Der 'Aha-Effekt'

'Unzuverlässigkeit' als Erzählstrategie in Literatur und Film

Von Fehmi AkalinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Fehmi Akalin

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Agatha Christie 1926 ihren Kriminalroman "The Murder of Roger Ackroyd" veröffentlichte, reagierten viele zeitgenössische Rezensenten - so wird jedenfalls kolportiert - mit Empörung: Sie hatte es nicht nur gewagt, die völlig unverdächtige rechte Hand des Detektivs zum Mörder zu machen, sondern hatte diesen auch noch zum Ich-Erzähler auserkoren - der getäuschte Leser hätte so keine Möglichkeit gehabt, den Fall selbst zu lösen. Der Roman hatte denn auch ein publizistisches Nachspiel. Zwei Jahre später stellte S. S. Van Dine seine berühmten, seitdem oft zitierten "Zwanzig Regeln für das Schreiben von Detektivgeschichten" auf - eine Art Moralkodex für Krimi-Schriftsteller. Mit ihren Irreführungen hatte Christie eindeutig gegen diesen Kodex verstoßen. Dem nicht-professionellen Leser scheinen diese Täuschungen indes Vergnügen bereitet haben: Dieser Krimi gehört noch heute zu den populärsten der Autorin.

Wie es aussieht, mag man auch heute nicht auf die moralische Optik verzichten zu wollen, wenn es darum geht, die Kategorie des 'unzuverlässigen Erzählens' wissenschaftlich zu erkunden. Diesen Eindruck vermitteln jedenfalls nicht wenige der 21 Aufsätze des vorliegenden Bands, der aus einer Tagung zum Thema "Unzuverlässiges Erzählen in Literatur und Film" hervorgegangen ist. Dieser Rückgriff auf die moralische Perspektive zeugt von Unsicherheit über die Reichweite des Begriffs der 'Unzuverlässigkeit': Lässt man sich als Literatur- und Filmwissenschaftler bei der Bestimmung dieses Terms auf den alles andere als kunstspezifischen Diskurs der Moral ein - man kann schließlich alles Mögliche moralisch beobachten, nicht nur Kunst - oder konzentriert man sich von vornherein auf den "Spielraum der Kunst" und akzeptiert ihre Autonomie, somit auch ihre relative moralische Indifferenz?

Entscheidet man sich für die moralische Option, wird man vor allem "Werte und Normen" in künstlerische Texte hineininterpretieren oder im 'unzuverlässigen Erzählen' ein Problem der "Glaubwürdigkeit" sehen, gar einen "Angriff auf den kommunikativen Pakt" zwischen Autor und Rezipient. Da ist es zunächst ganz unerheblich, ob man 'unreliability' mit Wayne C. Booth, der 1961 diese Kategorie als Gegenstand der Literaturwissenschaft inaugurierte, als Widerspruch zwischen Werten und Normen des Erzählers und des impliziten Autors auffasst oder ob man mit Ansgar Nünning eher auf den Widerspruch zwischen dem Wertesystem des Textes und dem des Rezipienten abhebt. Denn hier wie dort "riecht" der Begriff "nach puritanischer Moral, nach einem Wertekodex, der die Regeln bürgerlicher Kommunikation und Vertragssicherheit auf die schönen Erfindungen angewendet wissen will", wie Thomas Koebner die Implikationen des Moralschemas auf den Punkt bringt.

Und doch machen sich nicht wenige Beiträge des Buchs das Beobachtungsschema der Moral zu eigen. So zum Beispiel Gaby Allraths Aufsatz über die "geschlechterkritische Funktionalisierung unzuverlässigen Erzählens", der ganz nebenbei geradezu mustergültig die Klischees der Gender-Forschung vorexerziert. Differenzierter zwar, in der Stoßrichtung aber ähnlich argumentieren auch Yvonne Wolf und Ralf Georg Bogner in ihren Aufsätzen über Unzuverlässigkeit im Kinder- und Jugendbuch bzw. in der Gattung der Autobiografie. In beiden Arbeiten dominiert die Konzeption von Zuverlässigkeit als Ideal erzählerischen Verhaltens: von "gefährdet[er] [...] Glaubwürdigkeit" ist da etwa die Rede, von "verschiedene[n] Mängeln, [die] die Zuverlässigkeit beeinträchtigen" oder von der "außerordentlich[en]" Zuverlässigkeit eines Autobiografen, der gerade "alle Brüche, alle dunklen Flecken der Erinnerung aufdeckt".

Innerhalb des Moralschemas bewegen sich allerdings auch jene Beiträge, die das Vorzeichen einfach umkehren und im 'unzuverlässigen Erzählen' ein subversives Potenzial sehen. So versucht etwa Koebner im selben Aufsatz, in dem er für eine strikt kunstspezifische Betrachtung des Themas plädiert, die "Abwertung" der Unzuverlässigkeit mit einer Inversion dieser Wertungssemantik "abzuschwächen": "gerade das Gegenstück: die Idee der Zuverlässigkeit" sei "die eigentlich ungeheuerliche Fiktion". Ein vergleichbares Argumentationsmuster liegt auch Marcus Stigleggers affirmativer Lektüre der Filme von Gaspar Noé zugrunde, wenn er diesen Regisseur als radikalen Dekonstruktivisten feiert.

