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Ein Tagungsband zur deutsch-italienischen Mentalitätsgeschichte der Moderne von Silvio Vietta, Dirk Kemper und Eugenio Spedicato

Von Bernhard WalcherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernhard Walcher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Epochenbezeichnungen dienen vor allem der Zusammenstellung von Zeugnissen literarischen Schaffens nach bestimmten Merkmalen, die texttypologischer Art sein können sich aber auch an Schreibhaltungen, Stoff- und Gattungswahl festmachen lassen. Nicht selten wurde in der Literaturwissenschaft auch versucht, Paradigmenwechsel in der Literaturgeschichte mit bedeutenden und 'epochalen' Ereignissen der politischen Geschichte, aber auch der Sozial-, Kultur- und Naturgeschichte in Zusammenhang zu bringen - mit guten Gründen. Nicht zuletzt haben die schreibenden Zeitgenossen bestimmter literarischer Epochen selbst ihrem Epochenbewusstsein auf vielfältige Weise Ausdruck verliehen, was gerade von der umfangreichen Forschung zum Thema Epochenschwellen / Epochenbewusstsein gerne aufgegriffen wurde. Man denke nur an Heinrich Heines axiomatische Formulierung vom "Ende der Kunstperiode" oder seinen "Weltriß-Gedanken" - als Moderne-Erfahrung - in den "Bädern von Lucca".

Der von den Hildesheimer Germanisten Silvio Vietta und Dirk Kemper sowie dem in Pavia lehrenden Eugenio Spedicato herausgebrachte Band versammelt elf Beiträge einer Tagung, die vom 7. bis 11. Oktober 2004 im deutsch-italienischen Kulturzentrum der Villa Vigoni am Comer See stattfand. Die chronologisch angeordneten Aufsätze widmen sich der in der Literaturwissenschaft nicht ganz unumstrittenen "Makroepoche" der Moderne und reichen thematisch von der Frühromantik bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Schon in ihrem 1998 erschienenen Sammelband ("Ästhetische Moderne"), der in der Moderne-Forschung große Beachtung, aber auch deutliche Kritik fand, ließen Vietta und Kemper die literarische und ästhetische Moderne mit der deutschen Frühromantik beginnen. Die dafür vorgebrachten Argumente, die sich mit den Stichworten Selbstreflexivität, Kunstautonomie und Progressivität, vor allem mit Friedrich Schlegels berühmten Athenäumsfragmenten in Verbindung bringen und umschreiben lassen, sind bekannt und müssen hier nicht eigens diskutiert werden - so sehr man auch im einzelnen sicherlich berechtigte Einwände vorbringen könnte. Der vorliegende Band kann also als weiterer Baustein zur Geschichtsschreibung der Moderne begriffen werden. Allerdings sollen hier offenbar nicht mehr die Merkmale der ästhetischen Moderne im "übernationalen Kommunikationszusammenhang" beschrieben und gedeutet werden, sondern vielmehr - so zumindest der Untertitel - der Blick vergleichend auf die wissenschafts-, literatur- und mentalitätsgeschichtlichen Entwicklungen in Italien und Deutschland seit 1800 konzentriert werden, worauf noch zurückzukommen ist.

In seiner eröffnenden Studie stellt Silvio Vietta die Geschichte der nationalen Literaturgeschichtsschreibung im Horizont der seit der Französischen Revolution nicht mehr zur Ruhe kommenden politischen Umwälzungen in Europa dar. Ausgehend von der These, "daß mit Napoleon die europäische Geistesgeschichte neu kodiert wird", zeigt Vietta die Entwicklung von der noch in der Aufklärung vorherrschenden materialgesättigten "Litterärgeschichte" mit ihrem sukzessiv-punktuellen Zeitschema zu einer Literaturgeschichtsschreibung eines Wolfgang Menzel, Gottfried Georg Gervinus, Hermann Hettner und August Friedrich Christian Vilmar, in der nationale Leistungen in den Vordergrund gestellt werden. Vietta betont die Aggresivität der deutschen nationalen Literaturgeschichtsschreibung gegenüber der "beruhigenden, nur nationalstolzen" italienischen, die untrennbar mit dem Namen Francesco de Sanctis und seiner "Storia della litteratura italiana" (1870-71) verbunden ist. Man darf sich freilich fragen, ob mit dieser Charakterisierung liberal-nationaler Literaturgeschichtsschreibung (auch) eines Gervinus über das Plakative hinaus Erkenntnisse und Einblicke über Produktionsbedingungen und Zielgerichtetheit solcher Werke gewonnen werden können. Nicht nur die unterschiedlichen politisch-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Autoren in Italien und Deutschland werden unterschlagen, sondern auch die individuellen Erfahrungen mancher Historiografen, die mitunter einen ersten Ansatzpunkt für die Deutung einer bestimmten Schreibhaltung hätten liefern können. Erinnert sei hier nur daran, dass Gervinus als Mitglied der Göttinger Sieben 1838 sein Professorenamt niederlegen musste und einige seiner "Vorreden" der Leipziger Zensur zum Opfer fielen.

