontalen und Vertikalen der dichterischen Bewegung in seiner Vorlesung über Poetik thematisiert, berief sich auf Rilke. - Sie und alle anderen, die ihr Schreiben so weit zu abstrahieren vermochten, verbindet die Religion des Gedichts, die Zuversicht, dass der Dichter eine Wahrheit freizulegen vermag, die selbst die konträren Dinge eint und in ihren Zusammenhängen erschaffen hat. Eine Freilegung, die schreibend erfolgt, vor allem aber lesend. Schreiben ist nur ein Nebenprodukt des Lesens - wie wir von einem der größten Leser, dem argentinischen Bibliothekar Jorge Luis Borges, wissen.

Argentinien, benannt nach seinen Silberminen, berühmt für Tango und Rindfleisch, müsste wohl das Neue Alexandria geheißen werden, was die Literatur betrifft. Denn hier sind ihre Schätze in Bibliotheken gehortet, werden von Wissenschaftlern wie Borges, die gleichzeitig ihre Liebhaber sind, gewartet und gleich auch verwertet zu neuen, überraschenden Texten wie denen des Julio Cortázar, Adolfo Bioy Casares und Manuel Puig.

Um Argentiniens Ruf als El Dorado für Leser von Gedichten haben sich vor allem die Burghardts Verdienste erworben, ein argentinisch-deutsches Philologenpaar, denen der des Spanischen nicht mächtige Leser Alejandra Pizarník (Ammann-Verlag), Olga Orozco und Juan Gelman (beide bei teamart), zuletzt Antonio Porchia (Verlag Tropen) und seinen Gegenpart Roberto Juarroz verdankt. Seit dem Erscheinen von Joachim Sartorius' "Atlas der Neuen Poesie" Gedichtlesern bekannt und bislang nur im Kleinstverlag Tropen und im Salzburger Residenz-Verlag erschienen, kam der 1995 gestorbene Juarroz nun mit einer Werkauswahl bei Jung & Jung heraus, wofür die Burghardts aus seinem 14-bändigen Lebenswerk "Poesía vertical" ca. 150 Gedichte ausgewählt und übersetzt haben, versehen mit Daniel Mordzinskis Fotografien des Dichters. Das Umschlagbild illustriert Gedicht 2, worin der Dichter seine zwischen Leben und Tod vermittelnde Aufgabe beschreibt: einsame Achse zu sein für Gewesenes und noch zu Seiendes, Seher - oder nur Schatten "von etwas, das ich nicht finde".

Der Band, den wohl keine Gedicht-Sammlung, die auf sich hält, entbehren kann, ist zwar zweisprachig, doch fragt man sich, warum die Texte nicht parallel abgedruckt, sondern versetzt wurden, einmal erst deutsch, dann spanisch, einmal recte Original-, dann verso Zielsprache. Für philologisch Ambitionierte - immerhin das Zielpublikum derartiger editorischer Unterfangen - ist das Verwirrspiel lästig. (Umso mehr, als gerade Juarroz' Gedichte auch jemandem, der in der Fremdsprache Spanisch über keinen großen Wortschatz verfügt, verständlich sind.) Und es lohnt durchaus, sich das Spanische, das klar und aufrecht, ja lakonisch, um nicht zu sagen: vertikal, im Raum steht, laut vorzulesen. Juarroz' großes und großartiges Werk thematisiert die Reduktion der Materie durch ihren Dichter und besteht aus wenigen, immens gewichtigen Wörtern. Die Übersetzer hatten es nicht leicht. Vielleicht haben sie es da stellenweise mit dem Deutschen zu leicht genommen? Hat ein "Schritt" denn einen "Vorgriff"? Meint "su anticipo" nicht vielmehr seinen "Auftakt", das "Anheben" des Fußes? Immerhin lebt Juarroz' "vertikales" Dichten von Antagonismen: Da gibt es (27) zum Sterben das Gegenstück des "Entsterbens" ("desmorir") und dazu die Pendants "desvivir" und "desnacer", die im Sinne der Logik "Entleben" und "Entbären" lauten müssten; die Burghardts lösen das Problem mit: "die Geburt aufheben", wobei gerade das "Vertikale" - der berückend simple Umschwung des Worts um die Achse des Gedichts, die an dieser Stelle die winzige Vorsilbe "des-" ("ent-") ist - verloren geht. Damit hat sich einmal mehr Ortega y Gassets berühmtes: "Traduttore - traditore!" unter Beweis gestellt: Die Übersetzung "verrät" das Original, indem sie beim Glätten/Erklären alles verwischt, was daran originell - sowohl auffällig frisch als auch spektakulär einfach - ist.

Titelbild

Roberto Juarroz: Vertikale Poesie - Poesía vertical. Eine Auswahl.
Mit einem Nachwort herausgegeben von Tobias Burghardt.
Übersetzt aus dem Spanischen von Juana und Tobias Burghardt.
Jung und Jung Verlag, Salzburg 2005.
312 Seiten, 29,50 EUR.
ISBN-10: 3902144882

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