Als distanzierter Beobachter kann man nicht umhin, innerhalb der Fachdiskussion gewisse Diskrepanzen zu konstatieren, wenn es um die Begriffsbestimmung geht. Thomas Meder etwa gilt schon die angebliche Unmöglichkeit der "Darstellung des Todesmomentes" als Indiz dafür, "dass auch im Film immer 'unzuverlässig' erzählt wird". Ein anderer Autor lässt sich, vom "postmodernen Humanismus" des Films "Smoke" angeregt, zu einer pathetischen Reflexion über nichts Geringeres als den "Wahrheitsbegriff" hinreißen. Man ist deshalb froh, wenn der um begriffliche Schärfe bemühte Aufsatz von Monika Fludernik, grundlagentheoretisch gewiss der anspruchsvollste des ganzen Bands, versucht, etwas Licht ins terminologische Dunkel zu bringen. Aufschlussreich ist hier vor allem ein von ihr diskutierter Ansatz, der die Kategorie der "ideologischen Unzuverlässigkeit" bzw. "Unglaubwürdigkeit" unter dem Begriff der "Diskordanz" von unreliability im engeren Sinne abgrenzt. Akzeptiert man diese Unterscheidung, und es spricht einiges für ihre Plausibilität, dann könnte streng genommen nur noch auf der Ebene der "Faktualität" von Unzuverlässigkeit gesprochen werden: wenn nämlich eine Tatsachendarstellung falsch ('misreporting') oder unvollständig ('underreporting') ist - die Ebenen der "Ideologie" ("der Erzähler hat eine ideologisch konträre Position zu den Dingen") und der "Objektivität" (der Erzähler, z. B. der Picaro, "deutet falsch, was ihm widerfährt") fielen dann aus dem Definitionsbereich heraus.

Ausschlaggebend für diese Klassifikation von Texten scheint eine spezielle Informationsasymmetrie zwischen dem Erzähler und dem (impliziten?) Leser zu sein, welche Fludernik mit einer wirkungsästhetischen Faustformel umschreibt: Wo der "Effekt eines 'Aha-Erlebnisses' seitens des Lesers" fehlt, liegt auch keine erzählerische Unzuverlässigkeit vor - wenn Widersprüche im Text zum Beispiel auf Unachtsamkeiten des Autors (die berühmte Armbanduhr am Handgelenk des römischen Gladiators) bzw. auf Gattungseinflüsse (die homodiegetische Erzählung einer Zeitreise in die Zukunft etwa) zurückgehen oder diese Inkonsistenzen im Text eine funktionale Relevanz haben (die absichtlich widersprüchlichen Äußerungen eines ironischen Erzählers). An dieser Stelle wäre es allerdings wünschenswert gewesen, die Kategorie der unreliability in einen größeren Zusammenhang zu stellen und diese von anderen Strategien narrativer "Informationspolitik" (Britta Hartmann) - wie etwa suspense, mystery oder surprise - abzugrenzen.

Zur 'Informationspolitik' narrativer Künste ließe sich auch die Kategorie der Ambiguität zählen. Diese steht beispielsweise im Mittelpunkt von Thomas Kleins Aufsatz, genauer: die Frage, inwiefern der Genrekontext vereindeutigend wirken kann. Klein kommt am Beispiel der Verfilmung von Henry James' "The Turn of the Screw", einem Paradebeispiel für ambiges Erzählen, zu dem interessanten Schluss, dass es sich in diesem Fall gerade umgekehrt verhält: die Ambiguität der Erzählung - halluziniert die Gouvernante die Geister oder existieren sie tatsächlich? - erschwert die Zuordnung zum Genre der fantastischen Gruselgeschichte. Nur: Legte man hier Fluderniks Diskriminierungskatalog zugrunde, hätte man es bei diesem "mimetisch unentscheidbare[m] Erzählen" wohl eher nicht mit Unzuverlässigkeit zu tun.

Fraglich ist auch, inwiefern dies der Fall ist bei Werken, die das Mehrdeutigkeitsproblem derart radikalisieren, dass schließlich von Erzählungen mit 'offenen Formen' gesprochen werden muss. Charakteristisch ist dieser Erzählmodus etwa für die Filme des David Lynch; die "unlösbare[n] Widersprüche und Irritationen" machen gar den Reiz dieser Filme aus. Nicht zufällig gehören Lynchs Werke zu den meistinterpretierten der jüngsten Zeit. Und hier liegt der Clou der ganzen Sache: Beim Rezipienten von Lynchs Filmen stellt sich das entscheidende 'Aha-Erlebnis' selten ein, dafür aber beim Leser der Interpretationen dieser Filme, im Beitrag von Fabienne Liptay zum Beispiel.