Über die in manchen Punkten kritisierbaren quellennahen Überlegungen hinaus hat dieser einführende Aufsatz von Vietta indes noch programmatischen Charakter. In der Forderung, "deutsche und italienische Literatur im Sinne einer vergleichenden Mentalitätsgeschichte und mit dem Ziel einer bewussten Europäisierung der Literaturwissenschaft" zu analysieren, stellt sich Vietta nicht nur in die Tradition der im zweiten Beitrag (Herbert Uerlings) besprochenen "Europäisierung der Literatur und Literaturwissenschaft" in der Romantik. Der gut ein Dutzend Mal, fast schon inflationär verwendete Begriff "mentalitätsgeschichtlich" (bzw. Anwandlungen davon) macht zudem deutlich, welchem methodologischen Zugriff auch die übrigen Beiträge offenbar verpflichtet sein sollen. Ob eine mentalitätsgeschichtlich ausgerichtete Betrachtung von Literatur eine 'eigenständige' Methode sein kann oder nicht vielmehr einen Sektor der immer wieder totgesagten Sozialgeschichte der Literatur darstellt, sei dahingestellt. Dass Literatur einen nicht unerheblichen Teil zur Herausbildung von mentalen Dispositionen beiträgt und mentale Verfassungen reflektiert, muss nicht weiter betont werden.

Gravierend für den hier vorliegenden Sammelband scheint aber die Frage zu sein, ob dieser im Rahmenthema angedeutete Anspruch, Ansätze zu einer deutsch-italienischen Mentalitätsgeschichte zu präsentieren, von jedem Beitrag auch eingelöst wird. Die meisten Studien erschöpfen sich nämlich in der bloßen komparatistischen Gegenüberstellung jeweils von Werken der italienischen und deutschen 'Höhenkammliteratur'. Zwar trifft es zu, dass - wie in der Vorbemerkung erwähnt - "wichtige Knotenpunkte" der Literaturgeschichte hier zum Gegenstand der Beiträge erhoben wurden, bei der Lektüre indes fragt man sich nicht selten, ob die Auswahl der gegenübergestellten Werke nicht allzu beliebig ist. So werden unter ganz unterschiedlichen thematischen Schwerpunkten Manzoni und Novalis (Herbert Uerlings), Leopardi und Büchner (Eugenio Spedicato), Thomas Mann und Tomasi di Lampedusa (Dirk Kemper), Hugo von Hofmannsthal / Stefan George und D'Annunzio (Manfred Durzak) oder Benedetto Croce und Rudolf Bochardt (Dieter Burdorf) miteinander verglichen. Aber nicht nur der Leser gerät ins Zweifeln über die Sinnhaftigkeit der Gegenüberstellungen im Hinblick auf die Grundlegung einer deutsch-italienischen Mentalitätsgeschichte, auch die Autoren selbst (Uerlings, Spedicato, Kemper) verleihen nicht selten ihrer Unsicherheit diesbezüglich Ausdruck. Eine Tatsache, die den Leser dann doch etwas ratlos zurücklässt.

Dennoch sind etliche der Beiträge als komparatistische Einzelstudien in ihren Detailanalysen sehr erhellend und interessant. So liest man nicht ohne Spannung etwa Dirk Kempers Überlegungen zu Figurenkonstellation und Figurenzeichnung in Thomas Manns "Buddenbrooks" und Tomasi di Lampedusas "Gattopardo". Treffende Bemerkungen zur - durchaus vergleichbaren - psychologischen Diagnostik des Verfalls in beiden Werken können aber indes nicht über die Problematik der ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Formationen hinwegtäuschen, die jeweils nicht zu einem geringen Teil auch die Handlung und Aussage der Romane bestimmen. Ganz andere Kräfte und Traditionen wirken eben im kühlen Hamburg als auf der "Insel des Wahns" (Leonardo Sciascia).