Wie immer man mehrdeutige Erzählungen (mit offenem Ende) jedoch letztlich klassifizieren mag, die Reduktion narrativer Unzuverlässigkeit auf diese eine Erzählstrategie erscheint alles andere als plausibel - und doch verabsolutieren die Herausgeberinnen mit dem Obertitel des Buches unverständlicherweise genau dieses Phänomen: "Was stimmt denn jetzt?", heißt es dort. Der Buchtitel zumindest nicht, möchte man antworten!

Komplizierter wird das Ganze, wenn man die medienübergreifende Beobachtungsebene verlässt und sich den Spezifika literarischer und filmischer Narration zuwendet. Dem vorliegenden Band gebührt das Verdienst, die erste deutschsprachige Publikation in Buchform zu sein, die sich umfassend des Phänomens des 'unzuverlässigen Erzählens' im Film annimmt. Besonders lesenswert sind hier die Beiträge von Jörg Schweinitz und Jörg Helbig, die anhand instruktiver Beispiele darlegen, wie mediale Eigenheiten des Films (Mehrkanaligkeit, prinzipielle Multiperspektivität etc.) für 'unzuverlässiges Erzählen' nutzbar gemacht werden.

Bleibt nur die Frage: Wozu das Ganze? Warum erzählt man eine Geschichte auf diese Art und Weise? Warum wird eine solche Erzählstrategie von den Rezipienten überhaupt geschätzt? Die Antwort auf diese Fragen weist weit über die Grenzen der Narratologie hinaus, hängt sie doch von der jeweiligen Kunstauffassung ab und damit von der Funktion, die man Kunst generell zuweist. In der vorliegenden Publikation prallen so gesehen zwei Paradigmen der Kunstkonzeption aufeinander: Kunstanalyse als Textanalyse vs. Textanalyse als Kunstanalyse.

Das erstgenannte Paradigma betreibt Kunstanalyse schlicht als Bedeutungsanalyse. Typisch hierfür ist die Position Fluderniks, die Unzuverlässigkeit "gerade deshalb [für] ein so faszinierendes Thema" hält, weil es dabei um allgemeine "Fragen der Bedeutungskonstitution in Texten, der Interpretation" geht. Aber Bedeutungsanalysen werden der Spezifik künstlerischer Texte nicht gerecht: Man kann auch juristische oder wissenschaftliche Texte auf ihre Bedeutung hin analysieren. Das Telos dieses Paradigmas ist und bleibt die Dekodierung der Textbedeutung(en). Alles, was es an (wie auch immer als künstlerisch identifizierten) Texten beobachten kann, beobachtet es im Hinblick auf die Bedeutungskonstituierung - so auch die im Zentrum des vorliegenden Sammelbands stehende narrative Sonderform des 'unzuverlässigen Erzählens'.

Zu Recht kritisiert Matthias Bauer an dieser "intellektualistischen" Lektürepraxis nach dem "Vorbild des Lügendetektors", dass sie die "affektive[n] Komponenten" unterschlägt: Ungeklärt bleibe bei dieser Art von Analyse nämlich, "warum sich Autoren und Leser überhaupt mit Hochstaplern oder Vertrauensschwindlern herumschlagen und warum ihnen das offenbar Vergnügen macht". Man braucht Bauer in seinen anschließenden psychoanalytischen Spekulationen nicht zu folgen, auch nicht darin, im Rezipienten ein (wenn auch freiwilliges) Opfer künstlerischer Verführung zu sehen. Aber seine Überlegungen scheinen durchaus anschlussfähig zu sein an jüngere Entwicklungen in der Kunstsoziologie, die nachdrücklich in der Unterhaltung die primäre Funktion der Kunst sehen. Für eine Textanalyse als Kunstanalyse resultiert daraus die methodologische Frage, wie man den Unterhaltungsprimat der Kunst in Texten mit narrativer Unzuverlässigkeit rekonstruieren kann. Wie so etwas aussehen könnte, lässt sich im vorliegenden Band insbesondere an Britta Hartmanns exzellenter Analyse von "The Sixth Sense" studieren.

In der Rückschau muss dieser Widerstreit der Paradigmen auch den Herausgeberinnen aufgefallen sein, halten sie am Ende ihrer Einleitung doch fest: "Wen unterhält schon die Wahrheit und nichts als die Wahrheit? Stattdessen wartet auf uns das Vergnügen an der erzählten Geschichte [...]". Schade nur, dass nicht gerade viele Beiträger sich dieses Motto zu Herzen genommen haben.

Titelbild

Fabienne Liptay / Yvonne Wolf (Hg.): Was stimmt denn jetzt? Unzuverlässiges Erzählen in Literatur und Film.
edition text & kritik, München 2005.
364 Seiten, 30,00 EUR.
ISBN-10: 3883777951

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