Ein Beispiel dafür, wie eine vergleichende Mentalitätsgeschichte als literaturwissenschaftliches Konzept aussehen könnte, gibt der Beitrag von Dieter Burdorf. Er widmet sich den Konzepten von "Kultur, Geschichte und Dichtung" im Hinblick auf die unterschiedlichen Kulturräume Italien und Deutschland im Werk des aus Pescasseroli in den Abruzzen stammenden Privatgelehrten und Philosophen Benedetto Croce und Rudolf Borchardts. Anders als bei vielen der in den übrigen Beiträgen gegenübergestellten Autoren können sich die Überlegungen Burdorfs auf einen zwar schmalen aber immerhin vorhandenen schriftlichen Austausch beider Gelehrter stützen. Auch zu einer persönlichen Begegnung ist es wohl im Jahre 1922 gekommen. Was vom Untertitel des Sammelbands her eigentlich zu erwarten gewesen wäre, wird in diesem Beitrag zumindest exemplarisch greifbar: Ansätze zu einer deutsch-italienischen Mentalitätsgeschichte lassen sich nicht im Vergleich von ("zufällig") zeitgleich erschienenen Werken formulieren, in denen zudem nur selten die jeweils andere Nation überhaupt erwähnt wird. Eine deutsch-italienische Mentalitätsgeschichte sollte sich vor allem aus Quellen speisen, mit Hilfe derer sich ein Bild der Eigen- und Fremdwahrnehmung von Nation und Mentalität entwerfen lässt. Unbegreiflich daher auch, dass sich nicht ein Beitrag mit der in den letzten Jahren intensiv erforschten Gattung der Reiselitertatur befasst. Dass gerade im Falle des deutsch-italienischen Kulturaustausches die deutsche Seite - was die Rezeption anbelangt - eine "negative Außenhandelsbilanz" zu verzeichnen hat, hätte in grundlegenden Überlegungen etwa am Anfang des Bands angesprochen werden können. In dieser Hinsicht kann man die Beziehung Croce-Borchardt als exemplarisch, um nicht zu sagen "typisch" bezeichnen. In Borchardts Auffassung vom "metaphysischen Italien" werden die nicht erst seit Goethe zu beobachtenden Überhöhungen Italiens zu einer Kulturlandschaft und dichterisch-intellektuellen Inspirationsquelle wieder aufgenommen. Aber auch die persönlichen Bemühungen der beiden umeinander dürfen, mit Burdorf, doch von Borchardt aus gesehen als recht einseitig charakterisiert werden. Publikationsgeschichtlich lässt sich dies vor allem mit der in den Plänen steckengebliebenen italienischen Ausgabe von Borchardts Werken, die Croce besorgen wollte, illustrieren.

Die angesprochene Heterogenität der Beiträge, von der aus man berechtigt die Frage formulieren darf, ob daraus überhaupt eine Syntheseleistung zu erwarten war, führt zurück zu dem eingangs besprochenen Phänomen der 'Makroepoche Moderne'. Derart großzügige Epochenprädikationen leiden nicht selten darunter, dass Einzelströmungen unter einen gemeinsamen Nenner subsummiert werden und gerade bei einem Sammelband dem Leser oftmals nicht mehr klar ist, was die einzelnen Beiträge eigentlich verbindet. Daß der vorliegende Band über kein Register verfügt, macht die Orientierung nicht leichter.

Dennoch bleibt angesichts der desolaten Verfassung des modernen politischen Europa - bzw. nach den Referenden in den Niederlanden und Frankreich eines Europa ohne Verfassung - zu begrüßen, dass in einem manche Kritik zwar herausfordernden Sammelband dennoch etwas über historische Europa-Konzepte zu erfahren ist, deren kulturelle Einheit als Grundvoraussetzung nicht nur angenommen, sondern auch eingefordert wurde.

Titelbild

Silvio Vietta / Dirk Kemper / Eugenio Spedicato (Hg.): Das Europa-Projekt der Romantik und die Moderne. Ansätze zu einer deutsch-italienischen Mentalitätsgeschichte.
Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2005.
264 Seiten, 46,00 EUR.
ISBN-10: 3484670177

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